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Die gefürchteten Iden des März

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Die Schwierigkeiten der gegenwärtigen kommunistischen Regierung in Ungarn bei ihren Versuchen, eine Konsolidierung herbeizuführen, wären nicht so groß, wie sie in Wirklichkeit sind, wenn es bei dem Befund, den Jänos Kädär und seine Sprecher von Zeit zu Zeit über die „wahren Beweggründe“ der Oktoberrevolution der Oeffentlichkeit feilbieten, sich auch nur annähernd um die ganze Wahrheit handeln würde.

In der Auslegung der Vorgänge im vergangenen Herbst wies die offizielle Lesart in Budapest eine gewisse Großzügigkeit auf, solange noch Hoffnung bestand, durch Einlenken der heute in Verbannung in Rumänien lebenden Imre-Nagy-Gruppe oder der einen oder anderen Schlüsselfigur des kurzlebigen parlamentarischen Regimes nach 1945 die Basis der Regierung zu erweitern. Diese Hoffnung ist nunmehr endgültig dahin. Alle Versuche, eine Art von Koalitionsregierung mit Hilfe von „parteifreien Persönlichkeiten" zu errichten, scheiterten, und zwar wahrscheinlich an der Weigerung der Kommunisten, zugleich auch mehrere Parteien zuzulassen. Ohne die Möglichkeit der freien politischen Willensbildung wäre freilich eine Koalitionsregierung nur ein Spiel mit Worten gewesen.

Somit sind die si. itbaren Erfolge, welche der in Moskau gegenwärtig herrschende Kurs durch das geschickte Auf fangen gefährlicher Tendenzen der nachstalinistischen Zeit von Peking bis Warschau erzielen konnte, auch im südwestlichen Zipfel des Moskauer Einflußbereiches nicht ohne Folgen geblieben. Die Beziehungen zwischen Belgrad und den Hauptstädten des „sozialistischen Lagers“ kühlten rasch ab, und gleichzeitig begann mart in Budapest von einer „Gegenrevolution von Anfang an“ und von dem bewußten Verrat "der Gruppe Imre Nagy-Gėza Losonczy zu sprechen.

Diese globale Abrechnung mit allem, was sich in Ungarn im vergangenen Herbst ereignete und seit Jahren innerhalb und außerhalb der Kommunistischen Partei sich regte und keimte, schuf freilich klare Verhältnisse und erleichterte die Orientierung auch für alle Opportunisten, die jetzt endlich die von ihnen bisher geübte vorsichtige Zurückhaltung aufgeben durften. Sie nahm jedoch Jänos Kädär die letzte Möglichkeit, irgendeinmal noch von dem großen Erbe der Freiheitsbewegungen des 19. Jahrhunderts zehren zu dürfen. Die Propagandisten Rakosis hatten es darin leichter, dank der aktiven Mitarbeit so zahlreicher linksradikaler Schriftsteller in ihren Reihen. Diese gewöhnten es sich als revolutionäre Schriftsteller in der Illegalität an, ich als legitime Nachfolger jener die Barrikaden stürmenden Generationen der Petöfi und Heinrich Heine zu fühlen und zu erklären, und die Partei sorgte dafür, daß sie diese Gewohnheit auch dann nicht aufgaben, als sie bereits längst sorgenfrei dahinlebende, privilegierte Staatsdichter waren. Die große Wendung kam in jener imaginären Stunde, als diese Schriftsteller, jeder einzelne für sich allein, beschlossen, von nun an Ernst zu machen: sie begannen d a s zu werden, für was sie sich bisher aus- gaben, also revolutionäre Dichter. Sie hatten erkannt, daß jene alten Ideen von der Gedankenfreiheit, von der Freiheit der Presse und der Versammlung, von den freien und allgemeinen Wahlen, von der Freiheit des Gewissens, deren Fahnenträger dereinst auch die ungarischen Dichter waren, nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Die große Lüge, von der sie nunmehr sprachen, war, daß sie die große Idee der Freiheit zum Lippenbekenntnis erniedrigen mußten. Darüber empfanden sie jetzt Scham, und sie schworen, nicht mehr zu lügen. In ihrer Auflehnung gegen die Lüge und für die Freiheit waren sie mit den Massen des Volkes eins, deren Wortführer sie wurden. Dies führte zu den bekannten Szenen des 23. Oktober 1956.

