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Die klassenlose Partei für Österreich

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In diesem für die österreichische Innenpolitik so entscheidenden Jahr 1970 gibt es zwei Gedenktage der katholischen Volksbewegung: Am 10. März 1910, vor sechzig Jahren, starb Doktor Karl Lueger und zwanzig Jahre früher, am 8. November 1890, Carl Freiherr von Vogelsang. In den beiden Jahrzehnten zwischen 1890 und 1910 ereignete sich in Wien, während die nationale und die soziale Revolution bereits die Welt von damals erschütterte, erstmals das Experiment einer klassenlosen Volkspartei. Im Ubergang vom patriarchalischen zum demokratischen Zeitalter, formulierte Vogelsang 1887 die „Parole der Socialreform auf christlicher Basis“ und schuf damit noch vor der Sozialenzyklika Leos XIII. „Kerum Novarum“ ein für österreichische Verhältnisse brauchbares Programm einer katholischen Sozialbewegung; Dr. Karl Lueger, Volksmann, und seit dem Jahre 1897 Bürgermeister von Wien, verschaffte mit seiner „Christlich-sozialen Volkspartei“ diesem Programm auch den politischen Massenausdruck.

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In diesem für die österreichische Innenpolitik so entscheidenden Jahr 1970 gibt es zwei Gedenktage der katholischen Volksbewegung: Am 10. März 1910, vor sechzig Jahren, starb Doktor Karl Lueger und zwanzig Jahre früher, am 8. November 1890, Carl Freiherr von Vogelsang. In den beiden Jahrzehnten zwischen 1890 und 1910 ereignete sich in Wien, während die nationale und die soziale Revolution bereits die Welt von damals erschütterte, erstmals das Experiment einer klassenlosen Volkspartei. Im Ubergang vom patriarchalischen zum demokratischen Zeitalter, formulierte Vogelsang 1887 die „Parole der Socialreform auf christlicher Basis“ und schuf damit noch vor der Sozialenzyklika Leos XIII. „Kerum Novarum“ ein für österreichische Verhältnisse brauchbares Programm einer katholischen Sozialbewegung; Dr. Karl Lueger, Volksmann, und seit dem Jahre 1897 Bürgermeister von Wien, verschaffte mit seiner „Christlich-sozialen Volkspartei“ diesem Programm auch den politischen Massenausdruck.

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Nach der heutigen spätmarxistischen Auffassung Günther Nennings sind die Sozialenzykliken der Päpste nicht mehr als Versuche zur Rechtfertigung einer „Symbiose zwischen Kapitalismus und Amtskirche“. In unzähligen Diskussionsveranstaltungen der Katholischen Jugend und der Hochschuljugend hat Nenning, meist ohne politischen Widerspruch, seine These verbreitet und so entscheidend zum Entstehen jenes Bildes beigetragen, das im heutigen Österreich von der katholischen Volksbewegung und ihrer Sozialreform besteht: eine kirchlich-organisatorisch abgestützte Ideologenpartei der Christlichsozialen und der christlichen Demokraten, die Kofferträger des Kapitalismus sind.

In dem oberflächlichen und flatternden Dialogismus, der für die sechziger Jahre bezeichnend gewesen ist, ging auch die geschichtliche Tatsache unter, wonach die katholische Volksbewegung, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Österreich aufgekommen ist, alles eher als eine ..kirchlich abgestützte Organisation“ gewesen ist. Sie entstand vielmehr im Gegensatz zu dem, was Nenning die „Amtskirche“ nennt, und unter unablässigen Konflikten mit großen Teilen des Klerus. Je mehr nach 1859/60 das historische „Bündnis von Thron und Altar“ zerfiel, je vorsichtiger und nach-sichtiger die Hierarchie (Ausnahme: Bischof Rudi-gier in Linz) dem an die Macht gelangten Liberalismus entgegenkam, desto mehr wuchs die Mißstimmung der Katholiken. Um 1875 warf man dem Erzbischof von Wien (damals Kardinal Rauscher) vor, die Laien erhielten in ihrem Kampf um die gefährdeten Rechte der Kirche von ihrem Bischof so gut wie keine Unterstützung. Auch werde ihre Ver-einstätiigkeit, die den Liberalen ohnedies ein Dorn im Auge sei, weil sich dabei „die politische Aktion (von dem anderen) nicht trennen läßt“, kirchlicherseits geradezu „behindert“. Während die mehr und mehr in den Alleinbesitz der staatlichen Macht gelangenden verschiedenen Gegner der Regligion und der Kirche von den politischen Möglichkeiten in der Demokratie eifrig Gebrauch machten, um ihre oft recht kirchenfeindlichen Absichten in Staat und Gesellschaft zu realisieren, werde den Katholiken aufgetragen, sie sollten „als Katholiken keine Politik“ betreiben. So waren sich am Beginn der demokratischen Ära die Kirche und ihre Gegner (wenn auch aus verschiedenen Überlegungen) einig in der Auffassung, daß der Glaube aus den politischen Entscheidungen in der öffentlicheit herausgehalten werden sollte.

