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Die Last der Reue

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Kürzlich gab der bundesdeutsche Außenminister Brandt die Erklärung ab, er sei zu Verhandlungen mit der Tschechoslowakei über das Münchner Abkommen bereit. Solche und ähnliche Äußerungen von Bonner Politikern erregen immer wieder das Mißfallen bei den Vertriebenen, denn in dieser Frage geht es um weit mehr als etwa nur um historische Reminiszenzen, und daher muß man verstehen, daß die Betroffenen sehr hellhörig sind.

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Kürzlich gab der bundesdeutsche Außenminister Brandt die Erklärung ab, er sei zu Verhandlungen mit der Tschechoslowakei über das Münchner Abkommen bereit. Solche und ähnliche Äußerungen von Bonner Politikern erregen immer wieder das Mißfallen bei den Vertriebenen, denn in dieser Frage geht es um weit mehr als etwa nur um historische Reminiszenzen, und daher muß man verstehen, daß die Betroffenen sehr hellhörig sind.

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Im Herbst 1938 drohte Hitler wieder, einmal mit Gewalt. Diesmal sollte die Tschechoslowakei das Opfer seiner Agressionspolitik werden. Ob Hitler nur bluffte oder tatsächlich bereits zum Krieg entschlossen war, wird sich kaum feststellen lassen. Jedenfalls kam es in den letzten Septembertagen des Jahres 1938 auf dem Obersalzberg zu einer historischen Begegnung. Auf der einen Seite standen der deutsche und der italienische Diktator, auf der anderen der britische Premiermdni-ster und der französische Ministerpräsident. Ohne die Bewohner der Tschechoslowakei gefragt zu haben, wurde vereinbart, die in Böhmen, Mähren und Schlesien von Deutschen bewohnten Gebiete von der Tschechoslowakei abzutrennen und an das Deutsche Reich anzugliedern. Der Friede schien wieder einmal gerettet zu sein. Der Traum vom ewigen Frieden aber dauerte nur elf Monate!

Wenige Tage darauf zog Hitler in die abgetrennten Gebiete ein und wurde nicht weniger begeistert empfangen als etwa ein halbes Jahr vorher in Österreich. Die Sudeten-deutschen wurden aus dem tschechoslowakischen Staatsverband entlassen und bekamen die reichs-

deutsche Staatsbürgerschaft, mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen. So wie man die Südtiroler 1919 nicht gefragt hatte, ob sie italienische Staatsbürger werden wollten, so wenig hatte man damals die Sudetendeutschen gefragt, ob sie statt österreichische nunmehr tschechoslowakische Staatsbürger sein wollten. Ebensowenig fragte man sie im Herbst 1938 nach ihrem Willen. So wie nach dem ersten Weltkrieg von den Mächtigen über das Schicksal von Millionen Europäern entschieden worden war, so geschah es lim Herbst 1938 in München. Die Ereignisse von 1945 sind bekannt, und es würden kaum vernarbte Wunden wieder aufgerissen, würde das grauenvolle Geschehen jener Frühlingstage erneut in allen Einzelheiten geschildert. Man fragte damals nicht, wie sich der einzelne zwischen 1938 und 1945 verhalten hatte. Es gab keinen Unterschied zwischen sogenannten „Faschisten und Antifaschisten“, zwischen diesem oder jenem Berufsstand. Eduard Benesch hatte durch seine Maidekrete 3,5 Millionen Menschen für vogelfrei erklärt und einer vermeintlichen Kollektivschuld folgte die Kollektivstrafe. Die einzige, Vergünstigung, die den anerkannten

Gegnern Hitlers gewährt wurde, war die, daß sie ihr bewegliches Eigentum teilweise mitnehmen durften. Es war ein grausames Geschehen und selbst der sicherlich nicht rart-besaitete Winston Churchill zeigte sich im britischen Unterhaus erschüttert über das, was In Böhmen, Mähren und Schlesien In den Frühlingstagen 1945 vor sich ging. Solche Ereignisse können nicht ungeschehen gemacht werden. Bei den Betroffenen bleibt ein tiefer Stachel zurück. Dies natürlich auch dann, wenn es ihnen in der neuen Umgebung wirtschaftlich und sozial wesentlich besser geht als in der früheren Heimat. Wenn jemand Unrecht erleidet, dann wehrt er sich dagegen. Das gilt natürlich auch für eine ganze Volksgruppe. Aber auch bei den Tschechen selbst regt eich das Gewissen, und was 1945 geschehen äst, würde sich vermutlich heute nicht mehr wiederholen. Wenn Prag heute so viel daran gelegen ist, von Bonn eine Erklärung darüber zu erhalten, daß das Münchner Abkommen von Anfang an nicht existiert habe, dann wird man vor Abgabe einer Erklärung alle Aspekte beleuchten müssen. Am Prager Hradschin zeigte sich bis zum heutigen Tage nicht die geringste Bereitwilligkeit, offen und freimütig zuzugestehen, daß man den Sudetendeutschen für das Geschehen im Jahre 1938 eine Kollektivschuld anlastete und im Jaihre 1945 ein Kollektivurteil aussprach, das brutal vollzogen wurde. Wenn also Prag das Diktat von München in Frage stellt, dann könnten andere Völker aftich die Diktatverträge von 1918/19 anzweifeln, denn duirdh ein

Diktat wurde Österreich zerstört und die CSR geschaffen. Auch das ist geschichtliche Wahrheit. Aber das ist nicht die einzige Konsequenz. Würde nämlich das Münchner Abkommen als von Anfang an ungültig erklärt, hätte das noch andere und weit schwerwiegendere Auswirkungen. Dann wären nämlich 3,5 Millionen mit dem Stigma des Hochverrates gekennzeichnet. Alle ehemaligen Offiziere und Soldaten, die vor 1938 den Eid auf die tschechoslowakische Fahne geleistet hatten, wären zur Fahnenflüchtigen geworden. Fahnenflüchtige und Hochverräter werden in allen Staaten sehr hart gestraft. Mit dem Tode oder mit Vermögenskonflskation! Die Prager Machthaber wollen also eine nachträgliche Legitimation für das, was dm Frühjahr 1945 geschehen ist.

Und eine solche Bescheinigung erwartet man von Bonn. Da- Münchner Abkommen gehört heute der Geschichte an, und niemand wird sich finden, der unter Berufung auf diesen Vertrag eine neuerliche Okkupation bestimmter Gebiete von Böhmen, Mähren und Schlesien fordert. Wer aber eine Erklärung — und sei es auch nur indirekt — in der Form abgibt, daß 3,5 Millionen Menschen im Herbst 1938 gegen Recht und Gesetz gehandelt hätten und daher 1945 zu Recht bestraft wurden, der wird mit größten Schwierigkeiten zu rechnen haben, zumal die andere Seite noch nicht mit einem Wort zu verstehen gegeben hat, daß die Geschehnisse des Jahres 1945 bedauert werden. Schuldige hat es nämlich nicht nur auf einer Seite gegeben.

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