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Die kischen Ugolini

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Nicht wenige Anzeichen deuten darauf hin, daß die neuen Herren in der Türkei dem Grafen Ugolino gleichen, der — in einer Travestie des französischen Surrealisten Jarry —, zum Hungertod verdammt, seine mit ihm gefangenen Kinder aufißt, um ihnen den Vater zu erhalten. Die Machthaber in Istanbul und in Ankara verspeisen, um der Demokratie deren Väter zu erhalten, eben dieses Schoßkind mit Haut und Haar. Von Parlamentswahlen, die anfangs für bald, etwa binnen eines Monats, erwartet wurden, ist vorläufig nicht mehr die Rede. Sprecher der Offiziersjunta wiesen darauf hin, es müßten wenigstens drei Monate verstreichen, ehe man die Schuldigen des vorigen Regimes bestraft und die Verwaltung völlig gesäubert hätte. Dann wäre jedoch der Herbst da und mit ihm die große Kälte, die in Anatolien die Wähler von den Urnen fernhält. Vor dem kommenden Frühjahr wären also Wahlen unmöglich. Ob sie dann möglich sein werden? Die Sache interessiert nur die recht schmalen politischen Kreise, ob Demokraten, die nach dem ersten Schock hoffen, unter dem Militärregime, eher zum Zug und auf einen bescheidenen, Platz zu gelangen als unter der Ägide der Volkspartei, oder deren Angehörige, die sich geschmeichelt hatten, ohne weiteres die Herrschaft aus den Händen der Mairevolution zu empfangen. Zu diesen enttäuschten Mithelfern des Umbruchs zählen auch die Studenten der Hochschulen und die meisten Professoren. Sie alle hatten nicht geahnt, daß sich die Dinge in kürzester Frist ähnlich gestalten würden wie in Ägypten.

Inönü, der sich bereits wieder im Präsidentenpalast von Cankaya gesehen hatte, wird mit leeren Ehrenbezeigungen abgespeist. Er hat seinem Unmut durch spitze Bemerkungen Luft gemacht, etwa, daß er Gürsel, hätte ihn dieser vorher befragt, von der Erhebung abgeraten hätte. Die Mitglieder des Ausschusses für Nationale Einheit nehmen sich ihrerseits kein Blatt vor den Mund und sagen laut, daß in ihren Augen die Volkspartei nicht mehr Wert habe als die Demokraten, wenn auch Bayar und Menderes, als die unmittelbar gefährlichen Schädlinge, zunächst bekämpft wurden. Die Armee hat das Heft in der Hand und denkt nicht daran, es so schnell anderen zu überlassen. Beweis dafür die am 13. Juni bekanntgewordene provisorische Verfassung. Der Istanbuler Universitätsprofessor und berühmte Jurist Sami Onar mag es nicht leicht gehabt haben, diese Magna Charta einer Demokratie militärischen Zuschnitts abzufassen. Sie anerkennt die Dreiteilung der Gewaltigen, doch wie stellt sich das im einzelnen dar? Die gesetzgebende Gewalt gebührt dem Ausschuß für Nationale Einheit, der geheim von einer Offiziersverschwörung gebildet wurde, jetzt 48 Mitglieder besitzt und die Aufgaben eines gewählten Parlaments erfüllt. Von ihm wird die, im Augenblick 19köpfige, Regierung berufen. Die Exekutive ist mithin ganz von der Offiziersjunta abhängig und hat deren Anordnungen in ähnlicher Weise zu gehorchen wie zum Beispiel die Sowjetregierung dem Parteipräsidium der KPSS. Die Gerichte sind „unabhängig“. Allein zur Aburteilung des Halbtausends politischer Schwerverbrecher, die als Hauptschuld büßen, gestürzt worden zu sein, werden Revolutionstribunale gebildet, deren Richtschnur „das Kollektivgewissen der Nation“ sein soll. Wir denken dabei an das „gesunde Volksempfinden“ im Dritten Reich und an die „proletarische Gerechtigkeit“ in den Kampfjahren der UdSSR.

General Gürsel vereint, dem Anschein nach, alle Fäden bei sich. Er ist Präsident der Republik, Ministerpräsident, Vorsitzender des Ausschusses für Nationale Einheit und Oberbefehlshaber der gesamten bewaffneten Macht zu Land, zu Wasser und in der Luft. Ob er wirklich, wie Nasser, der unangefochtene Gebieter sein wird, das vermag erst die Zukunft zu zeigen. Wie es heißt, soll er bereits manchen harten Strauß mit extremistischen jungen Offizieren ausgefochten haben, die er aber in die Kasernen zurückschicken konnte. Ein Nagib, dem kein Nasser über den Kopf wächst, oder nur der Platzhalter für einen künftigen Nasser, das ist die Frage. Bereits zeichnen sich einige dynamische Persönlichkeiten im Einheitsausschuß ab, so Oberst Ertogrul Alatly. Die am 27. Mai siegreichen Verschwörer haben sehr schnell nicht nur die Regierung übernommen, sondern auch alle hohen und mittleren Posten von Belang in der Verwaltung umbesetzt, so-ferne sie nicht, in ziemlich seltenen Fällen, die bisherigen Inhaber im Amte beließen, weil diese zuverlässig oder zumindest unschädlich dünkten.