... bestand in der Ausgangslage der katholischen Volksbewegung nicht nur in den Beziehungen zur „Amtskirche“. 1911 beschrieb Otto Bauer in der sozialdemokratischen Monatsschrift „Der Kampf“ die geschichtliche Leistung der katholischen Sozialbewegung in den achtziger Jahren, also in der Ära Vogelsang, folgendermaßen: Das „eigentliche Wesen dieses (wie Bauer es nennt) christlichen Sozialismus“ sei dessen Kritik am Kapitalismus. Diese leidenschaftlich vorgetragene Anklage habe „zum ersten Mal (sie!) große Massen in das politische Leben geführt“; so konnten auch der „volksfremde Liberalismus gestürzt“ und die „großen sozialen Probleme auf die Tagesordnung gesetzt“ werden. Bauer benützt diese scheinbar objektive Bestätigung des Erstgeburtsrechts der katholischen Sozialbewegung zu einem dialektischen Kniff: Indem er den späteren Christlichsozialen ihr Abgehen von dieser Ausgangslage und einen Rückfall in reaktionären Kapitalismus und Klerikalismus in die Schuhe schob, konnte er die historischen Verdienste der Ära Vogelsang aus der katholischen Volksbewegung heraus reklamieren und zu einer Art Vorläufer-tum der späteren sozialdemokratischen Bewegung stempeln.

Das wieder hat Nenning nicht wahrgenommen. Für Nenning ist gerade der Anfang der päpstlichen Soziallehre nichtsnutzig, und erst die „immer stärkere Annäherung der (jüngst ergangenen) Sozialenzyküken an die sozialistische, marxistische und kommunistische Gesellschaftstheorie“ machen für ihn das Ganze im Sinne eines Linkskatholizismus akzeptabel. So erhellen das Lob und der Tadel der Gegner jene unbestreitbare Leistungsfähigkeit der christlichen Sozialreform, die von vielen Christen unserer Tage vielfach vergessen wird.

Als Bürgermeister der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt wuchs Lueger in den Jahren 1897 bis 1910 vom leidenschaftlichen, zuweilen demagogischen Parteimann zum Führer und lebendigen Vorbild einer der bedeutendsten österreichischen Volksbewegungen und schließlich zum einmaligen Reformator eines der größten städtischen Gemeinwesen der Welt von damals empor. Auf diesem Weg konnte Lueger auch wesentliche Forderungen der christlichen Sozialreform zur Verwirklichung bringen. In dem Maße aber, in dem die Staatsbejahung der christlichsozialen Rathauspartei stärker wurde, geriet sie (zumal nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechtes, 1906) in die Funktion der ersten und zuweilen allein verläßlichen „staatstragenden Partei“.Je mehr die Partei damals dem Staat, also der ins letzte Jahrzehnt ihres Bestandes tretenden Monarchie, geben mußte, desto mehr Kapazität mußte sie ihren sozialpolitischen Aufgaben entziehen. Es entstand die Praxis, daß die Partei jeweils ihren besten Mann für die Arbeit im Parlament und in der Regierung abstellte. So trugen die Christlichsozialen bis zuletzt und im Umsturz von 1918 als die letzten den alten Staat. Nicht wenige Kritiker haben nachträglich diese Staatsbejahung als bloße „Un-beweglichkeit“ und „Erstarrung“ diskriminiert.

