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Die Hüter des Rechts

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Wir sind heute wieder auf dem besten Wege, die Wahrheit der christlichen Rechtsphilosophie anzuerkennen. Immer mehr ringt sich die Erkenntnis durch, daß das Recht nicht ein Geschenk des Staates ist, das dieser seinen Bürgern bereitet, sondern ein Ausschnitt jener göttlichen Weltordnung, nach der sich auch die Gestirne durch den Weltraum bewegen, und daß es auch mehr als eine bloße Voraussetzung des Zusammenlebens von Menschen bedeutet, nämlich ein Stück unseres eigenen Wesens, das gleich der Sittlichkeit oder der Freiheit erst unser volles Menschentum ausmacht. Darum begreifen wir das Unrecht nicht nur als eine Verletzung unserer Lebensform, sondern auch unserer Persönlichkeit, nicht nur als eine Verneinung der gültigen Ordnung, sondern unseres Ichs schlechthin. Wem Unrecht angetan oder Recht verweigert wird, dem kommt es zu Bewußtsein, daß nicht nur Vorteile und Vermögenswerte auf dem Spiel stehen, sondern ein Angriff gegen sein Wesen selbst geführt wird. So findet die Lehre vom Recht, das mit uns geboren ist, ihre Bestätigung tausendfach in den per-sönlidien Erfahrungen des Alltags. Welche Folgerungen wollen wir nun aus dieser Erkenntnis für das praktische Leben ziehen?

Wenn das Recht nur der Wille der Staatsgewalt sein soll, dann ist der Richter, der dieses Recht zu wahren hat, auch nur ein Werkzeug, dessen sich die an der Macht befindlichen politischen Kräfte bedienen, um ihre Absichten, die im Gesetz sichtbaren Ausdruck erlangt haben, in die Tat umzusetzen. Wenn aber das Recht kn Letzten göttlichen Ursprungs ist, dann muß es auch Richter geben, die es unabhängig von der Staatsgewalt zu hüten und gegebenenfalls vielleicht auch gegen diese zu verteidigen haben.

Die Unabhängigkeit des Richters, sein Schicksal im neuen Österreich und die Bedeutung seines Standes waren der Gegenstand des in der zweiten Oktoberwoche in Wien abgehaltenen Richtercages. Aus den Reden und Resolutionen dieser Tagung klang immer wieder der Wunsch und die

Forderung auf, durch einen gewissenhaften Richterstand das Recht, das in den vergangenen Tagen auf unserem Boden so tief gekränkt wurde und noch heute im abendländischen Kulturkreis von einer Fieberkrise zur anderen taumelt, auf jene feste Grundlage zu stellen, die allein seine dauernde und sichere Herrschaft gewährleistet. Man wird vielleicht schon jetzt entgegnen wollen: Wir haben in Österreich die Gerichtsbarkeit von der Verwaltung getrennt, die Stellung der Richter verfassungsmäßig garantiert und jedermann die Möglichkeit gegeben, bei Gericht sein Recht zu suchen. Was noch mehr? Aber es kommt nicht nur darauf an, daß etwas ist, sondern auch, wie es ist. Mögen Menschenrechte, Freiheit, Eigentum, Toleranz und dergleichen noch so sehr verbrieft sein, wenn sich niemand findet, über sie zu wachen, so werden sie wertlos und zum Gespött. Damit kommen wir auf den Grund des Problems, dem die große Sorge der Richtertagung galt. Wir haben zwar unser Recht kodifiziert; doch sind die Berufenen auch in der Lage, ihm so männlich, so treu, so geisterfüllt zu dienen, wie es die Größe der Sache erfordert?

Diese Frage ist zu einer Zeit, in der jährlich die Entscheidungen der Gerichte in die Hunderttausende gehen, eine Angelegenheit des ganzen Volkes geworden. Es ist ein gutes Recht dieser Hunderttausende, daß vor Gericht ihre Sache — bei den meisten zugleich ihr Lebensschicksal — in die Hände der Besten und Befähigtesten gelegt werde. Es ist in gleicher Weise ihr gutes Recht, daß die Sicherheit des Rechtsschutzes in voller Öffentlichkeit behandelt wird.

Man kann einige Worte ernster Besorgnis nicht vorenthalten. Es ist längst kein Geheimnis mehr, daß es in unseren Gefängnissen zahlreiche Menschen gibt, die schon viele Monate, ja sogar Jahre auf ihre Gerichtsverhandlung warten müssen, und daß es zahlreiche Menschen gab, die erst nach endloser Untersuchungshaft als schuldlos freigesprochen wurden. Wer soll dafür die Schuld tragen? Ist es die Überlastung, der Mangel an Personal, der schleppende Gang der Strafrechtspflege — oder liegen die Ursachen außerhalb des Richteramtes, etwa an einer zu geringen Bereitwilligkeit der Verwaltung, Entscheidungen zu treffen, die möglicherweise irgendwo einer Kritik zum Fenster hinaus unterzogen werden? Es scheint, daß nicht immer das Recht den Ausschlag gibt, sondern politische Rücksichtnahme und Scheu vor der notwendigen persönlichen Verantwortung.

Es geschieht, daß die zur Abkürzung der Untersuchungshaft gesetzlich vorgeschriebenen Fristen unbeachtet bleiben, selbst Anträge der Staatsanwaltschaft die Abkürzung der Haft nicht zu erreichen vermögen, Akten monatelang bei Verwaltungsstellen unerledigt versanden und Menschen vor Gericht gezogen werden, an deren Unschuld vom Anfang an nicht zu zweifeln war. Im Recht finden wir die Grundlage 3er staatlichen Gemeinschaft. Wenn der Staat vom Recht abweicht, untergräbt er damit sein eigenes Gefüge, er entzieht seiner Macht, dem Imperium, die Rechtfertigung und bereitet jenen Zustand der Gewalt vor, der nach geschichtlicher Erfahrung die Kräfte des Widerstandes auf den Plan ruft und zu Krisen und Erschütterungen führt.

Der österreichische Richtertag war ein großes Bekenntnis zur bedingungslosen Herrschaft des Rech«. Es muß aber ausgesprochen werden: Dieser Willen zum Recht darf nirgends eine Schrank« finden.

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