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Die große Chance

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Das Jahr 1957 stand in wirtschaftspolitischer Beziehung eindeutig unter dem Aspekt der europäischen Integration. Was gegen Ende des Vorjahres noch als ein mit größer Skepsis betrachteter Versuch angesehen wurde, hat während dieses Jahres bereits konkrete Formen angenommen. Die erste Ministerkonferenz in Paris in diesem Jahre, am 12. Februar, brachte den ersten grundsätzlichen Beschluß über die Schaffung einer dem Gemeinsamen Markt der sechs Montanunionländer zu assoziierenden wirtschaftlichen Organisation der übrigen elf OEEC-Staaten. Von diesem Tage an mußte es jedem für die Wirtschaft Verantwortlichen klar sein, daß der Gemeinsame Markt und das, was Irian Freihandelszone nennt, eine Realität werden wird. Damit ist erstmalig in der europäischen Geschichte ein gemeinsames Werk der freien europäischen Völker im Werden, das natürlich die einzelnen autonomen nationalen Volkswirtschaften weitgehend beeinflussen muß und dessen Aspekte von weittragender Bedeutung sein werden.

Zunächst sei die Frage gestellt, wieso es zu dieser erfreulichen Kooperation überhaupt kommen konnte, sind doch alle bisherigen Bemühungen, die europäischen Staaten zu einer engeren Zusammenarbeit zu führen, fast immer gescheitert. Wir erinnern uns noch der Paneuropabewegung des Grafen Coudenhove-Kalergi und anderer Ideen, die aus dem vielgestaltigen Europa einen einheitlichen Block zu machen versuchten. Alles das mißlang und gehört der Vergangenheit an. Wieso konnte nun die wir t- schaftliche Integration so reale Formen annehmen? Die Antwort ist vielleicht die, daß der Erfolg deshalb zu erreichen war, weil der Plan einer wirtschaftlichen Kooperation die politischen Aspekte außer Betracht läßt, während Paneuropa zuvorderst als politische Gemeinschaft gedacht war. Sicherlich sind die Verträge über die Montanunion und den Gemeinsamen Markt unter politischem Druck, nämlich dem der Kräftesammlung zur gemeinsamen Abwehr, zustande gekommen. Der Inhalt der Verträge aber ist wirtschaftlicher Natur und sichert den Staaten und Völkern eine langanhaltende wirtschaftliche Prosperität. Die Freihandelszone wird nicht unter politischem Druck zustande kommen, sondern ausschließlich das Ergebnis wirtschaftspolitischer Ueberlegungen, vielleicht auch wirtschaftlich zwingender Notwendigkeiten sein.

Das Wirksamwerden des Gemeinsamen Marktes würde, wie es nun schon bei der Montanunion droht, zu einer Diskriminierung der nicht am Gemeinsamen Markt beteiligten übrigen elf OEEC-Staaten führen: würde man also zum Gemeinsamen,Markt keine parallele Organisation schaffen, die gemeinsam alle 17 OEEC- Staaten umfaßt, so wäre die wirtschaftliche Zweiteilung Europas eine unvermeidbare Folge. Unter diesem Druck wird es also — ganz abgesehen von allen anderen Erwägungen — zur Freihandelszone kommen.

Wenn es sich also bei diesen Integrationsmaßnahmen um rein wirtschaftliche Relationen handelt, so beantwortet sich damit auch die wiederholt gestellte, überflüssige Frage, ob Oesterreich unter Berücksichtigung seiner Neutralität an solchen Konstruktionen teilnehmen dürfe. Die österreichische Neutralität ist eine staatspolitische und militärische; sie ist die wesentlichste Grundlage für die Souveränität dieses Landes überhaupt. Damit ein Staat aber souverän bleiben kann, bedarf er unter anderem auch einer entsprechenden wirtschaftlichen Prosperität. Ohne gesunde wirtschaftliche Grundlage läßt sich heute die Souveränität eines Staates nur schwer aufrechterhalten. Nun wird die Freihandelszone, wie immer sie konstruiert sein mag, künftig eine der wichtigsten Grundlagen für die wirtschaftliche Wohlfahrt in Oesterreich sein. So gesehen, stützt also die Beteiligung Oesterreichs an der Freihandelszone seine Souveränität und damit auch seine Neutralität.