... als staatstragende Partei der Ersten Republik blieb und bleibt womöglich noch mehr unbedankt. Die Sozialdemokraten haben es zum Beispiel sowohl anläßlich der Genfer Sanierung (1922) als auch anläßlich der Lausamner (1932) in der Hand gehabt, das wirtschaftliche Sanierungswerk der christlichsozialen Bundeskanzler einfach durch die Verweigerung ihrer Stimmen für die zur Ausführung notwendige parlamentarische Zweidrittelmehrheit (1922) oder durch Verlassen des Nationalratssitzungssaales (1932) zu Fall zu bringen. In beiden Fällen waren sie aber von der unbedingten Notwendigkeit der Sanierungsabkommen überzeugt; also überließen sie es der staatstragenden Partei, den Christlichsozialen, das Odium der mit der Sanierung verbundenen Opfer vor der Öffentlichkeit zu tragen, um für sich den Beifall und die Wählerstimmen der aufgebrachten Massen zu kassieren. Im Schatten solcher Ereignisse verschwand aber zum Beispiel das mit dem Namen des christlichsozialen Sozialminister Josef Resch verbundene Sozialgesetzwerk der Ersten Republik, ohne das der historische Anfang Ferdinand Hanuschs ein Torso und der Sozial-staat von heute gar nicht denkbar wäre.

Es muß der genauen zeitgeschichtlichen Durchleuchtung vorbehalten bleiben, zu untersuchen, wie sich in der Ära der ÖVP-Alleinregierung in den Jahren 1966 bis 1970 dieses in Hinblick auf das Gemeinwohl verfehlte Spiel einer Konfrontation, diesmal zum Vorteil der SPÖ, wiederholte.

Nach der jetzt vielfach vorherrschenden Ansicht der Technokraten soll die Industriegesellschaft ihrem Wesen nach keinen weltanschaulichen Inhalt haben. Bis in die jüngste Zeit (Vorgänge in der CSSR 1968 bis 1970) bestand sogar die Erwartung, das Industriesystem müßte schließlich auch zusammen mit so verschiedenen Systemen praktikabel sein, wie jenem der USA und jenem eines kommunistischen Staates.

Die zu dieser Fiktion gehörige sogenannte „Entideologisierung des Politischen“ stieß im Falle der katholischen Soziallehre auf einen harten Kern. Nenning versucht ihn bekanntlich mit der Verächtlichmachung der päpstlichen Sozialenzykliken zu zerschlagen; die Technokraten möchten die katholische Soziallehre und in letzter Konsequenz das ganze Naturrecht dadurch außer Evidenz stellen, daß sie behaupten, es handle sich bei dem Ganzen nur um „Ideologie unter anderen Ideologien“, um etwas, was mit den Kriterien der modernen Wissenschaften nicht erfaßbar und daher un-wissenschaftlich ist. Je mehr die Technokraten und die Neomarxisten realisieren, daß sie es hier nicht mit „Ideologie als Religionsersatz“ zu tun haben, sondern mit konkreter religiöser Substanz,ziehen sie es vor, den Konflikt durch Verschweigen unter Verschluß zu lassen.

Im gleichen Maße, in dem sich während der sechziger Jahre die Technokraten des Apparates der nach 1945 von christlichen Demokraten ins Leben gerufenen Parteien (CDU, ÖVP und andere) bemächtigten und zugleich innerhalb der Kirche eine Mentalität in Anschluß an Marx (Günter Nenning und andere) vorgestellt wird, hört die katholische Soziallehre auf, Kriterium politischer Entscheidungen in der Öffentlichkeit zu sein.

In der Polemik der Leistungskonkurrenz zwischen ÖVP und SPÖ herrscht der Austausch jener „Chiffren“ vor, die von den in beiden Parteien ansässigen Technokraten verfaßt werden. Diese „sach-orientierten Experten“ denken nicht in allen Fällen das gleiche; aber sie haben an den nationalökonomischen, soziologischen und politologischen Schulen der Universitäten in den USA und im europäischen Westen, die vorwiegend von Linksintellektuellen kontrolliert werden (auch wenn das Geld von den Stiftungen der Kapitalisten kommt), gleich zu denken gelernt.

