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Die große Begegnung

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Die bevorstehenden Treffen Chruschtschows mit Eisenhower stehen im Mittelpunkt des Weltinteresses. Obwohl es nicht an Stimmen fehlt, die vor einer Ueberschätzung dieser Gespräche warnen, herrscht doch das unbestimmte Gefühl vor, daß sich hier eine historische Wende vorbereitet. Wenn wir im Auge behalten, daß seit langem die Sowjetdiplomatie bilaterale Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten offen anstrebte und Chruschtschow persönlich derjenige war, der diese Zusammenkünfte anregte, dann müssen wir feststellen/ daß der heute leitende Mann der Sowjetunion eigentlich ohne ein deutlich sichtbares Resultat diese Aktion nicht beenden kann. Es läßt sich nicht bestreiten, daß Nikita Chruschtschow in den letzten Jahren innenpolitisch große Erfolge hatte. Der wirtschaftliche Aufschwung der Sowjetunion, der offenkundig verbesserte Lebensstandard, das Nachlassen des Terrors und der Polizeiwillkür haben ihm zweifelsohne eine Popularität geschaffen, die — geschickt propagandistisch dar gestellt — seine wirklichen Verdienste übersteigt. Doch das alles, eben weil das Leben in der Sowjetunion lebenswerter geworden ist, steigert ganz offen auch die Friedenssehnsucht des russischen Menschen. Wenn Chruschtschow mit großem propagandistischem Aufwand nach Washington fliegt und Präsident Eisenhower nach Moskau kommt, so muß das zu einem politischen Erfolg für Chruschtschow werden. Sonst erhält seine Popularität und Autorität einen Rückschlag und seine still gewordenen Gegner in der Partei und im Staat erheben wieder ihr Haupt. Eben sein innenpolitischer Erfolg gibt.ihm jedoch auch sehr viele Trümpfe in die Hand, Er kann den Ausgleich mit Amerika mit mehr Zugeständnissen anstreben, und niemand in der Sowjetunion wird es dann wagen, ihm eine solche Verständigungsbereitschaft zur Last zu legen. WßgFaR iMestTtfÄn bei AtSSW W P-ü ne ti flfür?ihn eifi-Etfolg' sMä wird. Es ist die Frage, ob er elastisch und staatsmännisch klug genug ist, machtpolitisch ein Opfer zu bringen, um damit ein für die Sowjetunion verheißungsvolles Verhältnis zu den USA einzuhandeln.

Im Westen ist die Meinung verbreitet, daß Chruschtschow bei seinem Besuch in Amerika, beeindruckt von der Größe und Stärke der Vereinigten Staaten, seine politische Konzeption ändern werde. Chruschtschow selbst hat in einer der Kriegsgefahr sind, sondern die Tatsache, daß es heute zwei Weltwirtschaften gibt und daß als Folge des zweiten Weltkrieges eine ganze Reihe von Ländern Europas und Asiens aus der sogenannten kapitalistischen Weltwirtschaft in das kommunistische Weltwirtschaftssystem hinübergewechselt ist. Wie es schon 1945 ein etwas skeptischer Sowjetdiplomat formuliert hat: Als Folge unserer großen Verluste im vergangenen Krieg würde man uns die Curzon-Grenze und gewisse territoriale Erwerbungen zugestehen; wenn wir aber die osteuropäischen Staaten, die jetzt unter unserem politischen Einfluß stehen, aus der kapitalistischen Weltwirtschaft herauslösen, so wird man uns das nicht nachsehen; dann wird es lange keinen richtigen Frieden geben. Seit 1945 sind außer den osteuropäischen Staaten auch noch China und die angrenzenden Gebiete aus dem westlichen Wirtschaftsraum herausgebrochen worden. Chruschtschow wird daher versuchen, den kalten Krieg auf Grund des Status quo zu beenden, also auf Grund der Anerkennung/der Tatsache, daß die Weltwirtschaft wie heute geteilt bleibt. Er hofft dabei, durch im Grunde unwesentliche Handelszugeständnisse temporären Charakters sein Ziel zu erreichen.