An diesem Tag wurden die Iden des März des Jahres 1848 in Ungarn nach 109 Jahren wieder zur Wirklichkeit. Neben dieser Erkenntnis verblaßt alles, was später kam: die politischen Fehler dieser führerlosen Revolution, die Exzesse und die falschen Deutungen, die manchenorts der Revolution gegeben wurden. All das konnte die Rechtfertigungsversuche der Regierung Kädär für das nachher Geschehene erleichtern, jedoch nur scheinbar. Die Verlegenheit blieb, und sie rührt von dem Offenbarwerden der wahren Frontverhältnisse her: die Träger der alten Freiheitsideen, die Erben Petöfis, sind auf der anderen Seite der Barrikaden.

Es ist bemerkenswert, wie sehr die Ereignisse der letzten Wochen die Regierung Kädär immer mehr in eine Lage zwingen, in der für sie nichts mehr übrigbleiben wird, als die Räkosi-Leute zu Rate zu ziehen. Der erste von diesen, Jozsef Revai, meldete sich bereits. In einem großen Artikel, den das Budapester Parteiorgan „Nėp- szabadsäg“ an führender Stelle veröffentlichte, erhebt dieser einstige Hauptideologe des Räkosi- Regimes nach fast vierjährigem Schweigen — bedingt auch durch Krankheit — die Stimme, um Imre Nagy endgültig zum Verräter zu stempeln, Räkosi und Gerö gewissermaßen zu entlasten und Kädär und Genossen als unsichere Kantonisten hinzustellen. All das in einem Ton, der ihm den Protest der regierungstreuen, aber diskussionsfreundlicheren Publizisten Kädärs eintrug.

Revai übt keine „Selbstkritik", er verliert in seinem großen Artikel kein Wort über seine eigene Verantwortung dafür, daß die Schriftsteller, die er selbst als Volkserziehungsminister jahrelang im Geiste Schdanows erzog und kommandierte, geschlossen in das Lager des Feindes, unter die Fahne der Gedankenfreiheit, hinübergingen. Es bleibt noch abzuwarten, ob seine Wortmeldung den Beginn seiner Reaktivierung oder eben nur den Beweis einer diskussionsfreundlicheren Publizistik bedeutet. Die Ausführungen Ržvaii mußten jedoch in Ungarn, wo Verhaftungen und Hausdurchsuchungen noch immer zu den Ereignissen des Alltags gehören — erst vor kurzem wurden Waffen an der Technischen Hochschule und im Lenin-Institut beschlagnahmt —, als Bestätigung eines neuen Räkosi-Kurses aufgenommen werden.

Inzwischen hat Ende Februar auch die neue „Sozialistische Arbeiterpartei“ festere Umrisse gewonnen, indem sich das Zentralkomitee, das „Politbüro", das sich letzt Exekutivkomitee nennt, und das Parteisekretariat neu konstituierte. Es ist ein verhältnismäßig enger Kreis von kommunistischen Parteifunktionären, der sich, mit Jänos Kädär an der Spitze, in der Macht teilt. Die früheren Räkosi-Leute fehlen und es fehlen auch fast gänzlich Intellektuelle. Wohl gibt es aber in diesem Führungsstab Techniker der Macht, wie etwa den ersten Stellvertreter Kädärs und früheren Moskauer und Belgrader Botschafter Dr. Ferenc Münnich, der seine Laufbahn einst als Privatsekretär Ministerpräsident Graf Stephan Tiszas begann, im ersten Weltkrieg als Kriegsgefangener in Rußland den Kommunismus kennenlernte und seither sich stets als begabt, zuverlässig und „vernünftu;“ erwies.

Kädär und seine Mitarbeiter stellen jene farblose Mitte der ParteifühVung der letzten Jahre dar, welche sich aus dem Machtkampf zwischen links und rechts, zwischen Räkosi und Imre Nagy, stets nach Möglichkeit heraus- hfelt, obwohl Kadär selbst fast der Inquisition der ungarischen Berijąs zum Opfer gefallen war. Diese alten Illegalen, Spanienkämpfer, wirkliche Söhne der kommunistischen Arbeiterbewegung, gehen heute denselben Weg, den der von ihnen gehaßte Räkosi gegangen war. Die gemeinsamen Feiern der studentischen Jugend am 15. März, dieses traditionelle Bekenntnis zu Idealen, von denen man sich früher — nicht nur unter den Kommunisten — am nächsten Tag bereits wieder rasch abwandte, wurden nach einigem Zögern verboten. Wohl gibt es Fahnenschmuck, mit rotweißgrünen und roten Fahnen, und einen schulfreien Tag, aber sonst nichts. Die behördliche Verfügung kommt aber diesmal zu spät. Der 15. März wurde in Ungarn viereinhalb Monate früher gefeiert...

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