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Die geschichtlichen Wurzeln der amerikanischen Demokratie

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Der Europäer, der den Ursprüngen der amerikanischen Demokratie nachfragt, wird sich zunächst die Tatsache vor Augen halten, daß hier einer jener Begriffe vorliegt, die im Laufe der Zeit diesseits und jenseits des Atlantischen Ozeans eine doch nicht völlig übereinstimmende Bedeutung angenommen haben.

Im europäischen Denken pflegte und pflegt man auch heute noch den Begriff „Demokratie“ fast ausschließlich im politischstaatsrechtlichen Sinn de griechischen Wortbedeutung „Volksherrschaft“, also entsprechend der aristotelischen Unterscheidung im Gegensatz zu Monarchie, Aristokratie, Oligarchie usw. zu gebrauchen. Die Amerikaner aber, die auch von dieser ursprünglichen Bedeutung ausgingen, haben das Wort im Lauf der Zeit auf viel mehr und umfassendere Gebiete übertragen, das dürre staatsrechtliche Gerippe mit dem lebendigen Fleisch aus dem täglichen Dasein umkleidet und mit An-schauungs- und Gemütswerten reich ausgestattet.

So sagt man von einem natürlichen, ungezwungenen und kameradschaftlichen Menschen, er habe „demokratische Umgangsformen“, so tragen Bücher, die eine allgemeine Geschidne der Vereinigten Staaten (einsdiließlich politischer, Kultur-, Wirtschafts-, Kunst- und “ Literaturgeschichte) enthalten, den Titel „Geschichte der amerikanischen Demokratie“, so erklärt in einem amerikanischen Film der letzten Jahre ein Soldat dem anderen, daß das Wesen der „demoeraey“ sidi in der leutseligen Freundlichkeit zeige, mit der die berühmten Filmstars in der „Hollywood Canteen“ mit den einfachen Soldaten verkehren. Uber den rein politischen Bereich hinausgehend, liegt hier ein Sammelname für eine bestimmte, auf den Idealen von Freiheit und Gleichheit beruhende Geisteshaltung und Lebensform vor. Es ist ein Begriff, der im Denken und Fühlen des Volkes vielfach mit der ebenfalls so vielberufenen Vorstellung des „American way of life“, der amerikanischen Lebensart, zu sammenfällt, der aber zugleich auch Gegenstand eines fast religiösen Sendungs- und Missionsbewußtseins ist.

Die Antworten, die die Amerikaner selbst auf die Frage nach den geschichtlichen Wurzeln ihrer Demokratie gegeben haben, sind daher audi für den Europäer bedeutsam.

Im Kampf gegen die absolutistisch-zen-tralistischen Machtansprüche des Mutterlandes haben die ehemaligen Kolonien der Neuen Welt ihre eigene Lebensform begründet, und der Gegensatz der jungen Republik gegen das monarchisch regierte Europa ist auch im 19. Jahrhundert noch durchaus lebendig geblieben. Doch als nach der Verkündigung der Monroe-Doktrin der Gegensatz zunächst außenpolitisch seine Schärfe verlor und später in der zweiten Jahrhunderthälfte durch den Sieg der liberalen Zeittendenzen in der Alten Welt auch inner-politisch eine gewisse Angleichung stattfand, wurde der Weg zu ruhigerer historischer Betrachtung frei. Die Gedanken der Romantik und der historischen Rechtsschule kamen von Göttingen (Jakob Grimm) über England (Grimms Schüler Kemble, Freeman, Stubbs, Green usw.), sowie direkt durch die zahlreichen in Göttingen und Heidelberg studierenden Amerikaner in die Neue Welt, wo John Fiske 1880 in seinem Buch „American Political Ideas“ die amerikanischen Formen der Demokratie über die „town-meetings“ Ncu-Englands auf die altgermanischer Volksversammlungen zurückführte. Eine wesentliche Entwicklungslinie war damit aufgezeigt, die auf dem europäischen Festland — ausgenommen gewisse geographisch begünstigte Rückzugsgebiete wie die Schweiz — durch den, zuerst im Frankreich Ludwigs XIV. voll ausgebildeten, modernen absolutistischen Machtstaat unterbrochen worden war. Im Einklang mit den führenden Rechts- und Verfassungshistorikern Englands und Deutschlands sahen so auch die Amerikaner der zweiten Jahrhunderthälfte in der lokalen Selbstverwaltung und Dezentralisation ein dem romanisch-zentra-listischen entgegengesetztes germanisches Prinzip. An der Universität Harvard, darüber hinaus aber allgemein in den Neuenglandstaaten, den vornehmlichsten Hütern der angelsächsischen Tradition Amerikas, waren diese Gedanken. naturgemäß am stärksten vertreten.

