6771125-1969_02_10.jpg
Digital In Arbeit

Die Gegenenzyklika McNamaras

Werbung
Werbung
Werbung

McNamara, früher Verteidigungsminister im Pentagon, heute neugebackener Präsident der Weltbank, hat in seiner ersten Präsidential-rede vor der Jahresversammlung der Weltbank-Dirigenten die Katze, die schon längst miaute, aus dem Sack springen lassen: Die Weltbank knüpft in Zukunft ihre massiven Geldinversionen in die Wirtschaft der unterentwickelten Länder an die Bedingung der Geburtenkontrolle. Auch Präsident Johnson war dabei, um der „Gegenenzyklika“ seines Schützlings etwas mehr Gewicht zu verleihen. Während er vor allem für eine Bremsung der „unnötigen Mili-tärauslagen“ in den unterentwickelten Ländern plädierte (was von verschiedenen lateinamerikanischen Regierungen als Einmischung in die inneren Angelegenheiten ihrer Staaten mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen wurde), nahm McNamana die demographiische Explosion in der Dritten Welt aufs Korn. Nach ihm ist die Geburtenkontrolle das unerläßliche Mittel für eine reale „Politik der Entwicklung“. Damit mischte er sich in die innersten Angelegenheiten anderer Nationen, und dies wurde von den betreffenden Regierungen stillschweigend geschluckt. — Der Köder, den beide Politiker offerierten: wirtschaftliche Hilfe. McNamara, früher „Experte in asiatischen Fragen“, verfügt augenblicklich über eine mächtige Über-zeuguingswaffe. Wie er in der zitierten Rede ausführte, projektiert die Weitbank bis zum Jahre 1973 Anleihen in der Höhe von 11.400 Millionen Dollar. Diese Inversionen sollen vor allem Laitednamerika (zweifache Vermehrung gegenüber bisher) und Afrika (dreifache Vermehrung) zugute kommen, während die Inversionen in Asien stark gekürzt werden sollen. Die einzige Bedingung, die die Weltbank an die unterentwickelten Völker stellt: weniger Militärauslagen und mehr Pillen. Die Geburtenkontrolle bezeichnet McNamara als den „Schlüssel zur Entwicklung“.

Eine Welle der Entrüstung ging vor kaum zwei Monaten durch Bolivien, als die Presse mit der Nachricht ausrückte, daß der „Cuerpo de paz“ unter der Landbevölkerung großzügig empfängnisverhütende Mittel verteile. In einer Audienz mit den Bischöfen des Landes versprach Präsident Barrientos, die Tätigkeiten des Friedenskorps genau zu untersuchen, und wiederholte seine kategorische Opposition gegen jede Politik der Geburtenkontrolle. Er persönlich sei der Meinung, daß Bolivien in seinen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsplänen direkt auf ein schnelles Anwachsen der Bevölkerung angewiesen sei. — Bolivien weist eine Bevölkerung von viereinhalb Millionen Menschen auf,die auf einem Raum von mehr als einer Million Quadratkilometer verteilt ist.

