Die Fremden "erobern"

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Der Wiederaufbau des Fremdenverkehrs in Österreich durch den Marshall-Plan.

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Der Wiederaufbau des Fremdenverkehrs in Österreich durch den Marshall-Plan.

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Die durch das Europäische Wiederaufbauprogramm (ERP) angesparten Gegenwertmittel ("counterparts") wurden im Besatzungsjahrzehnt (1945/55) zum wichtigsten Investitionsinstrument der österreichischen Nachkriegswirtschaft. Mehr als die Hälfte dieser Mittel wurde in die Industrie, allen voran die verstaatlichten Schwer- und Elektrizitätsindustriesektoren investiert (vgl. Furche, Nr. 21/97, p. 17). Prestigeprojekte wie die Fertigstellung der Kapruner Kraftwerke hätten ohne Marshall-Mittel nicht vollendet werden können. Gleich der "Tennessee Valley Authority" des Rooseveltschen "New Deals" wurde Kaprun zum Symbol des Wiederaufbaus und der Modernisierung.

Der Beitrag der ERP-Gegenwertmittel zum Wiederaufbau der österreichischen Tourismusindustrie hingegen ist in der österreichischen Bevölkerung in Vergessenheit geraten und bisher auch von der einschlägigen Forschung unbeachtet geblieben. Das federführende Zentralbüro für den Marshall-Plan im Bundeskanzleramt wies freilich nur schwache zwei Prozent an Counterparts für den Fremdenverkehrssektor (1950 bis 1955) zu. Der Grund für diese relativ späte Zuteilung von Marshall-Plan-Geldern war der Planungsrückstand der Fremdenverkehrsbranche gegenüber der verstaatlichten Industrie.

Die Planungslücke hatte damit zu tun, daß der Fremdenverkehr nach der Bundesverfassung Ländersache war, und die Länder diese Kompetenz äußerst mißtrauisch gegenüber den Wiener Zentralbehörden bewachten. Die Sektion V des Ministeriums für Handel und Wiederaufbau war für die Koordination von Fremdenverkehrsangelegenheiten veranwortlich, setzte sich aber nur schwer gegen diese überspitzte Länderpolitik durch. Dabei hatte Handelsminister Ernst Kolb die zweite Tagung des "Bundesarbeitsausschußes für Fremdenverkehr" im Oktober 1948 mit dem Motto eröffnet: "Über die Kompetenzen hinaus zur Arbeit".

Klare US-Vorgaben Dieser Bundesarbeitsauschuß legte die Kriterien für die Vergabe von ERP-Investitionsmitteln fest. Die Vorgaben durch die Amerikaner waren klar: nur jene Projekte durften unterstützt werden, "die mit einem Minimum an Geldmitteln, in der kürzesten Zeit, einen maximalen Beitrag zum Ausgleich der österreichischen Zahlungsbilanz beitrugen".

Diese "Devisenrentabilität" stand auch im Mittelpunkt aller Überlegungen der verantwortlichen österreichischen Behörden (Handelsministerium, Bundeswirtschaftskammer, ERP-Zentralbüro und Figl-Regierung). Sie alle wollten möglichst schnell den Nächtigungsstand von 1937 erreichen. Damals hatten die Deviseneinnahmen aus dem Fremdenverkehr zum letztenmal die negative Zahlungsbilanz ausgeglichen. Erste Prioriät der Tourismusbranche war deshalb, die bestehende Infrastruktur auszunützen und die Instandsetzung und Modernisierung der Ausstattung bereits bestehender Hotels voranzutreiben. Eine weitere Priorität war die Eröffnung einer "zweiten Saison". Zahlungskräftige Auslandsgäste sollten im Winter angelockt werden, um die traditionelle Sommerauslastung der Hotels zu ergänzen. Die Fremden mußten "erobert" werden und als Freunde für Österreich gewonnen werden. Hotelneubauten waren in der Aufbauphase des Marshall-Plans nicht vorgesehen, wohl aber zahlreiche Lift- und Seilbahnprojekte.

Es gab auch schon erste Anzeichen einer modernen Tourismuskritik. Die Gasteiner Bäderwirte verlangten etwa, daß die Alpentäler nicht durch Elektrizitätsprojekte verschandelt werden dürften. Die Technokraten im Verkehrsministerium meinten dagegen, die Hochalpen würden durch Wasserkraftprojekte "belebt und verschönert". Zudem würden schwer zugängliche Alpentäler erst "durch die für die Energiebauten notwendigen Straßen und Seilbahnen dem Fremdenverkehr erschlossen". Die amerikanischen Marshall-Planer brachten dieselben Argumente zur Steigerung der Produktivität der österreichischen Wirtschaft vor. Auch den Pfarrer von Hofgastein plagten dieselben Modernisierungsängste der Gasteiner Wirte, und er plädierte beim Handelsminister gegen die Ansiedlung von Industrien im Gasteinertal, indem er argumentierte: "Es wäre doch ewig schade, wenn man in dieses gottgesegnete Tal Fabrikarbeiter und Fabrikarbeiterinnen ansiedeln würde." Hier werden bereits die abzusehenden sozialen Veränderungen der österreichischen Gesellschaft durch Tourismus und zunehmende Verstädterung des ländlichen Raumes sichtbar.

