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Die französische Wahlmonarchie

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Veränderte politische Situationen erfordern auch veränderte Maßstäbe. Dem „Experiment de Gaulle 1958” gegenüber hat man sich noch nicht auf einen gültigen Maßstab einigen können. Daß die aus der Vierten Republik gewohnten Wertungen zum mindesten vorläufig nicht mehr angewendet werden können, spürt man wohl Aber vorerst wird das Urteil noch verwirrt durch historische Analogien, die weder auf die Person des Generals de Gaulle noch auf den Zustand Frankreichs im Jahre 1958 zutreffen.

Im Ausland sitzende Kritiker Frankreichs stellen seit dem Plebiszit vom 28. September den General de Gaulle in verstärktem Maße als einen Diktator oder doch einen Diktaturaspiranten dar. Hitler und Franco werden unbedenklich als Parallelen herangezogen, und es wimmelt nur so von Prognosen, nach denen Frankreich im Begriffe ist, über den Zustand eines autoritären Staates in den reinen Totalitarismus abzugleiten. Beide Deutungen, die de Gaulles und die der französischen Situation, sind falsch.

DIE RUHIGE MUTTER UND DER WILDE KLEINE SOHN

Das heutige Frankreich befindet sieh nicht annähernd in der Notsituation, in der sich Deutschland 1933 oder Italien zur Zeit des Marsches auf Rom befunden haben. Es hat auch keinen’ blutigen Bürgerkrieg hinter sich wie Spanien im Jahre 1939. Der französische Staat wird zwar seit Jahren vom Ausland finanziert, aber das Land als Ganzes ist reich. Das hat erst kürzlich wieder jene Statistik gezeigt, nach der Frankreich das autoreichste Land Europas ist: 96 Wagen auf 1000 Einwohner. Und wer an Statistiken nicht glaubt, der braucht sich mir in Erinnerung zu rufen, daß in Frankreich der Prozeß noch gar nicht eingesetzt hat, der nach Meinung der Soziologen zum „Faschismus” führt: nämlich die Zerreißung des Mittelstandes zwischen den Mühlsteinen der Großunternehmen und der Schicht der kleinen Lohnempfänger. Der nach Meinung der Experten auf K’öst’en der übrigen Schichten unmäßig aufge-; blähte französische Mittelstand wird hach wie vor nicht ernsthaft in seiner Existenz bedroht; Mendės-France hat sich vor vier Jahren an ihm die Finger verbrannt, und Poujade fehlt es seither wieder bedenklich an Agitationsstoff.

Anderseits hat Frankreichs Wohlstand wiederum nicht jenen Perfektionsgrad erreicht, der in der anderen Richtung gefährlich werden könnte. Edgar Salin hat kürzlich die Prognose aufgestellt, der kommende Faschismus werde ein „Freizeitfaschismus” sein; er werde nicht mehr der Steuerung der Not dienen, sondern der Vertreibung der Langweile jener Leute, denen mit der fast völligen Ausschaltung des materiellen Existenzkampfes die gewohnten Lebensziele entwendet worden seien. Das trifft sich exakt mit der düsteren Prognose, welche Erich Kuby — die derzeitige „deutsche Kassandra vom Dienst” — der Bonner Republik gestellt hat: in absehbarer Zeit hätten die Westdeutschen das Wirtschaftswunder satt und würden sich dann kopfüber in einen wild-militaristischen Nationalismus stürzen. Nun, auch davon ist Frankreich weit entfernt; die alte Lebensweisheit in diesem Lande hat von jeher genügend große Lücken in der technischen Zivilisation offen gelassen, die dem Individuum seinen freien Auslauf offen halten.

In Wahrheit ist nur ein einzelnes Glied Frankreichs von einer Epidemie befallen, die man als „Faschismus” oder „Franquismus” oder ähnlich bezeichnen kann, und dieses Glied hat sich fast selbständig gemacht. Wir meinen die von den „Ultras” beherrschte weiße Bevölkerung Algeriens und einen Teil der drüben stationierten Berufsoffiziere.

