6556520-1948_25_01.jpg
Digital In Arbeit

„Die Idee des österreichischen Staates

Werbung
Werbung
Werbung

Als František Palacky am 14. Juni 1798 in einem kleinen mährischen Dorf als Sohn eines Lehrers geboren wurde, gab es praktisch kein tschechisches Volk, das Träger einer Geschichte gewesen wäre. Heute, hundertfünfzig Jahre nach seiner Geburt, scheint das tschechische Volk wieder als Subjekt aus der Geschichte zu verschwinden, um nur mehr Objekt der Politik zu sein. Aber innerhalb dieses Zeitraumes liegt der Aufstieg einer kleinen Nation zu materieller, kultureller und politischer Selbständigkeit, der beispiellos und ohne Parallele in der Geschichte Mitteleuropas ist.

Als Palacky geboren wurde, gab es kein tschechisches Volk in geschichtlichem Sinn. Es hatte keinen Adel wie andere kleine Völker, etwa die Polen, Magyaren oder Kroaten, es hatte kein Bürgertum wie Italiener oder Wallonen, es hatte keine Literatur und keine Wissenschaft wie die Deutschen, es hatte nicht einmal eine Sprache. Denn dieses slawische Idiom, das nur noch von der gestaltlosen Masse der erbuntertänigen Bauern gesprochen wurde, konnte kaum den Rang einer Sprache für sich in Anspruch nehmen. Als sieben Jahre vor der Geburt Palackys in der Prager Universität ein Lehrstuhl für böhmische Sprache und Literatur eingerichtet wurde, sagte der neuberufene Professor, der Tscheche Pelei, in seiner Antrittsvorlesung, in Böhmen werde fast ebenso ausschließlich deutsch gesprochen wie in Meißen, Schlesien oder Brandenburg. Eine Nation schien langsam, aber lautlos zu versinken.

Es war die deutsche Romantik und insbesondere Herder, die hier als Retter auftraten. Herder, der „Slawenapostel”, sah in den Slaven ein Volk, das in der Vergangenheit ein friedliches, auf hoher Kultur stehendes Leben geführt hatte und das infolge seiner Unverdorbenheit bestimmt sei, in der Zukunft ein neues Zeitalter der Humanität zu begründen. Ein paar Tschechen und Slowaken, die auf deutschen Universitäten studiert hatten, brachten diese Lehre in die Heimat. Der Funke zündete. Zunächst auf literarischem Gebiet. Eine Reihe von Dichtern und Schriftstellern steht auf und schafft aus dem bisherigen Bauernidiom die neue tschechische Sprache. Dann übersetzt palacky die Ideen Herders ins Historische, um schließlich daraus eine politische Ideologie für sein Volk abzuleiten. Er schrieb die Geschichte seines Volkes, damit es daraus lerne, wieder Geschichte zu machen, er zeigte seinem Volk seine Vergangenheit, damit es daraus lerne, sich eine Zukunft zu bauen, er hob es aus dem nächtlichen Schlaf in das Licht des Tages. Erst durch die Tat Palackys wurde das tschechische Volk wieder eine historische Kraft, Volk, das — zum Bewußtsein seiner selbst gelangt — als Subjekt wieder in die Geschichte zurückkehren konnte. So verdankt in gewissem Grade das tschechische Volk Palacky sein Leben, und der Titel „Pater Patriae”, den es ihm verlieh, wurde nicht zu Unrecht gegeben.

Aus Herderschem Gedankengut schöpfte Palacky die Auffassung, daß die Völker moralische Persönlichkeiten seien, die wachsen und leben und ein natürliches Recht auf gleichberechtigtes Nebejieinanderleben haben, zu ihrer Selbsterhaltung verpflichtet sind, und ebenso, daß die Slawen aus ihrer Vergangenheit heraus sich zu den Idealen der Humanität zu bekennen hätten. Das bedeutet für Palacky, in die konkrete tschechische Wirklichkeit übersetzt, daß die Tschechen ein Recht auf Gleichberechtigung und auf Selbsterhaltung haben und zu einem Leben im Geiste der Humanität verpflichtet sind. Dieses Programm aber ist gefährdet, sowohl in seinem nationalen wie in seinem humanitären Teil. Denn das tschechische Volk ist ein kleines Volk, eingekeilt zwischen zwei große Machtgebiete, das der Deutschen und der Russen. Aus sich heraus ist es weder materiell noch physisch noch kulturell noch politisch in der Lage, den Deutschen, damals Gegnern seiner Forderung nach Gleichberechtigung, oder den Russen, die seine Forderung nach Humanität nicht verstehen, zu widerstehen. Dieses Schicksal des kleinen tschechischen Volkes sieht Palacky geteilt mit einer Reihe anderer kleiner Völker, die sich alle längst der Donau lagern, die ihre wahre Lebensader ist. Wenn sich diese kleinen Völker aber alle einigen im Geiste der Gleichberechtigung und der Humanität, dann sind sie eine Großmacht, die allen Aggressionen widerstehen kann. Nun aber bestand diese Union dem inneren Wesen und Berufe nach — die Habsburgermonarchie. „Wahrlich, existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, im Interesse Europas und der Humanität müßte er geschaffen werden”, schrieb aus dieser Erkenntnis Palacky im Jahre 1848 an die Frankfurter Nationalversammlung, ein Wort, das seinen Erfinder berühmt machte, in Tausenden von Flugzetteln verbreitet wurde und das der Ban Jellacic an die Fahnen seiner Kroaten heften ließ. Diese Einigung der Völker des Donaureiches war freiwillig im 16. Jahrhundert erfolgt als Schutz gegen den Eroberungsdrang der Türken. Diese „Allianz war eine große Wohltat gewesen, welche die Vorsehung den Nationen zuteil werden ließ”. Diese Union, die bisher eine absolute Monarchie war, muß nun durch das Erwachen der Völker umgebaut werden Ln einen Bund der gleichberechtigten Nationen mit einem Herrscher an der Spitze. So sieht es Palacky, und deshalb ist er nicht nur ein Anhänger der habsburgischen Idee, er ist auch ein Anhänger der Dynastie. Denn nur eine Krone kann diese Völker verbinden. Mittelpunkt dieser Union kann nur Wien sein, da es die tatsächliche Mitte aller dieser Länder darstellt. Diese Union kann organisiert sein entweder auf ethnographischer Grundlage als Bund der Nationen oder auf historischer als Bund der einzelnen historischen Länder, innerhalb deren Bereichen wieder völlige Gleichberechtigung der Nationen herrschen müßte. Neben dem Zentralparlament soll es Parlamente für die einzelnen Teile der Monarchie mit weitestgehenden Vollmachten geben. Eine solche Union kann und wird ihren Völkern nicht nur Wohlstand und Kultur bringen, sie ist vor allem eine Notwendigkeit für die Freiheit, Integrität und politische Selbständigkeit ihrer kleinen Völker.

