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Die Gestalt Lenins im Film

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Ein Report über die aktuelle Inflation in Geschichte.

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Wohl keine zweite historische Persönlichkeit wurde schon so oft im Film dargestellt wie die Wladimir Iljitsch Uljanows, genannt Lenin (gestorben am 21. Jänner 1924), dessen Geburtstag am 22. April sich heuer um hundertsten Male jährt — Anlaß für grandiose Feiern und Ehrungen in den sogenannten sozialistischen Ländern, Grund genug für eine filmhistorische Betrachtung über die vielfache Interpretation seiner Gestalt im Medium Film, vorwiegend natürlich im sowjetrussischen ...

Zum erstenmal erschien Lenins markante Figur natürlich in kurzen Wochenschau- und Dokumentaraufnahmen, die von zahlreichen Regisseuren und berühmten Kameraleuten (darunter zum Beispiel auch Eduard Tisse, der spätere Chefoperateur Eisensteins) vom 1. Mai 1918 an gemacht wurden: an revolutionären Festtagen, zu Arbeitern, Rotarmisten oder Delegierten von Kominternkongressen sprechend, bei den Beisetzungen seiner Mitarbeiter und. Freunde, wie Jakow Swerdlow und Mark Jelisarow. Da Rußland damals selbst noch kein Filmmaterial erzeugte und dessen Einfuhr schon vor der Oktoberrevolution eingestellt war, wurden diese größtenteils während des Bürgerkrieges und des nachfolgenden wirtschaftlichen Ruins gedrehten Dokumentarstreifen auf Stückchen Film gemacht, die man gerade zur Hand hatte — und meist noch bei schwacher oder ungenügender Beleuchtung, da die elektrischen Kraftwerke nicht immer funktionierten. Dennoch geben diese Aufnahmen trotz ihrer mangelhaften Qualität einen starken Eindruck von der Kraft und Persönlichkeit Lenins.

Nach Lenins Tod stellte Dsiga Wertow, der große und geniale Dokumentarist, 1924 aus Wochenschauaufnahmen den abendfüllenden Film „Lenins Filmwahrheit“ her, der wie ein Musikstück, eine dreiteilige Symphonie, aufgebaut ist. I. Teil: Lenin als Schöpfer und Lenker des Sowjetstaates, II. Teil: ein Requiem, das schildert, wie das ganze Volk um den toten Führer trauert, und im III. Teil eine Darstellung, wie das Sowjetvolk den Weisungen Lenins nachkommt. Einigermaßen ähnlich ist der Spielfilm Sergej M. Eisensteins „Oktober — zehn Tage, die die Welt erschütterten“ (1927) aufgebaut; die Hauptrolle besetzte der Regisseur mit einem Laien, einem Arbeiter aus dem Ural namens Rabjotschin Nikandrow, der Lenin ungemein ähnlich sah. In den Massenszenen — so bei Lenins Ansprache auf dem Panzerwagen vor dem flnnländischen Bahnhof in Petrograd oder auf dem 2. gesamtrussischen Sowjetkongreß — wirkt der Darsteller sehr überzeugend und echt, und diese Szenen sind besonders packend, während man in der Sowjetunion beanstandet, daß der Laiendarsteller jedoch Lenins Intellekt nicht genügend wiederzugeben imstande war. Im gleichen Jahr verkörperte Nikandrow dann noch Lenin in einem zweiten Film, in Boris Barnets „Moskau im Oktober“ (1927). . Im Jahre 1934 verband dann Dsiga Wertow in dem Film „Drei Lieder über Lenin“ Wochenschauaufnahmen, in denen der Revolutionsführer zu sehen war, mit neuen Dokumentaraufnahmen (größtenteils solchen über die Befreiung der Frau im Osten des Sowjetlandes), wobei ihm überaus eindrucksvolle Verschmelzungen der stummen alten Wochenschauszenen mit Reden Lenins auf erhalten gebliebenen Schallplatten gelangen.

Lenin ans Bett gefesselt

1937 kam dann anläßlich des 20. Jahrestages der Oktoberrevolution der Spielfilm „Lenin im Oktober“ heraus, den Michail Romm in Form einer dramatisierten revolutionsgeschichtlichen Chronik inszeniert hatte. Die Titelrolle wurde von einem der besten sowjetrussischen Darsteller verkörpert, von Boris Stschukin, der sich vor den Aufnahmen sorgfältig auf die Rolle vorbereitet hatte, indem er Wochenschauen, Photos und Schallplatten mit Reden Lenins studierte; so gelang es ihm, den Charakter Lenins richtig zu erfassen und wiederzugeben. Eine Glanzleistung war seine Lenin-Interpretation im Film „Lenin im Jahre 1918“, den — abermals — Michail Romm 1939 mit Stschukin schuf. Am packendsten gelangen hier die Szenen des Attentats auf Lenin und seine Krankheit: fast einen ganzen Filmakt lang ist Lenin ans Bett gefesselt — und, obwohl fast reglos, erzielt hier der Darsteller eine unerhört nachhaltige und eindringliche Wirkung.

Noch 1938 wurden zwei weitere Filme über Lenin als den Führer der Oktoberrevolution hergestellt; Michail Tschiaureli, Stalinverherrlicher und heute in Ungnade und Vergessenheit, drehte mit einem jungen Schauspieler aus Tiflis, K. Miuflke, in der Rolle Lenins „Die große Morgenröte“ und Sergej Jutkewitsch schuf den Film „Der Mann mit dem Gewehr“. Dieser Film ist besonders bemerkenswert; er handelt von einem Soldaten, den die Ereignisse zum klassenbewußten revolutionären Kämpfer machen. Auch hier steht Lenin, der erstmals von Maxim Strauch verkörpert wurde, im Mittelpunkt des Geschehens. Für diesen Schauspieler war diese Rolle ein Beginn, der später in vielen Filmen und auch auf dem Theater seine Fortsetzung fand. Strauch stellte Lenin im Film noch weitere viermal dar, in „Die Wyborger Seite“, 1939 (Regie: Grigori Kosinzew und Leonid Treuberg), in „Jakow Swerdlow“, 1940 (Regie: Sergej Jutkewitsch), in „Erzählungen über Lenin“, 1958, und in „Lenin in Polen“, 1965, beide Filme wieder von Jutkewitsch inszeniert. Maxim Strauch erzählt heute über seine Lenin-Interpretationen: „Vor beinahe drei Jahrzehnten, damals erschien es mir, daß ich etwas Unausführbares unternommen hätte. Obwohl das nun schon soviele Jahre zurückliegt und ich mich die ganze Zeit mit der Gestaltung Lenins beschäftigt habe, ist mir noch heute so, als stünde ich erst am Anfang. Jedesmal versuche ich, etwas Neues an dieser Gestalt zu entdecken und tiefer zu schürfen — eine unerschöpfliche Aufgabe.“ Erst nach dem Tode Stalins wurde die Reihe der Lenin-Verfilmungen fortgesetzt; Juli Raisman schuf 1958 den revolutionsgeschichtlichen Film „Der Kommunist“, in dem ein neuer Lenin-Darsteller mitwirkte, Boris Smirnow, der dann später noch oft in Fernseh- und Kinofilmen diese Figur verkörperte, so in „Appassionata“, 1963 (Regie: Juri Wyschinski), und in „Im Namen der Revolution“, 1964 (Regie: Henrik Gabai). Ebenfalls 1958 entstand auch der Farbfilm „In den Tagen des Oktober“ von Sergej Wasiljew mit W. Tschestnikow als Lenin.

Seither wurde die Figur Lenins eine der Repertoiregestalten des modernen sowjetischen Filmschaffens, von den verschiedensten Perspektiven und Situationen her beleuchtet: Anatoli Rybakow schildert in „An der Jahrhundertwende“ (1961) die Jugendjahre Wladimir Uljanows (dargestellt von Juri Kajurow), Lenin als Denker — während der Periode, als er gezwungen war, sich in der Laubhütte am Rasliw-See aufzuhalten, wo seine Schrift „Der Staat und die Revolution“ entstand — sah man in Lew Kuiidschanows „Das blaue Notizbuch“ (1963, Lenin: Michail Kusnezow), in „Die erste Bastille“ (1964, Regie: Michail Jerschow) wird der 17jährige Wladimir Uljanow (Valeri Golowenkow) gezeigt, als er im Kazan studierte und sich dort der Revolutionsbewegung anschloß, verhaftet und nach Kukuschkino deportiert wurde, und der große und unvergeßliche Mark Donskoi, dessen „Gorki“-Trilogie zu den unsterblichen Filmklassikern gezählt werden muß, stellt das Leben der Mutter Lenins 1966 in zwei Filmen dar, in „Ein Mutterherz“ und „Die Treue einer Mutter“, in denen der junge Lenin — beide Filme behandeln den Lebensabschnitt von 1880 bis 1910 — von Rodion Nachapetow verkörpert wird.

Wohl das interessanteste Experiment dieser Lenin-Verfilmungen dürfte der 1966 von Ilja Olschwanger inszenierte Streifen „Auf demselben Planeten“ darstellen, der 24 Stunden aus dem Leben Lenins (und zwar die Nacht vom 31. Dezember 1917 auf den 1. Jänner 1918) erzählt, wobei hier Lenin von dem berühmten modernen sowjetrussischen Schauspieler Innokenti Smoktunowski („Hamlet“) verkörpert wird — jedoch nicht allzu zufriedenstellend wie die sehr diplomatisch abgefaßten nationalen Kritiken und auch die Tatsache, daß der Film nicht im westlichen Ausland gezeigt wurde, schließen lassen. Den Abschluß dieser Aufzählung muß wohl der Spielfilm „Der 6. Juli“ von Juli Karassik bilden, der erst 1968 uraufgeführt wurde und in dem abermals Juri Kajurow als Darsteller Lenins auftritt; der im eigenen Lande als sehr bedeutsam aufgefaßte Film schildert jenen berühmten Tag im Jahre 1918, an dem die Rebellion der „linken Sozialrevolutionäre“ in Moskau, Petrograd und Jaroslawl niedergeschlagen wurde — ein zweifellos wichtiges Datum, das die Geschichte verändert hat — und wer denkt dabei nicht an gewisse Bezüge zur Gegenwart?

Für dieses Jahr ist ein großer Jubiläumsfllm angekündigt, der wieder von Juri Karassik inszeniert sein soll und vom Entstehen der Partei und vom Werden des Bolschewismus (der Film spielt 1903) handelt und der nicht der letzte sein dürfte, da die Gestalt Lenins, wie man sieht, ein wahrhaft „unerschöpfliches Thema“ im sowjetrussischen Filmschaffen darstellt...

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