Die Bevölkerung hat die faktische Ausschaltung des Parlaments und die oktroyierte provisorische Verfassung mit Gleichgültigkeit oder sogar mit Beifall begrüßt. Die Armee ist populär und in Ankara wie in Istanbul und sogar in Menderes' einstiger Hochburg Izmir ist es zu Verbrüderungsszenen mit dem Heer gekommen. Niemand rührt sich ernstlich, um einen von vornherein vergeblichen Widerstand gegen die jetzigen Herren zu versuchen. Das Interesse der breiten Massen wendet sich vornehmlich der Wirtschaft zu. Mit der das Großkapital und die Großindustrie wie die Großgrundbesitzer begünstigenden liberalen freien Marktwirtschaft ist es selbstverständlich vorbei. Nun will man planen, reglementieren, verstaatlichen, kontrollieren, sparen und die Korruption ausrotten; was ja im Osten überall der Brauch eines Umschwungs und dessen zügigstes Schlagwort ist. Die beiden hervorragenden Wirtschaftsfachleute, die im Kabinett Gürsel sitzen, Handelsminister Iren und Finanzminister Alincan, sind daran, ein umfangreiches Sanierungsprogramm aufzustellen. Diese Tatsache wird als Grund verkündet, den unter Menderes angebahnten Eintritt in die EWG hinauszuschieben, vermutlich auf den Sankt-Nimmerleins-Tag.

Bedeutsame Probleme der Innenpolitik sind ferner die stark betonte Rückkehr zum unver-wässerten Laizismus — die Hodschas sollen in die Moscheen und nicht mehr politischen Einfluß üben, wie unter den Demokraten — und die Regelung des Verhältnisses zu den, wie wir schon unterstrichen, immer mehr ernüchterten Intellektuellen, die sich, des Umsturzes Mitträger und Herolde, um ihre kühnen Hoffnungen betrogen fühlen und denen an der echten westlichen Parlamentsdemokratie sehr viel gelegen ist. Ähnlich war es in Polen beschaffen, als Gomulka die „zornigen jungen Männer“ von „Prostu z mostu“ und hernach einige seiner engsten Freunde und Mitarbeiter abschüttelte. Nur daß in der Türkei die Entwicklung weit eiliger vor sich geht. Professoren, Schriftsteller und Journalisten sind bereits in ihre sekundäre Rolle zurückgesunken, als fachliche Mitarbeiter der Herrschenden. Ob es mit den Studenten zu einer schärferen Auseinandersetzung kommen wird, wissen wir nicht. Das vorauszusagen, sind die Dinge zu sehr in Fluß. Den Ausschlag wird geben, wohin der Offiziersausschuß steuern wird.

Das beharrt in engstem Zusammenhang mit der Außenpolitik. Einige Symptome mahnen uns, die Beteuerungen unverbrüchlicher Treue zur NATO und zum westlichen Kurs, mit denen der ungemein gewandte Außenminister Selim Sarper seine Tätigkeit einleitete, vorsichtig zu genießen. Die Sowjetdiplomatie hat sofort nach dem Maiumsturz dessen Regime anerkannt und der Hoffnung Ausdruck verliehen, fortan mit dem Lande des Atatürk in guter Nachbarschaft und Freundschaft zu leben. Gürsel hat in der UdSSR eine sehr wohlwollende Presse. Der Versucher lockt mit süßen Tönen. Nun ist, unter welchem nicht rein-kommunistischen System immer, in der Türkei eine Eingliederung in den Ostblock undenkbar. Neigung zum Neutralismus nach indischem oder arabischem Muster könnte aber das Übergewicht erlangen, und noch erheblichere Wahrscheinlichkeit besteht für eine Außenpolitik, die der Norwegens und Dänemarks im Rahmen der NATO gleicht. Daß keine dieser Eventualitäten in Washington entzückt, ist begreiflich. Unter Bayar, Menderes und Zorlu war Ankara der zuverlässigste Verbündete der USA, antisowjetisch bis zum Rande. Der Wert des türkischen Heeres wurde und wird mit Recht hoch angeschätzt, und die strategische wie die politische Bedeutung des türkischen Eckpfeilers für die Westallianz kann nicht hoch genug taxiert werden. In den Zweifeln, die sich, vorerst zaghaft, an der ferneren unbedingten Gefolgschaft der Türkei an den Atlantikpakt melden, liegt für die Welt, die westliche, die kommunistische und nicht zuletzt die neutrale, die Wichtigkeit des Umbruchs beschlossen, der sich dort vollzogen hat.

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