Zwischen 1950 und 1955 wurden 525 Millionen Schilling an Counterpartmitteln in den Fremdenverkehr investiert (404 Millionen in 1.376 Hotelerneuerungen, 93 Millionen in 71 Lift- und Seilbahnanlagen, und 29 Millionen für die Auslandswerbung). Dies war gut ein Drittel der in der Tourismusbranche getätigten Investitionen. Um Wintersportorte in der Arlbergregion wintersicher zu machen, flossen zusätzliche ERP-Millionen in den Straßenbau. Auch die erste Schneefräse am Arlberg wurde mit ERP-Mitteln finanziert. Sei es nun die Kriegerhornbahn in Lech oder die Stubnerkogelbahn in Badgastein, sie alle hätten ohne billige ERP-Kredite zu dieser Zeit nicht gebaut werden können.

Es ist in der Wirtschaftsgeschichtsschreibung inzwischen ein Topos, daß die in der Ostmark getätigten nazideutschen Investitionen zusammen mit den Marshall-Plan-Mitteln zu einer massiven Westverschiebung des Schwergewichtes der österreichischen Wirtschaft führten. In der Tat gingen 81 Prozent der ERP-Mittel in die drei Westzonen.

Die deutschen Gäste Der Erfolg war dementsprechend. Als 1951 der Grenzverkehr zur Bundesrepublik Deutschland normalisiert wurde, kamen die deutschen Gäste wieder. Der deutsche Massentourismus in den westösterreichischen Bergen, der schon im Krieg begonnen hatte, nahm im Lauf der fünfziger Jahre wieder rasant zu. Schon in der Saison 1952/53 erreichte man mit gut 20 Millionen Nächtigungen die Zahlen von 1937, 1955 machten die Ausländer zum ersten Mal mehr als 50 Prozent der Übernachtungen aus. Dementsprechend groß war der Erlös aus den Deviseneinnahmen. 1948 belief sich die Wertschöpfung aus der "Ausländer-Hotelaktion" noch auf magere zehn Millionen Schilling an Devisenerlösen, 1956 brachte der Tourismus bereits über drei Milliarden Schilling an Deviseneinnahmen und war damit wieder - wie in Vorkriegszeiten - imstande, die Zahlungsbilanz auszugleichen.

ERP-Mittel flossen nicht nur in der Marshall-Plan-Ära (1948/52) reichlich in den Fremdenverkehr, sondern werden bis zum heutigen Tage ausgeschüttet! 1961 übergaben die USA die alleinige Verfügungskraft über die Counterpart-Mittel der österreichischen Regierung, welche 1962 den ERP-Fonds einrichtete. Dieser schüttete seither rund 100 Milliarden Schilling an Investitionsgeldern aus, den Großteil an Industrie und Mittelbetriebe, im vergangenen Jahr allein sieben Milliarden. Die vielen großzügigen Hotelbauten, die in den sechziger und siebziger Jahren bis in die hintersten österreichischen Alpentäler gebaut wurden, wären ohne billige ERP-Kredite nicht in dieser Größe möglich gewesen.

Die für Österreich so reichlichen ERP-Mittel begannen im Sommer und Herbst 1948 zu fließen. Der Marshall-Plan wirkt also in Österreich seit 50 Jahren über die Counterpart-Mittel des ERP-Fonds. Nur in Deutschland gab es eine ähnliche Konstruktion. Die Erinnerung der Deutschen an den Marshall-Plan ist aber eine viel wachere, als die der Österreicher. Will die Wiederaufbaugeneration in der heutigen Zeit nicht mehr daran erinnert werden, daß der Wiederaufbau nicht nur durch ihre schwere Arbeit zustande kam, sondern auch entscheidend durch amerikanische Hilfsleistungen gefördert wurde? Zumindest ihre Kinder und Enkel sollten daran erinnert werden.

Der Autor ist Associate Director des Center Austria der Universität von New Orleans und ist im laufenden Sommersemester Gastprofessor am Institut für Geschichte der Universität Salzburg. Zusammen mit Dieter Stiefel leitet er in diesem Semester ein Seminar zum "Marshall-Plan in Österreich" an der Universität Wien.

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