In den letzten Jahren sind die theoretischen Arbeiten der Moskauer Ideologen ein Geheimnis. Man muß sich daran erinnern, daß in den zwanziger Jahren, als innerhalb der Partei heftige Kämpfe wüteten, von Seiten der damaligen Rechtsopposition eine sehr interessante Theorie aufgestellt wurde: der Schöpfer dieser Theorie war der später hingerichtete Nikolai Bucharin, in seiner politischen Blütezeit Präsident der kommunistischen Internationale. In seinem berühmten Testament bezeichnet Lenin Bucharin als den größten Nationalökonomen der damaligen Sowjetunion. Allerdings fügte er einschränkend hinzu, daß Bucharin kein Bolschewik sei und kaum als Marxist anerkannt werden könne. Trotzdem empfahl er, das Talent und Wissen Bucharins nutzbar zu machen. Bucharin nun hatte erklärt, daß die marxistische Theorie, wonach' der Kapitalismus durch die Herrschaft des Finanzkapitals upd des Imperialismus in sein letztes geschichtliches Stadium getreten sei, als durch die Entwicklung widerlegt erscheint. Nach seiner Auffassung komme jetzt das Stadium eines „organisierten Kapitalismus“. Die Periode chaotischen Vorgehens, ungeregelter Marktwirtschaft, tiefer Klassengegensätze sei vorüber. Der organisierte Kapitalismus sei durchaus fähig, für eine sehr lange Geschichtsperiode Krisen auszuschließen und die soziale Frage für sehr lange Zeit zu lösen. Bucharin stellte also, obwohl er Präsident der Komintern war, eine pessimistische Prognose für die Weltrevolution und bekämpfte darum die Politik Stalins, vor allem die Kollektivierung der Landwirtschaft und die allzu rasche Industrialisierung. Er sah in dieser Politik den schließlichen Untergang des Sowjetsystems. Der zweite Teil seiner Prognose hat sich allerdings nicht bewahrheitet. Es sieht jedoch so aus, daß man in Moskau seine Theorie vom organisierten Kapitalismus heute mehr oder weniger für richtig hält. Chruschtschow spricht denn auch nie von einer Weltrevolution, auch nicht von sozialen Revolutionen in Europa oder Amerika. ,Statt dessen taucht immer mehr in seinen Reden die Theorie des Vorbildes der Sowjetunion und des kommunistischen Weltsystems auf. Nach seiner Meinung ist es vor allem notwendig, das kommunistische Wirtschaftssystem unter Beweis zu stellen, den Lebensstandard der USA einzuholen, dann später das Leben in der Sowjetunion noch anziehender zu gestalten, so daß die Enkel der heute Lebenden sozusagen freiwillig, friedlich und reibungslos sich zum kommunistischen Wirtschaftssystem bekehren werden. Es ist sehr deutlich, daß diese Reden Chruschtschows in wesentlichem Widerspruch zu den Theorien Lenins stehen.

Ist unsere Vermutung richtig, daß sich die weltrevolutionäre Theorie Moskaus gewandelt hat, dann hat die Weltmacht Rußland, vertreten durch die Person Chruschtschows, eine noch elastischere Grundlage für die Verhandlungen mit den USA.

In der westlichen Welt sind Befürchtungen im Umlauf, daß, wenn die beiden Mächte, Sowjetunion und USA, die Welt in zwei Interessenteile trennen, alle Mittel- und Kleinstaaten sozusagen „verkauft“ sein werden. Wie in Moskau so auch in Washington tritt man dieser Meinung entgegen und behauptet, die kommenden Gespräche nur auf die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zu beschränken. Es ist reichlich naiv, anzunehmen, daß der Kreml mit seiner Unterschrift dem Weißen Haus die gesamte nichtkommunistische Welt ausliefert. Wie die alte zaristische Politik, so vyird auch die neue sowjetische nie auf die Möglichkeit verzichten, eine Macht gegen die anderen auszuspielen. Der Lehrsatz Lenins über die Ausnützung der Gegensätze in der kapitalistischen Welt gilt auch heute noch. Man kann sicher sein, daß, selbst wenn es zu einer Einigung in Washington kommt, die Sowjets auf Grund der neuen Lage mit jeder Macht versuchen werden, in bilaterale Verhandlungen einzutreten. Etwas anderes allerdings ist unvermeidlich. Sollte es zu einer weitgehenden Entspannung kommen, dann wird Washington, vor allem die amerikanische Wirtschaft, nicht mehr so stark auf seine heutigen Bundesgenossen angewiesen sein. Vor allem die amerikanische Wirtschaft wird keine Rücksichten Europa gegenüber nehmen müssen. Das zukünftige großartige Investierungsgebiet wäre dann Afrika. Die Verständigung zwischen den beiden Weltmächten könnte das amerikanische Kapital nach Afrika ziehen, wo Rohstoffquellen und neue Absatzmärkte locken. Das würde politisch und wirtschaftlich vor allem auf Kosten Frankreichs gehen, und die Reserve in Paris ist daher verständlich. Wenn auch die Zielsetzung eine andere ist, so berühren sich doch der sowjetische und amerikanische Antikolonialismus in wesentlichen Punkten.

Vorläufig ist es noch nicht so weit. Die Reise Chruschtschows ist erst ein Auftakt. Sie kann eine weltgeschichtliche Wende herbeiführen, doch die Fülle der kleineren Probleme kann auch diese Aktion wieder versanden lassen.

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