Auch in Arequipa (Peru) wurden vor einigen Wochen Pressestimmen laut, die das nordamerikanische Friedenskorps in der Stadt der gleichen „friedlichen“ Tätigkeiten bezichtigten. Der Ruf, die „neben-geschäftlichen“ Umtriebe des „Guerpo de paz“ etwas genauer unter die Lupe zu nehmen wurde hier von der „Federaciön de los Circulos sociales catölicos“ durchgegeben.- Wie mir* der geistliche Assessor und Gründer der genamv ten Zirkel mitteilte, konnten pillenverteilende Funktionäre des Friedenskorps vor zwei Jahren in den Barriaden (Armenviertel) In flagranti ertappt werden. Und neulich reklamierte ein erboster Apotheker, daß Barriaden-Frauen für 40 Soles (zirka 23 Schilling) die gleiche Art von antikonzeptiven Pillen verkauften, die in den Apotheken zum offiziellen Preis von 70 Soles angeboten werden. Auf welchem Weg die verkaufbaren Geschenke den geschäftstüchtigen Indiofrauen in die Hände fallen, ist nicht schwer zu erraten. — Die nordamerikamsche Gesandtschaft in Lima dementierte die Pillengeschenike des Friedenskorps. Die Berechtigung dieser Frage ist nicht von der Hand zu weisen. Die piUenireundldcbe Außenpolitik der Vereinigten Staaten gegenüber der Dritten Welt stellt nämlich kein Novum dar. Allzu bekannt sind hier die barbarischen „Do-ut-des“-Me-thoden (= ein Transistorradio für eine chirurgische Sterilisation), die von US-Funktionären in Land-bevölkerungsschichten Mititelameri-kas (auch Indiens) angewandt wurde. Und viele Denker Lateinamerikas stimmen darin überein, daß der „Tio Tom“ (der Onkel Tom von Nordamerika) ein ausgesprochener Freund des Status quo ist, den es mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bewahren gilt. Darum möchte er den Bevölkerungszuwachs in der Dritten Welt verhüten, wohl wissend, daß eine demographische Explosion in diesen Ländern eine für den nordamerikanischen Kapi-taliimperialismus ungünstige Lage mit sich bringen könnte. Ich zitiere dazu zwei lateinamerikanische Stimmen aus zwei verschiedenen Lagern. Josue de Castro, einer der besten Soziologen Lateinamerikas, aus seinem Heimatland Brasilien wegen „Verlustes der politischen Rechte“ ausgewiesen, heute Direktor des Internationalen Zentrums für Entwicklung und Dozent an der Pariser Universität, Autor des Buches „Geopolitica del Homlbre“ (in 24 Sprachen übersetzt), sagt: „Die Geburtenkontrolle ist ein Teil eines koordinierten Planes dar Unterdrückung. Die großen Mächte möchten die Entwicklung der anderen verhindern... Die Gewalttätigkeit in Lateinamerika ist die Antwort auf einen Dialog mit Stummen. Der chronischen Violenz der Latifundi-sten, der Oligarchen, widersetzt sich heute die neue Violenz der Jungen, der Sozialisten... Die .Humanae vitae' ist die progressistiseiiste Enzyklika, die .die Kirche veröffentlicht hat. Sie verteidigt die unterdrückten Völker. Man muß sich davon überzeugen daß die Pille die beste Garantie ist, daß Nordamerika weiterhin eine herrschende Minderheit bleibt... Der Kampf gegen die ,Humanae vitae' ist ein von den großen Mächten programmierter Plan, um die Unibeweglichkeit der beiden Pole .Herrschen' und .Beherrschtsein' zu sichern.“ Pater Ivan mich, ein gescheiter Priester in Cuernavaoa (Mexiko),avisiert in einem Schreiben an das „Centro Interoultural de Documen-tacion“ die praktische Seite des Pillenproblems: „Erfolg haben in der Schule, in der Arbeit und im Sexus, dies erreicht in Lateinamerika nur eine Minderheit von ein bis fünf Prozent. Unter diesen befinden sich jene, die den Zutritt zur politischen Macht haben, die sie aus mächtige Quelle zur Bereicherung ihrer Verwandtschaft zu gebrauchen wissen. Auch wenn diese verschwindende Minderheit, die von der .Allianz — für den Fortschritt — des Mittelstandes' profitiert, die Geburtenpla-nung praktizieren würde, würde dies in keiner Weise die Indizes des Bevölkerungszuwachses beeinflussen. Denn die Geburtenplanung steht außer der Reichweite ,der anderen', das heißt in Lateinamerika: der überwältigenden Mehrheit... In den pseudodemokratischen politischen Verhältnissen Lteinamerikas ist es unmöglich, die Massen zur Anwendung der Geburtenkontrolle anzuleiten. Denn dazu braucht es ein gewisses Minimum an Erziehung. Und unseren Regierungen (und ihren Drahtziehern in der USA) ist es nicht zuträglich, den erwachsenen Analphabeten einen solchen Grad an Erziehung zu ermöglichen. Sie wissen nur zu gut, daß sie damit ihren eigenen Untergang vorbereiten würden ...“

Daß Nordamerika mit seiner These „Viel Pillen — oder kein Geld!“ eklige Hintergedanken zur Konsolidierung seines Kapitalimperialismus verbirgt, ist kaum zu bezweifeln. Die Geschichte, seit Ramses II. (1290 bis 1224 v. Chr.) mit seinem antisemitischen Komplex lehrt uns bis zur neuesten Zeit, daß eine Herrschernation immer gegen die demographische Ausdehnung der beherrschten Nationen war. Aus politisch verständlichen Gründen. Doch politisch ist nicht gleichbedeutend mit moralisch. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß Papst Paul VI. bei der Redaktion der „Humanae vitae diese Machenschaften des Kapitalimperialismus anvisierte.

Daß der geläufige Spruch „Weniger Kinder — mehr Fortschritt“ hohl wirkt, beweist der Hammer der Geschichte, sobald man ihn ansetzt: In der Phase der Industrierevolution (1750 bis 1850) weist, laut Statistiken der Weltbevölkerungslinie, genau Buropa den spektakulärsten Bevölkerungszuwachs auf, wenn wir von der Immigrationswelle in Amerika und Australien absehen. In dieser Zeitperiode nahm die Bevölkerung Europas fast um das Doppelte zu (140 Millionen im Jahre 1750 und 266 Millionen im Jahre 1850). Diese demographdscbe Explosion ist so eindrücklich, daß Andre Landry sie mit dem Namen „demographische Revolution“ taufte. Zum Vergleich die prozentuale Bevölkerungszunahme in der Alten Welt: Europa: 90 Prozent; Asien: 58 Prozent; Afrika: 5 Prozent. Alle geschichtlich Denkenden stimmen darin überein, daß die eigentliche Industrialdsation Europas die Wirkung (und nicht die Ursache) des gigantischen Bevölkerungszuwachses war. Die Statistiken der Periode von 1850 bis 1913, in der das Finanzierungskapital aufkommt, zeigen uns, daß die europäische Bevölkerung um 70,8 Prozent zunimmt und jene von Nordamerika um 332 Prozent, während das Weltmittel nur 45,3 Prozent ausmacht. Und wiederum ist es Europa (sekundiert von Nordamerika), das sich in einem gewaltigen Aufschwung enitwicklungstech-1 nisch durchsetzt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung