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Die große Wende

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Am 15. Dezember hat das österreichische Parlament das Familienlastenausgleichsgesetz beschlossen. Diese Beschlußfassung erfolgte mit allen Zeichen eines großen parlamentarischen Ereignisses. Mit Recht wur-ie dieses Gesetz als das bedeutungsvollste ¿’eses Jahres bezeichnet und darauf hin- gewiesm, daß kein Gesetz des Nachkriegs- Oesf-treich so gründlich durchdiskutiert wurde wjj dieses. Selten noch hat ein Gesetz mit Anem gesellschaftspolitischen Anliegen eine so gemeinsame Zustimmung beider Regierungsparteien gefunden.

Um der Bedeutung dieses Gesetzes aber wirklich gerecht zu werden und seine Vor- und Nachteile in einer Weise zu würdigen, die für die weiteren Schritte bis zum vollen Ausgleich der Familienlasten fruchtbar ist, bedarf es einer Stellungnahme von höherer Warte. Die Begeisterung der verschiedenen im österreichischen Parlament vertretenen weltanschaulichen Gruppen ist sehr verschiedenen Alters. Während für die Gesellschaftslehre, die auf dem christlich-traditionellen Naturrecht fußt, die Familie schon lange im Zentrum der Betrachtung stand, hatte sie im Individualismus wie im Kollektivismus keinen Platz finden können. Man braucht nur den betreffenden Abschnitt des Kommunistischen Manifestes zu lesen, um zu sehen, wie wenig Marx und Engels mit der „bürgerlichen“ Familie anzufangen wußten. Daß die alle Stände durchziehende Familie mit klassenkämpferischen Theorien nicht zu fassen ist, kann auch nicht wundernehmen. Aber sogar Karl Renner hält noch bis in die jüngste Gegenwart an der Ablehnung einer der wesentlichsten Ergebnisse der modernen Anthropologie, etwa der heute weltberühmten Wiener Ethnologischen Schule, ohne sich mit ihr auch nur im geringsten auseinanderzusetzen, fest und meint wörtlich: „Falsch ist also die Vorstellung, daß in irgendeiner Weise das, was wir Familie nennen, die Keimzelle von Gesellschaft und Staat sei1.“ Vor 20 Jahren noch konnte sich Johannes Meßner mit Recht darüber beklagen, daß sich seit Jahren im Sozialismus selbst wohl die Stimmen gemehrt haben, welche für die Wahre Stellung der Familie in der Gesellschaft Verständnis wecken wollen, die Haltung der Sozialistischen Partei jedoch nicht zeige, daß sie Erfolg haben2.

Erst im Lichte dieser Tatsachen kann die Bedeutung des Gesinnungswandels beurteilt werden, der sich in den Reihen der Sozialisten vollzogen hat. Ohne die Zahl der sich um die Familie ernstlich bemühenden Sozialisten unterschätzen zu wollen, erscheint es dennoch fraglich, ob dieser Gesinnungswandel ohne einen solchen Druck der öffentlichen Meinung möglich gewesen wäre, wie er diesem Gesetz Pate gestanden ist. Noch klingt der geradezu ungeheuerliche Satz keines Geringeren als des sonst sehr einflußreichen Chefredakteurs des Zentralorgans dieser Partei in den Ohren, der

1 Mensch und Gesellschaft, Grundriß einer Soziologie, Wien 1952.

2 Die, soziale: Frage der Gegenwart, Wien-lnns- brück-München 1934.

in der von den meisten Kulturstaaten verfolgten Familienpolitik nur „eine Prämie für die gehorsamen Lieferanten der billigsten und gefügigsten Arbeitskräfte und die armseligsten, die schlechtesten Väter im Rausch gezeugter Kinder“ sieht und der sich später sogar nochmals veranlaßt sah, diese seine Meinung neuerlich an derselben Stelle „auch entgegen manchem mißverständlichen Wort, das aus den sozialistischen Reihen kommt“, auszusprechen3.

Man muß sich aber auch davor hüten, die Leistung der familienfreundlichen Volksvertreter innerhalb des Lagers der anderen Regierungspartei gering zu achten, wenngleich diese mit Recht das Verdienst beanspruchen darf, mit ihrer Initiative dem Gesetz den Weg ins Parlament geöffnet zu haben. Die typisch individualistische Meinung derer, die die „Haltung“ von Autos, Hunden und Kindern als Privatsache gleichgestellt sehen wollen, an die man erst nach pünktlicher Bezahlung seiner Steuern eventuell denken dürfte, ist leider auch in diesem Kreise noch lange nicht überwunden, wenn ihre Zahl auch unaufhaltsam dahinschwindet. Die klaffenden Lücken in den Bänken der Abgeordneten gerade dieser Partei während der Würdigung des ersten Schrittes zur Verwirklichung eines der zukunftweisenden Punkte ihres Programmes zeigt, daß sich manches Mitglied des Hohen Hauses der Bedeutung dieser Stunde nicht bewußt war.