Was aber die in Frankreich selbst da und dort spürbaren Ansätze zu autoritären Verwaltungsformen betrifft, so ist das nur eine geradlinige Fortsetzung des Bisherigen. Man darf sich da durch die französischen Selbstauslegungen als das „Vaterland der Freiheit” nicht beirren lassen. Frankreich ist seit der Installierung des Präfektensystems durch Napoleon ein einseitig von oben herunter regierter, zentralistischer Staat, der keine Gemeindefreiheit als heilsame Gegenkraft kennt. Legale Rekursmöglichkeiten gegen Verwaltungswillkür gibt es verflixt wenig. Die Franzosen sind nicht nur von Natur „Anarchisten” — sie sind es vor allem auch aus Notwehr: man schafft sich seine Freiheitssphäre selbst, indem man den Verwaltungsapparat umgeht oder überlistet.

DIE „IDEE FRANKREICH”

Ebenso falsch wie das Bild vom „faschistischen Frankreich” ist das Bild vom „Diktator de Gaulle”. Gewiß, die neue Verfassung gäbe dem General durchaus den Weg zu einer Diktatur frei, und für die ersten vier Monate der Fünften Republik besitzt er ohnehin die wohl unbeschränktesten Vollmachten, die in der Geschichte der Republik je einem Regierungschef in die Hand gegeben worden sind. Aber nur Böswillige oder Niohtunterrichtete können annehmen, daß er diese ungemein große Bewegungsfreiheit in Richtung eines totalitären Willkürregimes mißbrauchen würde. Nicht juristisch, aber auf Grund seiner persönlichen Eigenart ist de Gaulle etwas ganz anderes : e i n Wahlmonarch.

Wollte man die bisherige französische Politik verstehen, so mußte man in die Verflechtungen der „Komitees” und „Lobbies” eingeweiht sein. Will man die Politik der kommenden Monate verstehen, so darf man vor allem nicht durch ein falsches Bild de Gaulles behindert sein. Von dem verzehrenden Fanatismus eines Hitler ist er genau so weit entfernt wie von dem bauernschlauen Sinn für Macht eines Franco. Es liegt ihm auch nicht, zu jener schützenden Vatergestalt zu werden, wie das sein militärischer Lehrer, der Marschall Petain, so gut verstanden hat. De Gaulle ist imstande, von heute auf morgen die Macht wieder aus der Hand zu geben und sich mit verachtungsvollem Schweigen in sein Dorf zurückzuziehen. Es geht ihm nämlich weniger um das konkrete Frankreich von heute als um die „Idee Frankreich”.

Hier ist auch der Grund für die Kälte zu suchen, die General de Gaulle selbst heute noch umgibt, nachdem vier Fünftel der Franzosen ihr Schicksal in seine Hand gelegt haben. Zwar ist er seit seinem ersten Abgang von der Macht umgänglicher, menschlicher geworden -a das bezeuge alle, die in ‘ den letzten Monaten mit ihm zusammentrafen. Aber sein Ziel ist das gleiche geblieben: wie während des zweiten Weltkrieges will er ein überzeitliches Frankreich repräsentieren. Er will seinen so leicht in die kleinen Geschäfte des Alltags sich verlierenden Landsleuten eine ständige (und oft lästige) Mahnung an jene Mission Frankreichs sein, wie sie sich die Herolde des französischen Messianismus durch die Jahrhunderte vorgestellt haben. Er steht am Ende der Reihe, die zu Anfang des 12. Jahrhunderts mit jenem Mönch Wibert von Nogent begonnen hat, der das Wort „Gesta Dei per Francos” (Gott verwirklicht sich durch die Franzosen) geprägt hat.

Der Vorzug dieser Haltung ist, daß General de Gaulle jene unbestimmten „monarchischen” Gefühle auf sich vereint hat, die in den letzten Jahren unterirdisch in Frankreich immer stärker geworden sind. Auch hier darf man sich durch die (vorwiegend republikanische) französische Selbstinterpretation nicht beirren lassen.

Solche „monarchische” Energien ruhen latent wohl in jedem Volk. Im Verlauf der Vierten Republik mußten sie immer stärker geweckt werden, je mehr sich die Politik in kleinliches Interessengezänk verlor: es wächst dann das unartikulierte Verlangen nach einer personellen Verkörperung des „anderen”, des über den Kirchturminteressen Stehenden. Und es ist bestimmt vorzuziehen, daß diese Energien sich auf de Gaulle konzentrieren. Andernfalls hätten sie sich wohl kaum auf dem Grafen von Paris oder dem Prinzen Napoleon gesammelt, wie die Royalisten und Bonapartisten annehmen. Der Nutznießer hätte eher ein Abenteurer oder ein sturer Nur-General werden können.

