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Die Geburt der Dolchstoßlegende

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GENERALSTABSDIENST AN DER FRONT UND IN DER OHL. Aus Brisen und Tagebuchaufzeichnungen 1915 bis 1919. Von Albrecht von Thaer. Unter Mitarbeit von Helmuth K. G. Rönnefarth. Herausgegeben von Siegfried A. Kaehler. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse, dritte Folge, Nummer 40.) Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen. 333 Seiten. Preis 32 DM

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GENERALSTABSDIENST AN DER FRONT UND IN DER OHL. Aus Brisen und Tagebuchaufzeichnungen 1915 bis 1919. Von Albrecht von Thaer. Unter Mitarbeit von Helmuth K. G. Rönnefarth. Herausgegeben von Siegfried A. Kaehler. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse, dritte Folge, Nummer 40.) Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen. 333 Seiten. Preis 32 DM

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In letzter Zeit sind eine Reihe von historischen Untersuchungen und Darstellungen zum Fnde des ersten Weltkrieges erschienen, wie z. B. der Band XIII und XIV des Reichsarchivwerkes, ferner die noch zu besprechenden Lebenserinnerungen Wilhelm Groeners . und vor allem die vorliegenden Aufzeichnungen des Generals Albrecht von Thaer.

Zur Person des Verfassers als Einleitung: Thaer, geboren 1868, aus einer schlesischen Gutsbesitzersfamilie stammend, bekam erst nach Absolvierung des Rechtsstudiums am Offiziersberuf Freude und ließ sich aktivieren. Der ernste und auch durch religiöse Interessen seiner Jugend beeinflußte Offizier machte rasch Karriere, kam in den Generalstab und war ab Jänner 1915 Chef verschiedenster Korps an der West-, front. In den Abwehrschlachten erfolgte seine Auszeichnung mit dem Orden „Pour le mėrite“ bereits im August 1917, bis er am 24. April 1918 als Chet des Generalstabes beim Generalquartiermeister II (für die Heeresversorgung zuständige Befehlsstelle) versetzt wurde und als Oberst bis zum Kriegsende die entscheidenden Wochen des deutschen Zusammenbruches erlebte, um dann noch 1919 im Grenzschutz gegen Polen eingesetzt zu werden. 1921 trat er aus der Reichswehr aus, unter Ernennung zum Generalmajor. Er starb 1957.

Seine Aufzeichnungen bilden teilweise eine Briefsammlung an seine Frau und persönliche Tagebuchnotizen. Sie enthalten durch die unmittelbare Erlebnisnähe häufig von der herkömmlichen Darstellung abweichende Tatsachen, so daß der Verfasser sich sogar nach 1945 nur schwer entschließen konnte, unter Berücksichtigung des berühmten, vom alten Moltke geprägten Prestigestandpunktes in bezug auf Aeußerungen des Generalstabskorps eine Veröffentlichung zu gestatten. Die historische Wissenschaft Tst deshalb dem um die Ludendorff-Forschung so verdienten Herausgeber Prof. Kaehler zu besonderem Dank verpflichtet, ebenso wie der Göttinger Akademie, daß, wenn auch erst „nach langer Bemühung“, 1955 die Einwilligung Thaers zur Veröffentlichung erreicht werden konnte.

