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Die heilsame Unruhe der Spanier

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Vor einiger Zeit war in Pamplona, der San Fermin geweihten KönigSstadt zwischen den Ausläufern der Pyrenäen, ein schönes, neues Stadthaus eingeweiht worden. Aber die Bürger der Stadt Schauten nicht schlecht, als sie herausfanden, daß die große Freitreppe und das Hauptportal nur dem Bürgermeister und den Stadträten zur Benützung freigegeben waren, während das Publikum eine besondere, stark nach Dienstbotenaufgang aussehende Tür und Treppe benutzen sollte. Wenige Tage darauf machte im „Pensamicnto NaVarro“ der energische, ironische Protest eines jurigen Studienrates den Stadtvätern klar: Wenn jemand den „Dienstbotenaüf- gang“ ihr Stadthaus ztl benutzen habe, dann seien es die Diener der Gemeinde, während den Bürgern der Haupteingang gebühre. Das Erstaunlichste daran war, daß Tags darauf Haupteingang und Freitreppe dem Publikum freigegeben würden …

Man mag an dieser Episode sehen, daß das spanische Volk zuweilen ein recht sprödes Rohmaterial für autoritäre Regimes sein kann, auch in jenen Epochen seiner Geschichte, in denen es am rettungslosesten der Staatsgewalt ausgeliefert zu sein scheint. Eine dieser Perioden scheint jetzt zu Ende zu gehen, nachdem Ansätze hierzu schon seit etwa zwei Jahren beobachtet -werden können. Wenn die Regierung in diesen Jahren Schritt für Schritt von bestimmten Programmpunkten zurückgewichen ist, so war das nur das organische Resultat jenes Funkens von

Unruhe, der manchmal, wie von einem Windhauch berührt, im Schoß dieses Volkes aufglüht.

„Inquietud“ — Unruhe, Ünrast — ist zu dem neuen Modewort in den innerstaatlichen Gesprächen Spaniens geworden. Und es ist seltsam, wie es dazu kommen konnte, nachdem vor gar nicht einmal tätiget Zeit das Gegenteil, „tranquilidad“, die Losung war, die man dem Volke nach außen hin aufstülpen und im Innern suggerieren mußte. Wir selbst gaben diesem Zustand einmal den Namen „Kirchhofsfrieden“, und ein andermal hörten wir besorgt das gefährliche Gären uhd Brodelri unter der scheinbar glatten Oberfläche.

Das wat ein krankhafter Zustand. Trotzdem bleibt es erstaunlich, wie unbekümmert nun die wieder zu Ehren gekommene „Unruhe“ bewußt ins Volk getragen wird. Sind die bestimmenden politischen Kräfte sich irtnegeworden, daß ein Regiercri und Disponieren ohne das Volk, über das Volk hinweg, kein richtiges Regieren ist? Daß man es braucht im Ausbalancieteri der Kräfte, im Gestalten von Politik?

Ungewöhnlich war das Experiment, das kirchliche Kreise mit tätiger Mitarbeit der Behörden im vergangenen November in Biskaya durchführten. Im Anschluß an eine 14täglge Mission war eine achttägige „Soziale Nachmission“ organisiert worden. Acht Tage später brach dort Streik aüs — worauf allerdings ebenso prompt die brutale Antwort dėr öffentlichen Gewalt erfolgte. Aber dieser ernüchternde Rückfall in die Gewohnheitssünde der autoritären Exekutivgewalt war verständlich, denn in der Druckerei des Staatsbulletins standen die Dekrete der ersten Lohnreformen schon im Satz, die ab 1. Jänner für die Angehörigen mehrerer Industrien und Gewerkszweige Aufbesserungen zwischen 25 und 40 Prozent gewähren. Da auch diese Lohnerhöhungen trotz ihrer Ansehnlichkeit zum Teil noch nicht an das lebensnotwendige Minimum herankommen, fordert jetzt auch schon ejn Gouverneur, der von Murcia — und nicht mehr nur ein bekümmerter Bischof —, die Arbeitgeber seiner Provinz auf, von sich aus die notwendigen Verbesserungen in der Entlohnung der Arbeit vorzunehmen.

Freilich, daß diese Reformen trotz der wiederholt von Handelsminister Arburüa ausgesprochenen Tarnungen Und Absagen durchgedrückt und weitere empfohlen wurden, legt die Befürchtung nahe, daß sie nichts anderes sind als eine erste arbeitspolitische Auffangstellung für die im Gefolge der spanisch-amerikanischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit erwartete Inflation.

Es bleibt aber die Tatsache, daß die Dinge im Lohnsektör überhaupt erst einmal ihs Rollen gekommen sind. Die wieder zu Ehren gelangte „inquietud“ des spanischen Volkes wird vielleicht auch das übrige noch zu erreichen imstande Sein, und diese Möglichkeit fürchtet man schon jetzt in Kreisen der Hochfinanz und des Unternehmertums, wie aus den Kommentaren verschiedener Wirt- schäftsblätter hervorgeht.

Aber die Unruhe geht noch weiter. Seit längerer Zeit schon greifen einige namhafte Zeitungen der Initiative des Staates voraus und bringen in Anwendung der so oft geforderten und nie offiziell wiederhergestellten Pressefreiheit Themen zur Sprache, die vor der Oeffentlichkeit der gesamten Nation zu diskutieren man bisher für unter der souveränen Würde des Staates und seiner Ausführungsorgane gehalten hat. Die Mitte November von „ABC“ begonnene und bis Weihnachten mit beinahe täglichen ganzseitigen Artikeln und Rundfragen durchgeführte Diskussion um die „juridische Kapazität der spanischen Frau“ gehört dazu. Wann hätte sich je unter Franco eine Führungsschicht der Nation soweit „vergessen“, vor aller Oeffentlichkeit ihre Meinungsverschiedenheiten um bestehende Gesfetze auszutragen? Rechtslehrer der Universitäten, Prokuratoren der „Cortes“, der Exminister Serrano Sunner, auch er Cortesabgeordneter, exponieren ihre Kriterien und rufen damit eine wirklich vom Volk ausgehende Beeinflussung des Gesetzgebers hervor.