Möglicherweise hat die De-facto-Monarchie de Gaulles eine heilsame Wirkung. Vielleicht bringt sie es fertig, den Franzosen von seiner Verachtung der Politik zu heilen, ihn aus seiner Gleichgültigkeit den öffentlichen Angelegenheiten gegenüber aufzurütteln. Zum mindesten ist hier ein Ansatzpunkt, der fruchtbar werden könnte, wenn praktische Veränderungen der Stellung des Staatsbürgers nachhelfen würden.

REPRÄSENTIEREN STATT HANDELN

Die Gefahren der monarchischen Stellung de Gaulles dürfen allerdings auch nicht übersehen werden. Sie erwachsen gerade aus jener repräsentierenden Grundhaltung des Generals. Im Grunde nämlich ist er kein Mann des Zupackens, des Handelns, der praktischen Reform. Jenes überzeitliche Frankreich, von dem er ausgeht, ist ja schon da; es gilt nur, es wieder zu erkennen. Von einem solchen Standort aus wird nicht nur jedes Verändern zu einer Zweitrangig- keit — jedes Handeln schafft auch unerwünschte neue Spaltungen. Die Vierfünftelmehrheit, die de Gaulle am 28. September erhalten hat, dürfte für ihn der angemessene Zustand sein. Jede konkrete politische Entscheidung aber könnte ihm wieder einen Teil dieser Mehrheit entfremden. Das aber vermag einen Mann zu lähmen, der als seine Rolle die des über den Parteien stehenden Schiedsrichters sieht, und zwar des Schiedsrichters nicht nur über den Putschisten von Algier und den unter seinen Schutz geflüchteten Männern der Vierten Republik, sondern auch über den Nein-Stimmer Mendės-France und selbst über die Kommunisten, die für ihn keine Feinde, sondern nur irregeleitete Söhne Frankreichs sind. Das alles würde de Gaulle zu einem großartigen Staatspräsidenten machen, wenn er an seiner Seite einen tatkräftig zupackenden Ministerpräsidenten hätte.

DER KRITISCHE AUGENBLICK

De Gaulle ist kein Feind der Republik. Wer ihn heute als einen solchen bezeichnet, vergißt leichtsinnig, daß der General sie 1944 wiederhergestellt hat und daß er sie im Frühjahr 1958 bewahrte, als keiner von ihren bestellten Hütern für sie auf die Straße zu gehen gewillt war. Frankreich droht kaum Gefahr von dem, was de Gaulle tun wird — Gefahr droht ihm vielmehr von dem, was er nicht tun wird. Inwieweit die eben verkündeten Initiativen auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik (Abwertung des Francs und Austerity-Programm) eine Welle von Aktivität auszulösen vermögen oder einen einmaligen Energiestoß bedeuten, wird erst die Zukunft zeigen.

Der General hat zum drittenmal in seinem Leben Frankreich wie Wachs in seiner Hand. Und vermutlich könnte er heute noch mehr als nach der Liberation und nach dem Putsch von diesem Frühjahr aus Frankreich machen, was er will. Benützt er seine unbegrenzten Vollmachten nicht, um radikal die zwei, drei wesentlichen Operationen durchzuführen, die sich aufdrängen, so schafft er ein gefährliches Vakuum. Handelt er nicht, so schlägt die Stunde der Extremisten, die zu handeln wissen — der Putschisten von Algier sowohl wie der Kommunisten. Der Weg ist dann offen entweder zu einer „weißen” oder zu einer „roten” Diktatur — oder zu einer Aufeinanderfolge von beiden.

Diese Befürchtung mag übertrieben erscheinen. Sie scheint auch im Widerspruch zu stehen zur eingangs geschilderten, keineswegs revolutionären Situation Frankreichs. Die gegenwärtige Ruhe Frankreichs ist aber in starkem Ausmaß die Folge davon, daß die überwiegende Mehrheit der Franzosen nicht nur ihr Schicksal in de Gaulles Hand delegiert hat, sondern auch die Probleme dadurch weitgehend schon für gelöst hält. Sollte dieser Wunderglaube enttäuscht werden, so wäre eine grausame Ernüchterung die Folge. In einem solchen, durch einen Fehlschlag des „Experimentes de Gaulle 1958” ausgelösten Katzenjammer könnte Frankreich über Nacht in eine revolutionäre Lage gleiten.

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