Dabei war der greise General der Meinung, daß diese Akademieabhandlung geringere Publizität erlangen könnte als eine memoirenhafte Veröffentlichung1 auf dem normalen Büchermarkt; Trotz dieser persönlich ehrenwerten Zurückhaltung liegt hier ein zeitgeschichtliches Quellenwerk von besonderem Rang vor, das erneut beweist, daß die Vorgänge um das Ende des ersten Weltkrieges noch lange nicht wissenschaftlich geklärt sind, was nicht zuletzt aus den politischen und militärischen Umständen des Zusammenbruches, aber auch aus dem Kampf gegen die Kriegsschuld und der übermächtigen Propagierung der sogenannten Dolchstoßlegende zu erklären ist. Die Aufzeichnungen und Briefe Thaers während seiner Tätigkeit an der Westfront bis zum April 1918 enthalten plastisch und eindringlich die zunehmende Zermürbung und Auslaugung der immer wiederum in die Schlacht geworfenen Truppenteile, aber auch Hinweise auf bisher unbekanntes Versagen von Regimentern (S. 92: rheinische Regimenter; S. 214: Verrat der Offensive bei Reims, Juli 1918: Ueberlaufen eines elsaß-lothringischen Reserveoffiziers). Die furchtbaren Erfahrungen des Frontoffiziers ließen Thaer auch bei seiner Versetzung in das große Hauptquartier anläßlich seiner Meldung bei Hindenburg und Ludendorff — mit letzterem war er persönlich seit Jahren bekannt — offen die Wahrheit sagen. Die Antwort Hindenburgs war: „Na, mein lieber Herr von Thaer, Ihre Nerven sind nun gewiß durch die letzten ijflden Wochen, die Sie hinter sich haben, etwas mitgenommen. Ich denke, an der guten Stimmung im großen Hauptquartier werden Sie sich nun bald wieder aufrichten.“ Auch bei der Meldung bei Ludendorff kam es zu einem Ausbruch des ersten Generalquartiermeisters: „Was soll Ihr ganzes Ge- unke? Was wollen Sie von mir? Soll ich jetzt Frieden ä tout prix machen?“ Thaer antwortete: „Exzellenz, davon habe ich doch kein Wort gesagt. . . Mir ist es Pflicht, und zwar sehr schmerzliche, darauf hinzuweisen, daß unsere Truppe nicht besser wird, sondern allmählich immer schlechter...“ Ludendorff fuhr erregt fort: „Wenn die Truppe schlechter wird, wenn die Disziplin nachläßt, so ist das Eure Schuld, die Schuld aller Kommandostellen vorne, die nicht zufassen. Wie wäre es sonst möglich, daß ganze Divisionen sich festgefressen und festgesoffen haben bei erbeuteten feindlichen Magazinen und nicht den so nötigen Angriff weiter vorwärts trugen.“ (S. 195 ff., 1. Mai 1918.) Diese Aeußerung bezog sich auf die geheimgehaltenen Ermüdungserscheinungen anläßlich der Frühjahrsoffensiven 1918 an der Westfront, und die Heftigkeit der Reaktion der beiden verantwortlichen und auch die Politik bestimmenden Generäle der OHL zeigt von der Fremdheit gegenüber den Erfahrungen der kämpfenden Truppe.

Augenzeuge weltgeschichtlicher Entscheidungen vurde Thaer in den Tagen des beginnenden Zusammenbruchs. Vor allem erfahren wir aus seinen Aufzeichnungen, wie Ludendorff am 1. Oktober 1918 seine Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstandsgesuch begründet und vor den versammelten engsten Mitarbeitern bereits geschickt die Verschiebung der Verantwortung an der kommenden Nieder lage „auf die Politiker", namentlich die Sozialdemokratie, verschob. Hier ist der erste Ansatz zur sogenannten Dolchstoßlegende deutlich merkbar: Ludendorff sagte ungefähr folgendes: Er sei verpflichtet zu sagen, daß unsere militärische Lage furchtbar ernst sei. Täglich könne die Westfront durchbrochen werden. Er habe darüber in den letzten Tagen S. M. zu berichten gehabt. Zum ersten Male sei der OHL von S. M. bzw. vom Reichskanzler die Frage vorgelegt worden, was sie und das Heer noch zu leisten imstande seien. Er habe im Einvernehmen mit dem Generalfeldmarschall geantwortet: „Die OHL und das Heer seien am Ende; der Krieg sei nicht nur nicht mehr zu gewinnen, vielmehr stehe die endgültige Niederlage wohl unvermeidbar bevor... So sei vorauszusehen, daß dem Feind schon in nächster Zeit mit Hilfe der kampffreudigen Amerikaner ein großer Sieg, ein Durchbruch in ganz großem Stile gelingen werde, dann werde dieses Westheer den letzten Halt verlieren und in voller Auflösung zurückfluten über den Rhein und werde die Revolution nach Deutschland tragen. — Diese Katastrophe müsse unbedingt vermieden werden. Aus den angeführten Gründen dürfe man sich nun nicht mehr schlagen lassen. Deshalb habe die OHL von S. M. und dem Kanzler gefordert, daß ohne jeden Verzug der Antrag auf Herbeiführung eines Waffenstillstandes gestellt würde bei dem Präsidenten Wilson von Amerika zwecks Herbeiführung eines Friedens auf der Grundlage seiner 14 Punkte.“

Ludendorff fügte hinzu: Zur Zeit haben wir keinen Kanzler; wer es werde, stehe noch aus. Er habe aber S. M. gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu danken haben, daß wir so weit gekommen seien. Wir würden also diese Herren in die Ministerien einziehen sehen. Die sollten nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden müsse. Sie sollten die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt hätten (S. 234 ff.).

Mit Erschütterung hörten die Abteilungsleiter diese Eröffnung an. Es ist aber noch zu vermerken, daß nach den genauen Aufzeichnungen Thaers schon am 18. September der Flügeladjutant Kaiser Wilhelms II. Thaer einen anonymen Brief mit der Unterfertigung „Der große Soldatenrat“ überbrachte, der an den Kaiser gerichtet war, in dem unter Androhung der Erschießung durch die eigene Leibwache verlangt .wurde, binnen vier Wochen Frieden zu schließen. (S. 231.)

Die Zersetzungserscheinungen waren offenkundlich bis in die engste Umgebung des Hauptquartiers gedrungen. Die von Ludendorff erzwungene eigene Entlassung am 26. Oktober, nachdem die Note Wilsons über den abzuschließenden Waffenstillstand drei Tage vorher eingelangt war, zeigt, daß der General auch gegenüber der Majestät des Königs nicht mehr den richtigen Ton fand, ja geradezu seine Entlassung erpreßte, um aus der Verantwortung zu entweichen. Damit war, wie der Herausgeber mit Recht bemerkt, auch das Ende des preußischen Heerkönigtums gekommen. Der mit politischen Aufgaben überlastete Ludendorff sprach mit seinem obersten Kriegsherren als Politiker, nicht als Offizier. Dieser bei Thaer (S. 246 ff.) aufgezeichnete Schlußakt des ersten Weltkrieges hat durch einen Nebel von Propaganda, vor allem von seiten Ludendorffs und seiner Anhänger, bisher immer eine andere Darstellung erfahren, und das Bundesarchiv hat mit Recht bei der Herausgabe des XIII. Bandes des Weltkriegswerkes vermerkt: „Eine rücksichtslose Darlegung der Ereignisse wäre bespielsweise zu Lebzeiten Ludendorffs der Kriegsgeschichtlichen Forschungsanstalt eingestandenerweise nicht möglich gewesen.“ Auch das Unvermögen, die Revolution niederzuhalten, erscheint durch die Notiz : vom selben Tag, da die 52. Reservedivision bereits mit den Belgiern fraternisierte und die Waffen verkaufte, untermauert (S. 257), und Thaer findet sich mit der Tatsache ab, daß keine Machtmittel mehr vorhanden waren, um die Revolution niederzuschlagen.

Abschließend sei noch vermerkt, daß dort, wo in den Aufzeichnungen dieses so kritischen und auch objektiv denkenden Generalstabsoffiziers der österreichisch-ungarische Verbündete in Erscheinung tritt, die Verständnislosigkeit für die Problematik der Donaumonarchie und ihr Heer geradezu grenzenlos ist. Es zeigt sich, wie wenig der preußisch-deutsche Generalstab auch in seinen gebildeten Offizieren von dem Bundesgenossen, namentlich vom Opfergang der österreichisch-ungarischen Truppen im Osten, wußte.

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