Die Beschließung des Familienlastenaus-

3 Leitartikel der „Arbeiter-Zeitung“ vom 1. November 1953 und vom 9. Mai 1954.

gleichsgesetzes darf sicherlich alle Pioniere des Familiengedankens in Politik, Steuerwesen, Seelsorge (Oesterreichischer Katholikentag 1952!), Publizistik usw., insbesondere die katholische Presse und darunter nicht zuletzt die „Oesterreichische Furche“ mit Genugtuung erfüllen, die sich für den Durchbruch dieser Idee eingesetzt und dafür lange Zeit hindurch mehr Schwierigkeiten als Dank geerntet haben. Damit hat sich ein völlig neuer Faktor in der Maschinerie der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung als wirksam erwiesen, der sich in keine herkömmliche Schablone üblicher „Interessenvertretungen" einordnen läßt: die österreichische Familienbewegung. Diese innerhalb kurzer Zeit erfolgte Wende im familienpolitischen Denken auch der breitesten Oeffentlichkeit beweist die erstaunliche Dynamik ihrer Motive, was um so mehr überraschen könnte, als selbst die ältere der beiden Familienorganisationen, der Oesterreichische Familienbund, erst vor drei Jahren gegründet wurde. Der Katholische Familienverband Oesterreichs ist sogar erst vor etwa Jahresfrist gegründet worden. Das ebenso junge Institut für Sozialpolitik und Sozialreform, das gerade im Laufe der familienpolitischen Diskussionen mit seiner ersten systematischen Arbeit vor die Oeffentlichkeit getreten ist, dürfte bewiesen haben, daß auch die Wissenschaft den Volksvertretern ihre Aufgabe wesentlich erleichtern kann, wenn sie sich nur mit gesellschaftspolitisch aktuellen Fragen konkret und prompt befaßt.

Der von den Vertretern beider Koalitionspartner vorgelegte Motivenbericht zum Gesetzesantrag läßt auf die erfreuliche Tatsache schließen, daß den darin vorgesehenen familienpolitischen Maßnahmen, insbesondere dem notwendigen Zusammenwirken von Familienbeihilfen und Steuergerechtigkeit, endlich ein in sich geschlossenes Konzept zugrunde gelegt wurde.

Das gleichzeitig beschlossene Verfassungsgesetz weist die im Familienlastenausgleichsgesetz vorgesehenen Maßnahmen in Gesetzgebung und Vollziehung dem Bunde zu. Auch damit wurde einer Forderung aller Fachleute entsprochen, für die sich auch die

„Oesterreichische Furche“ erfolgreich eingesetzt hatte.

Gegenüber der großen Bedeutung der offiziellen Anerkennung der Notwendigkeit des Ausgleiches der Familienlasten durch den österreichischen Gesetzgeber treten die Schönheitsfehler, die dem Gesetz immer noch anhaften, etwas zurück. Ein solcher Schönheitsfehler ist sicherlich die Tatsache, daß der Lastenausgleich nicht in einem einzigen Gesetz zusammengefaßt wurde, der das bisherige Kinderbeihilfengesetz in sich aufgenommen hätte, weiter die unterschiedliche Altersgrenze.für-die Gewährung der Beihilfe usw. Es ist auch unverständlich, warum „es dem Sinn des Familienlastenausgleichs nicht entspricht, im Ausland lebende Personen in die geplanten Maßnahmen zur Familienförderung einzubeziehen". — Mehr als ein Schönheitsfehler ist die Unterlassung der Einbeziehung des ersten Kindes der Selbständigen, wenn auch im Motivenbericht ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, daß dafür nur budgetäre Gründe, also keine prinzipiellen, maßgeblich waren. — Auch der Ausdruck „Familienförderung“ ist so lange fehl am Platz, solange der Familie nicht mehr als der gerechte Ausgleich ihrer Lasten gewährt wird — und davon sind wir noch weit entfernt! Trotz des neuen Wortlautes der Oesterreichischen Bundesverfassung ist die teilweise Beseitigung des der Familie zugefügten ein Buch von F. L. Allen, zeigt im Scheinwerferlicht neuer Erkenntnisse das heutige Amerika, das für die Welt, selbst für die Amerikaner, einer Neuentdeckung gleichkommt. 236 Seiten. S 29.—

Unrechtes genau sowenig oder soviel Bevölkerungspolitik wie die Gewährung etwa eines gerechten Lohnes, auch wenn die bevölkerungspolitischen Auswirkungen weder aus- bleiben werden noch unerwünscht sind. Der Ausgleich der Familienlasten ist nicht nur eine gesellschaftliche Existenznotwendigkeit, sondern vor allem eine Forderung der sozialen Gerechtigkeit. Der erste Schritt dazu ist — alles in allem - zweifellos ein guter Schritt. Mögen die weiteren Schritte im Sinne des in dem von beiden Regierungsparteien vorgelegten Motivenbericht zum Ausdruck gebrachten Konzeptes erfolgen!

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