Die zweite Frage, die sich aufdrängt, ist natürlich die nach den unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen, die sich für Oesterreich aus der Teilnahme am größeren Markt ergeben werden. In umfassender Weise werden die

Liebergangsschwierigkeiten, denen sich Oesterreich gegenübersehen wird, immer wieder und eingehend erörtert. Die Bundesregierung selbst hat in ihrem den OEEC-Regierungen übermittelten Memorandum vom 15. Mai 1957 auf diese Schwierigkeiten eindeutig aufmerksam gemacht. Diese Schwierigkeiten dürfen daher als bekannt vorausgesetzt werden. Stellt man sich aber die Frage, wie sie bestmöglich überwunden werden sollen, so gibt es darauf nur eine eindeutige Antwort: Alle wirtschaftspolitischen positiven Kräfte sind in diesen Jahren ausschließlich in Richtung auf die Freihandelszone einzusetzen. Das heißt, wir dürfen, um die notwendigen Investitionen in unseren Produktionsstätten durchführen zu können, die vorhandenen und erreichbaren Kapitalien ausschließlich im Hinblick auf den größeren Markt einsetzen. Wir dürfen in der Sozialgesetzgebung den Durchschnittsstandard der europäischen Staaten nicht wesentlich übertreffen, weil wir sonst das auf den kommenden freien Märkten abzusetzende Produkt zu sehr belasten und damit konkurrenzunfähig machen würden. Damit aber würden die bestehenden sozialen Errungenschaften der Arbeitnehmer gefährdet. Wir ipüssen ferner für ein wirtschaftspolitisches Gleichgewicht im Lande selbst in der Richtung vorsorgen, daß wir den einzelnen Wirtschaftszweigen eine möglichst gleiche Basis einräumen, das heißt, daß die Fragen der Besteuerung, aber vor allem die Fragen der subventionierten Preise einer strengen Prüfung zu unterziehen sind. Schließlich aber müssen wir nach wie vor Disziplin bei Löhnen und Preisen halfen, so wie wir dies vor allem im ablaufenden Jahr 1957 schon mit viel Erfolg getan haben. Die weitere Aufrechterhaltung dieser Disziplin wird die beste Stütze für die Währung sein, und eine sichere Währung ist wiederum die beste Voraussetzung für das Bestehen im größeren Markt.

Die dritte Frage, die sich uns bei den europäischen Integrationsproblemen stellt, ist die, wie sich das Verhältnis eines integrierten Europas zum Osten entwickeln wird. Auch hier gibt es eine eindeutige Antwort. Die Wirtschaft der Sowjetunion und die Wirtschaften seiner Satellitenstaaten haben bereits ein weitgehendes Ausmaß von Integration erreicht. Nicht so, wie wir uns eine wirtschaftliche Integration vorstellen, als eine freiwillige Zusammenarbeit aller freien wirtschaftlichen Kräfte. Der Osten hat seine Wirtschaften entsprechend seiner sonstigen Lebensauffassung durch Zwang integriert. Das Ergebnis dieser ostischen Integration darf aber nicht unterschätzt werden. Es gibt im Osten praktisch keinen Kapitalmangel, weil die Finanzierungsmethoden ja gänzlich anders sind als in der freien Welt. Die Arbeitskräfte im Osten sind, insbesondere unter Einrechnung der Millionen Zwangsarbeitsheere, bedeutend billiger als im Westen, und schließlich macht sich eine immer mehr ausreifende Arbeitsteilung bemerkbar, die natürlich geeignet ist, die Produktion zu heben und gleichzeitig die Kosten weiter zu vermindern. Daß trotz dieser Voraussetzungen das Nationalprodukt in den kommunistischen Staaten hinter den vergleichbaren der freien Demokratien liegt, weil das Fehlen der Privatinitiative und des Privateigentums sich naturgemäß als produktionshemmend im größten Umfange erweist, das ist die Chance, die den westlichen Wirtschaften gegeben ist, die östlichen immer wieder zu überflügeln. Trotzdem aber möge niemand das Wirtschaftspotential des Ostens unterschätzen.

Wenn man nun die oben gestellte Frage nach dem künftigen Verhältnis der Wirtschaften des Ostens und des integrierten Westens beantworten will, so läßt sich gegenwärtig vielleicht sagen, daß durch die Integration der freien europäischen Volkswirtschaften diesen alle Chancen geboten sind, im wirtschaftlichen Wettkampf mit dem Osten auch in Zukunft überlegen zu bleiben. Darin aber liegt die große weltpolitische Bedeutung des bereits gültigen Vertrages über den Gemeinsamen Markt und des kommenden Vertrages über die Freihandelszone; sie sind unabdingbare Voraussetzungen für die Freiheit der freien europäischen Völker!

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