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Die Kriminalität in Österreich

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Alle Fachleute sind darin einig, daß dem Verbrechen erhöhtes Intereßse zuzuwenden wäre. Die Frage ist, welche Wege einzuschlagen sind, um kriminalpolitische Neuerungen zu motivieren. Wir meinen, daß zunächst kriminalstatistische Beobachtungen und Untersuchungen die Probleme bloßlegen müßsen, ohne deren Klärung der Kampf gegen das Verbrechen unmöglich erfolgreich werden kann. Die Kriminalität ist eine Massenerscheinung und daher statistischer Bearbeitung zugänglich. Statistische Untersuchungen sind aber nur dann von Wert, wenn sie sich auf einen längeren Zeitraum, auf viele Jahre beziehen. Im vorliegenden Falle handelt es sich um die stattliche Reihe von 50 Jahren, ein Zeitraum, der vollauf genügt, um die Entwicklung der Straffälligkeit mit Sicherheit hervortreten zu lassen. Die Kriminalstatistik kann allerdings nicht mit den tatsächlichen Straffälligkeitsziffern, sondern lediglich mit Verurteilungsziffern arbeiten. Dies ersetzen aber infolge der gleichmäßigen Wirksamkeit der Fehlerquellen die Straffälligkeitsziffern. Man arbeitet einfach mit einem genügend großen proportionalen Zahlenausschnitt. Die Veränderung der Zahl der Verurteilten allein läßt freilich noch keinen Schluß auf die Kriminalität in der Bevölkerung zu. Es mäht einen großen Unterschied, welcher Art die Straftaten sind. Die Verurteilungsziffern steigen in gleiher Weise, gleichviel, ob Mord oder Totschlag zunehmen oder einfahe Übertretungen. Der wahre Sachverhalt wird entstellt, wenn man ganz allgemein sagt: Die Straftaten überhaupt — ohne weitere Untersheidung — steigen oder fallen. Den rihtigen Einblick kann nur die Verfolgung der einzelnen, und zwar der sogenannten harakteristishen Verbrechens- stnaftaten gewähren. Die Zahl dieser Ver- brehenstatbestände erleidet im Laufe der Zeit fast gar keine Veränderungen, auf diesem Gebiete ist die Gesetzgebung durch Zeiträume hindurh stillstehend. Faßt man diese harakteristishen Delikte in große Gruppen zusammen, so ergibt die Zusammenfassung von Mord, Kindesmord, Totschlag und shwerer körperliher Beschädigung im wesentlichen die vorsätzlihen Tötungen und verbrecherischen Körperverletzungen. Als verbrecherische Vermögensdelikte sind hauptsächlich die Verbrechen des Diebstahls, der Veruntreuung und des Betruges zu nennen. Fügt man diesen beiden Gruppen noch die Verbrechen gegen die Sittlichkeit hinzu, so haben wir die sogenannten charakteristischen Verbredien so ziemlich erschöpft; nur das Verbrechen der Abtreibung der Leibesfrucht soll noch dargestellt werden, und zwar deshalb, weil dieses Delikt gegenwärtig besonders umstritten ist.

Die Straffälligkeit kann aber nur dann richtig beurteilt werden, wenn die Zahl der Verurteilten zu der Zahl der Personen gleichen Alters überhaupt in Beziehung gesetzt wird, oder mit anderen Worten: wenn aus der absoluten Zahl der Verurteilten berechnet werden kann, wieviele verurteilte Personen über 14 Jahre auf 100.000 strafmündige (das ist für Österreich über 14jährige) Personen der Bevölkerung entfallen. Die Kriminalität muß deshalb ausschließlich auf Strafmündige, also im Alter der strafrechtlichen Verantwortlichkeit stehende Personen projiziert werden, weil dadurch, daß man die Kriminalität ins Verhältnis zur ganzen Bevölkerung setzt, als Folge der Tatsache, daß der Anteil der im Kindesalter stehenden Bevölkerung sich von Zeit zu Zeit anders gestaltet, die Kriminalitätsziffern heruntergedrückt oder ungebührlich erhöht, daher für Vergleiche unbrauchbar werden. Die vorliegende Statistik der Kriminalität umfaßt den Personenkreis Österreichs in den durch den Staatsvertrag von Saint-Germain festgesetzten Grenzen.

Es wäre verfehlt, durch Zusammenfassung der besonderen Verbrechensstraffälligkeiten eine allgemeine Verbrechensstraffälligkeit konstruieren zu wollen, weil die einzelnen Verbrechensstraftaten in der Häufigkeit ihres Auftretens sehr verschieden sind. Die weitaus am meisten begangene Straftat ist das Verbrechen des Diebstahls. Sie würde die allgemeine Verbrechensstraffälligkeit in einem Maße beherrschen, daß die Kurvenbilder der allgemeinen Verbrechensstraffälligkeit und der Diebstahlsstraffälligkeit einen ganz ähnlichen Verlauf zeigen würden.

Man ist versuht, die statistishen Zahlenreihen, deren Glieder die mittleren relativen Verbrehenßhäufigkeiten von jeweils fünf Jahren in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge wiedergeben, durh eine e i n- z i g e Größe eindeutig zu kennzeichnen. Dies ist jedoh nicht möglih. Die Anwendung der feinen Meßinstrumente der statistischen Methode ergibt, daß die relative Veränderlichkeit der beobachteten Verbrechenshäufigkeiten zu groß ist und schon außerhalb der brauchbaren Verteilungschemen fällt.