Audi auf politischem Gebiet hat sich ein erstes Abweichen von der starr autoritären Linie bemerkbar gemacht. Die spanischen Ausländskorrespondenten haben neuerdings die Möglichkeit, auf dem Weg über ihre Chroniken in den Lesern Sympathien für oder Antipathien gegen eine bestimmte Politik und Regierungsform zu wecken. Dabei entstehen die verblüffendsten Widersprüche, und das zwischen Journalisten, die schließlich von ein und derselben Partei geschult und gefördert und von der Regierung bestätigt würden. So betreibt zwar der Amerikakorrespondent einer Blättergruppe eine wüste McCarthy-Propaganda, und sieht für die Vereinigten Staaten die einzige Rettung im Erfolg dieses „katholischen“ Senators und seiner Methoden, und in der Liquidierung der Demokratie, die „immer nur Vorläuferin des Kommunismus sein kann“. Der Korrespondent einer anderen Zeitungskette aber verdammt McCarthy und bangt für die amerikanische Demokratie. Im angesehenen Madrider „ABC“ bringt es der Amerikakorrespondent J. M. Massip in seinen klugen, wohlabgewogenen Interpretationen des Lebens und der Politik der Vereinigten Staaten sogar fertig, die Verdienste des in Spanien so verpönten Expräsidenten Trunian in ehrlicher Bewunderung zu würdigen. Aber auf der nächsten Seite des „ABC“ steht die Chronik des Italienkorrespondenten J. Cortes Cavanillas, dessen Berichte ganz unverkennbar von neofaschistischen und M. S. L- Kreisen inspiriert sind: Demokratie, De- gasperi und Democristiani bekommen bei jeder Gelegenheit ihre Fliehe ab. Im selben Blatt stehen die maliziösen antidemokratischen Glossen des Conde de Foxa, während als journalistischer JPalladin der Vereinigung Europas Franz von Papen zeichnet…

In der Berichterstattung über rein spanische Belange ist gleichfalls ein Abweichen von der „Linie“ festzustellen. Es wird wieder kritisiert, und zwar ist die Kritik eine retrospektive: sie setzt in dem Moment ein, da die Regierung schon eine Reform eingeleitet oder angekündigt hat.

Auch das führt zu reizvollen Situationen, wenn nämlich die Presse in einer Schärfe und Schonungslosigkeit Mißstände auf Gebieten bloßlegt, die früher womöglich Gegenstand der nationalen Propaganda waren. So geschieht es im Schul- und Unterrichtswesen, im Postwesen, in sozialen Fragen. Das Analphabetentum wird nicht mehr nur still und verschämt bekämpft, sondern laut als nationale Schande gebrandmarkt; das Elend der Vorstädte Madrids (der vierte Teil der Bevölkerung wohnt in ihnen) wurde zu Weihnachten in seitenlangen Leitartikeln in zum Teil merkwürdig gut gelungener „marxistischer“ Diktion und mit schonungsloser Bebilderung angeklagt..,., während vor drei Jahren noch ausländische Journalisten, die Szenen in den Elendsvierteln photographiert hatten, verhaftet wurden und ihre Filme auf der Polizei lassen mußten.

Die Spanier haben Mut zur Wahrheit bekommen und es sieht so aus, als ob sie ganz ohne falsche patriotische Etnpfindlichkeit mit den Unzulänglichkeiten, die ihnen wie Klumpen an den Füßen hängen, mit ihrem Rückstand gründlich aufräumen wollten, fein Volk bereitet sich für den Eintritt in einen neuen Abschnitt seiner Geschichte vor — mit einem solchen verglichen General Franco und sein Außenminister vor den Cortes das spanisch-amerikanische Bündnisabkommen — und unterwirft sich, seine Lebensart, seine Einstellung zur Umwelt einer gründlichen Revision.

Es ist etwas Herzerfrischendes, die vielen praktischen Vorschläge, Untersuchungen und Studien der Zeitungen zu verfolgen; im Wohnungsbau, im Straßenbau, in der Aufforstung, zugunsten der Verkehrsdisziplin, zugunsten der Normalisierung der „verschobenen Tageseinteilung“, die einen rationellen Ablauf des Arbeitslebens praktisch unmöglich macht (spätes Aufstehen, Familien- und Gesellschaftsleben bis Mitternacht), im Kampff gegen sinnlose, sterile Scheinarbeiten (wie z. B. jener kuriosen „Wagenschlagöffner“ der Hauptstadt, die mit dieser horrend nützlichen „Arbeit“ ihre Familien ernähren wollen!). Das ist nicht mehr der aufgeblasene Exhibitionismus der Propaganda in leeren Versprechungen, das sind Forderungen, präzise Vorschläge, zu denen die Regierung über kurz oder läng wird Stellung nehmen müssen — aber nicht mehr mit Propaganda, sondern mit Taten.

Das sind Anzeichen eines wiedererwachten kollektiven Gewissens der Nation gegenüber den Notwendigkeiten und unausgenützten Werten des eigenen Landes. Die „bleierne Lethargie“ des spanischen Volkes, die Serrano Suner einst beklagte, schmilzt rapide dahin. Wird die Flamme weiter leuchten, wärmen, klären — oder wird sie wieder verlöschen?

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