Gegen die Überbewertung der „germanischen Ursprünge“ hat dann zuerst der junge Historiker Frederick Jackson Turner aus Wisconsin in seinem 1893 vor dem Historikerkongreß in Chikago gehaltenen epochemachenden Vortrag „Die Bedeutung der Grenze in der amerikanisdien Geschichte“ Stellung genommen. Die von ihm hier und in späteren Schriften — gesammelt unter dem Titel „The Frontier in American His-tory“, 1920 — vertretene These betonte den entscheidenden Anteil, den die „Frontier“, der Grenzstreifen gegenüber der Wildnis und den Indianern, im Verlauf der Wanderung quer über den Kontinent von Ost nach West an der Formung der amerikanischen Nation und an der Ausbildung der amerikanischen Demokratie genommen hatte. Nicht aus. den Träumen eines Theoretikers vom germanischen Wald, sondern „stark, kräftig und lebensvoll aus dem amerikanischen Urwald“ sei die neue Demokratie hervorgegangen. Als die wesentlichsten Charakterzüge dieser aus dem Grenzerlebnis geborenen „Demokratie des Westens“ bezeichnete Turner: unbekümmerten, frisch zupackenden Individualismus, Verachtung alles überflüssigen Ballasts an Tradition und Theorie, ein starkes Unabhängigkeitsgefühl uad Sinn für das selbsterworbene Eigentum, die Einschätzung des Mitmenschen nicht nach Herkunft und Abstammung, , sondern aus-schließlich nach seiner B e-währung im harten Lebenskampf der Grenze, andererseits aber auch die durch eben diesen Lebenkampf bedingte Neigung zum freiwilligen Zusammenschluß und zum Wirken für die „geliebte Gemeinschaft“, dje „beloved Community“, wie der Philosoph Josiah Royce diese wirksame Kraft im amerikanischen Leben genannt hat.

Turners, aus der zeitbedingten Anwendung der Milieutheorie; erwachsene These hat die folgenden Generationen amerikanischer Historiker, so unter anderem auch Woodrow Wilson, in ihren Bann gezogen — so sehr, daß die American Historical Association zeitweise den Spitznamen „Turner-Verein“ erhielt.

Die allzu vereinfachende ausschließliche Anwendung der Universalformel von der Bedeutung der „Frontier“ mußte schließlich zu Korrekturen herausfordern. So ließ die in der Grundhaltung weitgehend mit Turners Ansichten übereinstimmende monumentale Geistes- und Literaturgeschichte von Vemon Louis Parrington „Main Currents in American Thought“ (1927—1930) doch auch die weit zurückliegenden religiösen Wurzeln des amerikanischen Denkens, die demokratischen Strömungen im Kongregationahsmus und den anderen, für das Geistesleben der Neuen Welt so maßgeblichen religiösen Bewegungen erkennen. Aber auch den Einflüssen, die das Denken der Aufklärung und besonders der französischen Physiokraten auf die Ideen der „,Gründervätert' des amerikanischen Gemeinwesens und hier wieder vor allem auf den entscheidenden politischen Denker, auf Thomas Jefferson ausgeübt hat, räumte Parringtons gründliche Untersuchung einen wesentlichen Anteil an der Ausbildung der demokratischen Ideologie ein.

Für die bisher immer gerade als ein Musterbeispiel der „Erhebung des Westens“ angesehene demokratische Bewegung im Zeitalter des Präsidenten Jadtson (1828—1836) hat kürzlich Arthur M. Schlesinger in seinem mit dem Pulitzer-Preis 1945 ausgezeichneten Werk „The' Age of Jackson“ gezeigt, daß viele der bisher als typisch „westlich“ be-zeidineten Ideen und Tendenzen aus dem Osten und Süden der Union oder sogar aus England, aus dem Gedankengut von Adam Smith und William Cobbett, stammen.

So setzt sich heute immer mehr die. Erkenntnis durdi, daß die verschiedensten geistigen Stömungen zur Ausbildung der amerikanisdien Vorstellung von Demokratie beigetragen haben: die christlichen und humanitären Ideale von der Würde und Willensfreiheit des Menschen, die von England her übertragenen Einrichtungen der germanischen Selbstverwaltung sowie die religiös-politischen Tendenzen des englischen Revolutionszeitalters, das Gedankengut der Aufklärung und die „Ideen von 1789“, die Lehren der französischen Physiokraten und die auf den amerikanischen Transzendentalismus wirkende deutsche idealistisch Philosophie.

All dies ist, mag es nun dem einzelnen Amerikaner mehr oder weniger bewußt sein, in der amerikanischen Vorstellung von „Demokratie“ enthalten. Einer an sittlichen und geistigen Werten“ reichen, lebendigen Kraft und nicht bloß einem Begriff des Staatsrechts und der Politik galt so die dichterische Begeisterung des „Sängers der Demokratie“ Walt Whitman, der im vorigen Jahrhundert „die Größe von Liebe und Demokratie und die Größe der Religion“ in hymnischen Worten besang. In unserem Jahrhundert aber ist die amerikanische Jugend zweimal dem Ruf gefolgt, für die Verteidigung und Ausbreitung dieser Ideen zu den Waffen zu greifen. i

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