Die Verbrechen des Mordes, des Kindesmordes und des Totschlages sind ziffernmäßig zu wenig relevant, als daß ihnen eine eigene tabellarische Darstellung zu widmen wäre. Eine gesonderte Darstellung des Verbrechens der schweren körperlichen Beschädigung konnte wieder deshalb entfallen, weil sich die Kurve dieses Verbrechens eben wegen der zahlenmäßigen Bedeutungslosigkeit der vorerwähnten Delikte ganz mit der für die verbrecherischen Tötungen und Körperverletzungen überhaupt decken müßte. Die Entwicklung dieser Straffälligkeiten gibt der ganzen Reihe einen wellenartigen Charakter, der zeitliche Verlauf bricht allerdings im Jahre 1914 abrupt ab und macht nach dem ersten Weltkrieg einer Neuentwicklung Platz. Der Schrumpfungsprozeß wird besonders deutlich, wenn wir das Gefälle zwischen dem Höchstwert am Anfang der Periode (1884 bis 1888: 33,7 v. H.) und dem Tiefstwert an ihrem Ende (1934 bis 1937t 18,3 v. H.) messen. Die relative Häufigkeit ißt nahezu auf die Hälfte gesunken.

Was die Vermögensdelikte betrifft, so zeigt die Reihe der Projektionszahlen in den ersten drei Jahrzehnten eine geringe Abwärtsbewegung. Der scharfe Rückgang seit 1910 ergibt sich aus der in diesem Jahre vorgenommenen Verschiebung der Wertgrenzen. Dagegen bedeuten die Wertgrenzerhöhungen in der Inflationszeit keine Einschränkung des Verbrechensbegriffes, sondern nur eine Anpassung der Wertgrenzen an den verminderten Geldwert. Abgesehen von dem bedeutenden Anstieg der Diebstahlskriminalität nach dem Umsturz (1918) ist die relative Häufigkeit der Diebstahlsstraffälligkeit in der zweiten Hälfte der Periode entschieden gewachsen. Die Spannung zwischen dem ersten Jahrfünft der Periode (1884 bis 1888: 127,6) und dem letzten (1934 bis 1937: 231,6) beträgt 104.

Der Verlauf der Zahlenreihe der U n- zuchtsverbrechen läßt eine stetig zunehmende Tendenz erkennen; die relative Häufigkeit ist während des beobachteten Zeitraumes um das Doppelte gestiegen.

Die Abtreibung der Leibesfrucht hat mit der eigentlichen Kriminalität nichts gemein. Es ist darauf zu verweisen, daß infolge der Eigenartigkeit dieser Straftat die Abweichung der Verur- • teilungsziffern von der tatsächlichen Straffälligkeit ausnahmsweise wesentlich ist. Dieser Umstand wirkt jedoch Jahr für Jahr in gleicher Weise und fällt daher bei einer zeitlichen Betrachtung heute nicht mehr ins Gewicht. Im Ausgangsjahrfünft unserer Untersuchung gab es auf eine Million der strafmündigen Bevölkerung zwei Verurteilte, im letzten Jahrfünft der 50jährigen Periode hingegen um 16 auf 1 0 0.0 0 0. Gegen 1884 bis 1888 ist die Projektionszahl im Mittel der Jahre 1934 bis 1937. auf das 82fache gestiegen. Hier, wie bei der Unzuchtskriminalität, muß auf einen Umstand aufmerksam gemacht werden, der fast allgemein unbeachtet ist: auf die Verquickung von sozialpolitischen Aufgaben, mit Aufgaben des Strafrechtes. Ungesunde soziale Verhältnisse können nicht durch Strafen beseitigt werden.

Für die Jahre 1914 bis 1918 und 1938 bis 1945 mußte die Untersuchung hauptsächlich deshalb unterbleiben, weil in Kriegszeiten ein sehr großer Teil der Bevölkerung der militärischen Jurisdiktion unterstellt ist; dieser jeweilige Bruchteil ist aber sta-tistisch nicht erfaßbar. Die für die Jahre 1 946 und 1947 angegebenen Projektionszahlen können kein genaues Bild der Bewegung der Straffälligkeit nach dem Krieg geben. Jede Kri- minaktatistik erfaßt lediglich die Zahl der verurteilten Rechtsbrecher. Verurteilungsziffern sind aber vom Gang des gerichtlichen Verfahrens abhängig, wodurch der Eintritt der Rechtskraft des Strafurteiles oft längere Zeit hinausgeschoben wird.

Das tiefere Eindringen in die Zahlenmassen hat die verschiedensten Größenverhältnisse zutage gefördert, die zu einer kritischen Würdigung geradezu herausfordern. Doch wäre ein vorschnelle Urteil von Übel. Im Gegenteil, an dieser Stelle beginnt erst die eigentliche Forschungsarbeit, vor allem die Forschung nach den wirkenden Ursachen bestimmter Massenverhältnisse. Im übrigen soll die vorliegende Abhandlung nur ein bescheidenes Beispiel methodischer Erfassung von Erscheinungen auf dem Gebiete des Strafrechts sein.

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