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Die Kollegen hatten nichts gegen den Euthanasie-Jasager

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Sie starben dreimal. Vor dem Krieg bei der Entfernung aus ihren Familien und Einlieferung in Anstalten, Heime und Kliniken. Das zweite Mal während der NS-Dik-tatur, als sie aufgrund eines geheimen Führerbefehls von Ende Oktober 1939 in einem Euthanasieprogramm, das Ende August 1941 in eine wilde Euthanasie umgewandelt wurde, einer fabrikmäßigen Vernichtung „zugeführt" wurden. Das dritte Mal nach 1945, indem ihr Schicksal jahrzehntelang verdrängt und vergessen wurde.

„Ermordet und vergessen" ist auch der Titel einer kleinen Studie des Innsbrucker Klinikvorstandes für Psychiatrie Hartmann Hinterhuber, die großes Erschrecken hervorrufen muß. „Akribische Ruchhaltung bis zuletzt" seitens der involvierten Einrichtungen sowie eigene Recherchen ließen Professor Hinterhuber ein bis heute vielerorts tabuisiertes Kapitel österreichisch-deutscher Psychiatriegeschichte angehen: Nationalsozialistische Verbrechen an psychisch Kranken und Behinderten.

Für das NS-Regime galten sie als „Ballastexistenzen", „geistig Tote", „leere Menschenhülsen", „unnütze Esser", ja „Ungeziefer". Bassentheorien, die schon vor 1933 in Umlauf waren, stützten diese Ideologie, welche die Zustimmung vieler Ärzte, Theologen, Pädagogen, Juristen und leitender Beamten fand. Der Nürnberger Militärgerichtshof bezifferte seinerzeit die Zahl der Opfer der industrialisierten Tötungsmaschinerie mit 275.000. Für Hinterhuber zählen dazu aber nicht nur die durch Gas und Medikamente Umgebrachten, sondern auch die an Unterernährung und durch systematische Vernachlässigung zugrunde Gegangenen, darunter viele Kleinkinder.

Seine Untersuchung hat nicht nur Bedeutung für Nord- und Südtirol, wo etwa 1000 Menschen umkamen. Sie öffnet ein Fenster - ganz Österreich und der süddeutsche Baum treten in das Blickfeld. Obwohl es eine Materialaufbereitung durch das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes gibt, sind laut Hinterhuber für die Steiermark, für Kärnten und Wien noch keine seriösen wissenschaftlichen Studien vorhanden. Nieder- und Oberösterreich, Salzburg, Tirol und Vorarlberg haben sich der Thematik gestellt und verfügen über Archive des NS-Schreckens. „Wegsehen und weghören sind in allen Diktaturen antrainierte Totstellreflexe", resümiert der Autor.

Hinterhuber legt seine Arbeit auf „historischem Boden" vor: Die Innsbrucker Klinik fungierte, vor allem für Südtiroler Patienten, oft als Durchgangsstation für „Verschickungen" nach Solbad Hall, in die deklarierte „Musteranstalt" Hartheim bei Linz, in die „Valduna" im Vorarlbergischen und ins Süddeutsche.

Zusätzliche Brisanz: Das Professorenkollegium der medizinischen Fakultät hat zusammen mit der Tiroler Ärztekammer bereits 1950 (!) den Antrag des zu acht Jahren Kerker verurteilten ehemaligen Leiters des Gau-amtes für Volksgesundheit, Dr. Hans Czermak, der die Verschickungen als kritikloser NS-Befehlsbefolger zu verantworten hatte, auf Wiederzulassung zum ärztlichen Beruf befürwortet. Das Landesgericht Innsbruck lehnte den Antrag ab. Makabres Detail aus der Nachkriegszeit: Uberlebende mußten oft noch jahrelang in Grafenegg und anderen Baden-Württembergischen Anstalten als Staatenlose verbleiben. Italien betrachtete die zwangsweise Ausgesiedelten als Optanten für das Deutsche Beich, obwohl Entmündigte gar nicht hatten optieren können. Deutschland betrachtete sie wegen der fehlenden Einbürgerung (die für psychisch Kranke ausgeschlossen war) als Staatenlose. Hinterhuber: „Das offizielle Südtirol und die italienischen Behörden haben die Bückführung der Patienten nicht erleichtert." Erst in den siebziger Jahren kam es zu größeren Bepatriierungsaktionen!

Den Versuch, über die Studie hinaus Vergangenheitsbewältigung anzuregen, übernahm Hinterhuber auch mit einer bewegenden Gedenkfeier am 11. Dezember 1995. Bischof Reinhold Stecher präsidierte einem Wortgottesdienst, Dozent Ulrich Meise erinnerte mit einem Video-Beitrag daran, daß ein Land, das Sigmund Freud hervorgebracht hat, sich seiner Vergangenheit stellen muß und verwies auf einen klassischen Verdrängungsmechanismus: „Wir haben es nicht gewußt - Wir können es nicht mehr hören".

Hinterhuber beläßt es nicht bei Wut, Trauer und Zorn. Er fordert seine Historiker-Kollegen auf, „sich mit der Methodik ihres Faches diesem dunklen Kapitel der neueren Geschichte zu widmen", schaut sorgenvoll in die Zukunft und fragt, wo der geistige Nährboden für Fremdenangst und Ausländerhatz bereitet wird. Die Rede vom „Ausmisten" ist mittlerweile wieder zum politischen Slogan avanciert. Biologistische Erklärungsmuster für soziale Probleme, die Aufforderung zur Vermeidung der Geburt behinderter Kinder, die Ablehnung von Behandlungskosten durch Sozialversicherungen für behinderte Kinder, deren Defekte durch intrauterale Untersuchungen hätten festgestellt werden können - für Hinterhuber Anzeichen einer Renaissance jenes Herrenmenschentums, das Abertausende als „lebensunwertes Leben" abgestempelt hat.

Dem Vergessen und Verdrängen vergangenen Terrors soll ein Gedenkstein entgegenwirken, der mit Bausteinen zu 500 Schilling finanziert wird. Heldendenkmäler gibt es ja genug. Nun sollen endlich die Opfer der NS-Verbrechen unter den psychisch Kranken und Behinderten „aus dem Schatten des Vergessens in unsere Erinnerung und in unser Mitleid zurückgeholt werden". Es gilt das Wort: „Es ist geschehen, folglich kann es wieder geschehen" (Primo Levi).

ERMORDET UND VERGESSEN

Nationalsozialistische Verbrechen an psychisch Kranken und Behinderten in Nord- und Südtirol Von Hartmann Hinterhuber

Verlag Integrative Psychiatrie, Innsbruck-Wien 1995, 155 Seiten. öS 251,-

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