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Die kritischen Leidenschaften...

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Im vorsowjetischen Rußland wurde die Kunst im wesentlichen von einer dürmen Schichte des gebildeten Adels und reichen Bürgertums getragen. Sie war westlich, insbesondere französisch orientiert. Die Oktoberrevolution und die nachfolgende Schreckensherrschaft rottete buchstäblich diese dünne Schicht aus und damit auch die Künstler, soweit sie nicht emigriert waren oder sich zumindest nach außen hin vollkommen der neuen Ordnung anpaßten. Im leeren Raum war es dann verhältnismäßig leicht, das starre Schema des sozialistischen Realismus rigoros anzuwenden und die Kunst, die sich vorher, wie in ganz Europa, aggressiv gegen die Gesellschaft gestellt hatte, in den Prozeß des Aufbaues einer neuen Gesellschaft wieder einzugliedern.

Als 1948 die Kommunisten in der Tschechoslowakei die Macht ergriffen, fanden sie in der Kunst und insbesondere in der Literatur Verhältnisse vor, auf die sich die Erfahrungen Sowjetrußlands nicht ohne weiteres übertragen ließen. Eine tschechische Literatur entstand erst wieder im 19. Jahrhundert unter dem Einfluß der deutschen Romantik. Es war eine integrierte Literatur insofern, als sie sich immer mit dem Streben des tschechischen Volkes nach Selbständigkeit identifizierte ja dieses recht eigentlich erst entstehen ließ. Auch zur Zeit, als knapp vor und nach dem ersten Weltkrieg im west-li hen Europa die Kunst der Gesellschaft entgegentrat und sie angriff, machten sich die tschechischen Schriftsteller zu den Wortführern des gerade entstandenen tschechoslowakischen i.aates, und befanden sich damit in Übereinstimmung mit den tragenden Schichten der tschechischen Gesellschaft. Kurz und gut, die tschechischen Literaten hatten sich nie in dem Maß außerhalb ihrer Gesellschaft und gegen sie gestellt, wie es im übrigen Westen der Fall war. Zwar gab es, wie anderswo auch, Dichter und Schriftsteller, die im Kommunismus die Möglichkeit sahen, die Gesellschaft hin zu sozialer Gerechtigkeit zu führen, aber die repräsentative .Literatur der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen war eine Staats- und gesellschaftstragende Literatur. .. ü , V. j_ In

Der tschechische Schriftsteller war also nie so sehr Bofremien als Bürger. Ihn nach der Machtergreifung der Kommunisten „umzuschulen“ und ihm eine Funktion im Programm der Volksdemokratie zu geben, erforderte also Maßnahmen, die nicht ohne weiteres von den russischen Kommunisten vorgebildet waren. Es muß als geradezu ingeniös bezeichnet werden, wie dieses Problem in der Tschechoslowakei gelöst wurde. Die tschechischen und slowakischen Schriftsteller wurden zu einem großen Verband zusammengefaßt, der regional gegliedert ist. Er gibt seinen Mitgliedern materielle Sicherheit, sofern sie sich an die Produktionsregeln halten, die der Verband beziehungsweise seine Funktionäre aufstellen und jeweils der Parteilinie anpassen. In diesem Regionalverband werden alle schlechten Eigenschaften der Literaten, und insbesondere der tschechischen Literaten, dem Regime nutzbar gemacht: der Brotneid, der Provinzialismus, der Lokalpatriotismus, die Eifersucht. Die Schriftsteller führen ein organisiertes Leben wie etwa FußballeT: im ständigen Wettkampf untereinander und in einem dauernden Training.

DIE „ANTI-BRÜNNER“ VERSCHWÖRUNG

Die Eigenschaften aber, die sich das Regime zunutze machen wollte, scheinen in unangenehmer Weise zu hypertrophieren. Der Lokalpatriotismus nimmt zum Beispiel Ausmaße an, die selbst für die Partei bedenklich sind. So wird in einer Glosse der „Literärni Noviny“. dem offiziellen Organ des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes, von einem „Wettkampf Prag-Brünn“ berichtet. Wortwörtlich schreibt dort der Kommentator: „Man könnte es .Wettkampf Prag gegen Brünn' nennen. Oder besser noch .Brünn gegen Prag', weil man in Sportberichten an erster Stelle die heimische Mannschaft anführt. Und tatsächlich führt der Repräsentant der mährischen Metropole .Gast ins Haus' auf seinem Spielplatz ein Spiel voller feiner Finten und breit angelegter Angriffe durch. In den letzten Nummern, hauptsächlich in der Märznummer, webt er ingeniöse Zusammenhänge, aus denen alles, was außer Brünn (jn der Literatur) geschieht, leicht angeschlagen hervorgeht; hingegen findet alles, was aus Brünn kommt, in der übrigen Tschechoslowakei nicht die gebührende Anerkennung... Prag ist im Untertext vieleT Absätze und Bemerkungen des .Gastes ins Haus' die Stätte des Hasses, der literarischen Unterwelt und der .a n t i b r ü n n e r' Verschwörungen . ■ ■“

Ein anderes ernstes Problem, das aus der Vereinsmeierei der tschechoslowakischen Literatur resultiert, ist die übergroße Zentralisation der Künstler in den großen Städten, hauptsächlich also in Prag, Brünn und Preßburg, wodurch die Provinz „unterernährt“ ist; die Künstler sind zugleich auch Propagandisten des Regimes, und besondere Aufmerksamkeit hinsichtlich der Umschulung gilt ja dem Land, nicht der Stadt. Darüber beklagt sich die Preßburger „Pravda“ in einem Leitartikel: „ ... in den letzten Jahren konstatierte man bei den jährlichen Versammlungen des Schriftstellerverbandes, daß das Studium der marxistisch-leninistischen Theorie nicht zufriedenstellend verläuft, weil es nicht fest organisiert, ausdauernd und auf Schlüsselfragen gerichtet ist... Um wieviel ernster (als bei der älteren Generation) ist dann der Zustand bei der jungen Künstlergeneration, die in das Kunstleben ohne vorhergehende Meinungsfestigung im Klassenkampf gelangt. Aber auch in anderen Künstlerverbänden kommen im Grund die gleichen Probleme vor. Ihre Lösung erfordert unverzüglich, daß aus der Arbeit der Künstlerverbände so bald als möglich der Geist der .Vereinsmeierei' verschwindet und daß aus ihnen bedeutende gesellschaftliche Organisationen werden, in denen Fragen des Schaffens wie der Ideologie und Politik behandelt werden ... Von 182 slowakischen Schriftstellern leben 121 in Preßburg, von 449 bildenden Künstlern sind hier 316 angesiedelt und von 120 Mitgliedern des Verbandes slowakischer Komponisten wohnen innerhalb der Stadtmauern 104 ... Aber die Parteiorganisationen auf dem Land, die Organisationen großer Betriebe und schließlich die Preßburger Verbände selbst sollten eine gesunde Ambition an den Tag legen, in ihrem Wirkungskreis gute Bedingungen für die existenzielle Sicherung einer mögliehst großen Anzahl von Künstlern zu schaffen. Es würde helfen, einige Kultur- und Kunstorganisationen aus Preßburg wegzuverlegen ...“

Auf der einen Seite führt die Zusammenfassung, der Schriftsteller in Vereine zu den un* erwünschten Erscheinungen der Zentralisation und des Provinzialismus. Auf der anderen macht sie aus dem Schriftsteller einen Spezialisten, der sich in seiner Produktion auf jenes Gebiet beschränkt, in dem er einmal Erfolg gehabt und Billigung des Verbandes gefunden hat. In der ersten Aprilnummer der „Literärni Noviny“ schreibt darüber Antonin J e 1 i n e k in einem Hinweis auf einen Essayband des verdienten Staatskünstlers Josef H o r a : „Schwerlich würden wir unter den zeitgenössischen Schriftstellern eine Persönlichkeit finden, die wie Hora — und damals war er nicht allein — imstande wäre, so intensiv die kulturelle Problematik seiner Zeit zu verfolgen und zu ihr Stellung zu nehmen. So haben zum Beispiel die grundlegenden theoretischen Gedanken zur proletarischen Kultur nicht die Theoretiker ausgesprochen, sondern die Dichter Wolker, Neumann, Hora ... Heute wird in der Literatur alles langsamer geboren ... vielleicht deshalb, weil die Schriftsteller' sorgenfreier arbeiten können ... So sind wir Zeugen einer vollkommenen Spezialisation des Kulturlebens: die Dichter dichten, die Prosaiker und Dramatiker schreiben und — schreiben nicht, die Chefredakteure komponieren Nachrichten über die Sitzungen des Zentralausschusses des Schriftstellerverbandes und stellen grundlegende programmatische Leitartikel zusammen und die Kritiker — wenn wir die Arbeitsbelastung derer wegdenken, die heute die Kritik „machen“, erscheint dennoch eine Tatsache, die eher betrübt: es scheint, daß ganz allgemein die kritische Leidenschaft schwindet... Man beachte nur, wieviel Mechanisches in der kritischen Arbeit unserer Schriftsteller vorhanden ist! Unter dem gewerblichen Referieren leidet heute insbesondere die Film- und Kunstkritik. Aber auch in der Literatur- und Theaterkritik kann man an den Fingern einer Hand abzählen, wer in der kritischen Arbeit eine Berufung sieht, nicht nur den Beruf eines Referenten ...“

Mit dem durchorganisierten Vereinsleben der tschechoslowakischen Literatur hat sich das Re-

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