Eine klassenlose Volkspartei kann in keinem Fall auf einem Denksystem beruhen, dessen Ausgangslage der Klassenantägonismus, der Klassenkampf ist. Dieser gegenüber der traditionellen Linken bestehende Einwand gilt erst recht gegenüber der Neuen Linken, deren A und O ja die Wiederbelebung des radikalsten Gegensatzes der Klassen ist. Je mehr die ehedem sozial homogene Arbeiterpartei der Sozialisten in die fülligen Proportionen ihrer heutigen sozial heterogenen „Interessenten-ganossenschaft“ wächst, desto mehr erweist sich allerdings jeder Rückgriff auf den Klassengegensatz (Hinweis: das nach der Wahl vom 1. März 1970 verlautete sozialistische Programm einer Steuerreform) nicht mehr als Kitt der alten Gesinnungsgemeinschaft, sondern als Sprengmittel inmitten divergierender Interessen.

Friedrich Funder zitiert im ersten Band seiner Memoiren „von Gestern ins Heute“ das 1907 verfaßte „politische Testament Luegers“. Darnach sollte sich die Partei hüten, irgendeine „spezielle Berufspartei“ zu werden; sie sollte weder eine „agrarische“ noch eine andere „spezifische Partei“ werden; dafür aber müßte sie ihr Augenmerk auf die „großstädtischen Bevölkerung und die Intelligenz“ ebenso wie auf den Bauernstand richten. Daraus ergeben sich Perspektiven, die unter den heutigen Verhältnisse erst richtig sinnfällig werden:

• Die klassenlose Volkspartei hat den Vorrang gegenüber jeder Form einer „speziellen Berufspartei“, von der Klassenpartei nicht zu reden.

• Die Schwerpunktbildung bei der großstädtischen Bevölkerung und bei der Intelligenz ist nicht zu übersehen.

• Der Klassenantagonismus ist durch die Partnerschaft der Produzenten und der Konsumenten, der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer zu überwinden.

• Die Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft der Arbeitgeber und Arbeitnehmer ist bis dato die einzig haltbare Alternative zu den heute aktuellen Modellen der Wdrtschaftsund Sozialordnung der Kommunisten und Revolutionäre.

Nicht zu übersehen ist Luegers seherischer Hinweis auf den Zielpunkt, den wir heute „Ballungsraum“ nennen; nicht überhörbar die Warnung vor einem Rückzug in umstrittene Ausweichstellungen „auf dem „Lande“, wie das von der ÖVP nach 1959 versucht wurde. Alle nach 1945 gewonnenen Erfahrungen bewiesen aber, wie kostspielig in jeder Beziehung schließlich die von der Bundes- über die Landes- bis auf die Bezirksebene herabreichende Dreigliederung der Partei und ihres komplizierten Apparates in sachlicher, organisato7 rischer und personeller Hinsicht ist. Die dreifache Apparatausstattung bedeutet nicht Verdreifachung der Schlagkraft, sondern: größere Schwerfälligkeit und Kostspieligkeit, letzten Endes die Verzögerung, wenn nicht eine Verhinderung der immer aufs neue notwendig werdenden Adaptierungen der Struktur, der Statur und der Funktion der politischen Partei angesichts der wechselnden Herausforderungen im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und staatlichen Leben. Seit Anfang 1970 gibt es in Wien mehr Angestellte als Arbeiter. Die über den Klassenantagonismus der Arbeiterfrage als Klassenpartei entstandene Sozialiisttische Partei versucht unter Ausnützung des Profils ihres Parteivorsitzenden Bruno Kreisky den Strukturwandel zur klassenlosen Partei vorzuführen. Indes geht es hier nicht um den New Look einer Partei, sondern um die echte Alternative zur Klassenpartei. Die klassenlose Volkspartei ereignet sich nicht in der Renovierung des Marxismus, sondern in den Traditionen und in der Aktualität einer christlichen Sozialreform. Der Arbeiter- und Angestelltenbund der ÖVP steht hier vor seiner bisher größten Aufgabe.

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