Ähnlich wie heute der Bure Smuts der große Theoretiker des britischen Commonwealth of nations ist, so war der Slawe Palacky der große Theoretiker des österreichischen Commonwealth of nations. Und die besten Köpfe der alten Monarchie haben ihr ganzes Können und ihre ganze Kraft darein gesetzt, um die „Idee des österreichischen Staates” zu verwirklichen, die Palacky in dem gleichnamigen Buch, in seinem Schreiben an die Frankfurter Nationalversammlung, in zahlreichen Zeitungsartikel , in vielen Reden als Mitglied des Herrenhauses und Abgeordneter des böhmischen Landtages und zuletzt noch, wen auch kurz, in seinem „Politischen Testament” niedergelegt hatte. Sie reifte langsam, aber eine siegreiche Verwirklichung war ihr nicht be- schieden. Bei weitem nicht aus einseitiger Schuld. Zur rechten Zeit bestand unter den politischen Richtungen, die zu jener das öffentliche Leben unter den Deutschen Österreichs und den Magyaren führten, zuwenig Einsicht für die Verantwortung, die den beiden damals am weitesten kulturell vorgeschrittenen Völkern im Raume der Monarchie zugefallen war, zuwenig Voraussicht für die Folgen, die für alle um die Donau siedelnden Menschen ohne Unterschied des Stammes erwachsen müßten: die wahre Idee des österreichischen Staates wurde nicht verwirklicht. Unter den Deutschen Österreichs hat es an erleuchteten Männern nicht gefehlt, die den rechten Weg wiesen und warnten. Der Kremsierer Reichstag, das Oktoberdiplom, die Einberufung des außerordentlichen Reichsrates im Jahre 1867, die ebenso viele Hoffnungen und ebenso -viele Enttäuschungen für die Tschechen gebracht hatten, waren längst vorüber, als einer der bedeutendsten Männer des deutschösterreichischen Liberalismus, Adolph Fischhof, 1869 immer noch bekannte: „Kein Volk in Österreich hat ein stärkeres österreichisches Bewußtsein als che Tschechen, denn nur in diesem Staate sind sie ein nicht unwichtiger Faktor des öffentlichen Lebens. Der Untergang Österreichs wäre identisch mit dem ihrigen. In Deutschland gingen sie mit der Zeit vollkommen unter, wie alle Slawen, die auf deutschem Gebiete wohnten nnd wohnen, in Rußland retteten sie wohl ihre Rasse, aber nur auf Kosten ihrer Stammeseigenheit Aber Fischhof erkannte auch und rief es mit größter Eindringlichkeit seinen Zeitgenossen ins Gedächtnis, daß das Lebensgesetz Österreichs ein unabweisliches Postulat’ seiner föderativen Gestaltung als Nationalitätenstaat sei; hier hatte sich einer der hellsichtigsten Deutschösterreicher mit Palacky getroffen. Aber die innere Entwicklung der Monarchie im Zeichen des Dualismus führte völlig abseits von diesen Ideen. Besonders die magyarische Politik der Entnationalisierung der nichtungarischen Völker war nach Palacky eine „schwärende Wunde, die den ganzen Organismus der Monarchie zu zersetzen droht”. So erfaßten den alternden Palacky bittere Zweifel um eine endgültige Erhaltung der Monarchie. Er erlebte nicht mehr die Verkündigung des großösterreichischen Programms im Jahre 1905 durch einen österreichischen Volksführer von der Kraft Dr. Karl Luegers, die Verlebendigung eines gesunden Sprachenrechtes in der Bukowina, in Wälschtirol und in Mähren, das Wachsen der Völkerstaatsidee in Ungarn und die Pläne Franz Ferdinands. Hätte Europa 1919 wirklich große Staatsmänner auf der Pariser Friedenskonferenz gehabt, so hätten sie, anstatt das Donaureich wie Kinder ein unverstandenes Spielzeug zu zertrümmern, gemeinsam mit den Völkern dieses Reiches die „Idee des österreichischen Staates” verwirklicht. Sie hätten damit der.

Die große Tragödie, die Palacky für sein eigenes Volk kommen sah, wenn einmal die alte Monarchie zerfallen werde, ist endgültig eingetreten. Der Staat Masaryks, der den Tschechen die alleinige Selbständigkeit, nur gestützt auf einige westliche Allianzen, zu geben versprach, hat sich als nicht haltbar erwiesen. Der Staat Benes’, der das gleiche mit einer östlichen Allianz versuchte, hat ebensowenig seine Freiheit behauptet. Der politische Ersatz für die Donaumonarchie, die Kleine Entente, konnte nicht annähernd so starke Stürme durchhalten wie diese selbst. So blieben nur mehr die beiden anderen Möglichkeiten, das Anfallen an Deutschland oder an den Osten. In beiden Fällen kann — nach Palacky — Böhmen nur mehr ein Planet sein, der um die jeweilige Sonne werde kreisen müssen. Aber dem Anfallen an Deutschland sei der Anschluß an den Osten vorzuziehen, meinte Palacky, denn wenn man schon aufgehen müsse, dann lieber in einen slawischen Staat als in einen deutschen. Er hat das 20. Jahrhundert nicht erlebt, sonst hätte er den zweiten Teil der Alternative anders formuliert.

In diesen Tagen, da der Geburt Palackys gedacht wird, mag man sich noch der Worte erinnern, die er vor hundert Jahren schrieb: „Sobald ich meine Blicke über die Grenzen Böhmens erhebe, bin ich durch natürliche wie geschichtliche Gründe angewiesen, sie nach Wien zu richten und dort das Zentrum zu suchen, welches geeignet ist, meines Volkes Frieden, Freiheit und Recht zu sichern und zu schützen.”

Doch heute ist alles aus den Angeln gehoben. Wird göttliche Allmacht gutmachen, was Menschen in blinder Leidenschaft und Aberwitz vernichtet haben? „Die Idee des österreichischen States” lebt in Wahrheit und unsterblicher Realität als die Friedensidee Europas, auch wenn Menschen sie nicht erfüllen.

1 „Österreich und die Bürgschaften seines Bestandes.” Politische Studie von Dr. Adolph Fischhof.Menschheit 3en zweiten Weltkrieg mit allen seinen Folgen erspart,

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung