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Die Laterne am Josefsplatz

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AUS DEN FENSTERN DES PALAIS PALFFY geht der Blick über einen der architektonisch geschlossensten und schönsten Plätze Wiens, den Josefsplatz. Drüben steht die einstige Hofbibliothek, die wahrscheinlich Johann Bernhard Fischer von Erlach entwarf und sein Sohn Joseph Emanuel im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts, nach den Tagen von Peterwardein, weiterführte und Pacassi in den Jahren der Kaiserin Maria Theresia im Bestände sicherte. Wo immer die Blicke im Geviert umherwandern, .erzählen die Steine Geschichte, die man zu festlichen Tagen ins Scheinwerferlicht rückt. Vor dem Gebäude der Nationalbibliothek, die man ein Pantheon Karls VI. zu nennen beliebte, ein Refugium des Geistes und der Wissenschaft, hat die Arbeitsgemeinschaft Ost im Palais Palffy ihren Sitz aufgeschlagen: im Angesicht der Geschichte, der sachlichen Forschung, nicht abgetrennt von den Verkehrsadern der modernen Zeit, deren brausender Lärm auch durch die geschlossenen Fenster gebieterisch sich meldet.

STEHEN DIE TÜRKEN VOR DEN TOREN WIENS oder reitet der Prinz Eugen aus, schlägt Montecutcoli seine Schlachten? Nein, hin zu der Geschichte, die nur gegenwartszeugende Wirksamkeit werden kann, wenn man über Brücken von West nach Ost geht! Lieber zuweilen wohl schmale und mitunter auch schwankende, aber immerhin tragende Verbindungen, denen nichts übler anstünde als der alte Trab der Ostlandreiter. Eine „Arbeitsgemeinschaft Ost” in Wien bedeutet die Wegnahme der Initiative jener Leute, die sich jetzt (allerdings zumeist außerhalb unserer Landesgrenzen) in verdächtig geschäftiger Eile mit „Ostproblemen” befassen. Unter diesen Problemen kann man allerhand verstehen. Wien mußte in dieser Hinsicht zugreifen. Nur von dem Brückenkopf an der Donau kann der richtige Weg gegangen werden. Die Voraussetzungen dazu liegen traditionsgemäß vor…Bedanken-wir bloß-, daß die Reformation des Schulwesens unter Kaiserin Maria Theresia mit Vorschlägen des damaligen Leiters der Orientalischen Akademie, des Grafen Johann Anton von Pergen, bedacht wurde; überlegen wir, daß die Bedenken gegen das Theresianische Strafgesetzbuch, die „Constitutio criminalis Theresiana” hinsichtlich eines gleichlautenden Rechtes in den Ęrblanden von dem einstigen Präsidenten der obersten Justizstelle, Christoph August von Seilern, vorgebracht wurden mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die kulturelle Eigenart der verschiedenen Völker. Und vergessen wir nicht zuletzt die Neugründungen der Schulen im Südosten, etwa im Banat, wo jeder Siedlung das Schulhaüs zugeordnet wurde. Damals hat auch die Handelspolitik, die in der „Arbeitsgemeinschaft Ost” eine Stütze finden soll, ihre bedeutsamen Schritte gemacht (Handelsverträge mit der Türkei) und haben unternehmungsmutige Männer, wie etwa der Handelsmann Baron Friesz, den Stromschnellen und Untiefen der Donau trotzend, mit Waren her ladene Schiffe stromabwärts bis ins Schwarze Meer geschickt, hat sięh ein Navigationsdirektorium unter dem früheren Jesuiten Josef Welcker mit Schiffahrtsfragen befaßt, und wurden Verbindungswege, wie etwa die „Karolinenstraße”, welche Ungarn mit Fiume verband, gebaut. Das Volkstum der östlichen Länder wurde bewußt gepflegt, und es gibt eine Reihe von bedeutenden Büchern, die in der fremden Sprache bei uns in Wien zum ersten Male gedruckt wurden, ganz abgesehen von der Förderung des östlichen Pressewesens.

DER ÖSTERREICHER VON HEUTE braucht ein von Schlagworten ungetrübtes Bild des Ostens. Es ist unerläßlich für diesen Oesterreicher, sich mit den Sprachen der Ostländer vertraut zu machen, um in diesen Sprachen — wenn auch vielleicht zunächst nur als Handelspartner — den Briefwechsel’ zu erledigen, ohne erst umständlich Uebersetzungsbüros zu bemühen, deren Spesen ebenso wie der vermehrte Zeitaufwand kommerziell nicht zu unterschätzen sind. Der Oesterreicher muß sich weiters ein Bild machen können von den Rechtsbegriffen der benachbarten Länder - wie immer er zu ihrem momentanen gesellschaftlichen System steht. Er muß seinen Wortschatz, so er einen solchen bereits besitzt, erweitern durch die Formulierungen der Ideologien, die das Bild der Nachbarschaft mit den jetzigen Farbwerten versehen. Man redet aneinander vorbei, wenn man die Sprache der Jahrhundertwende gebraucht. Das ist rein geistig gemeint, ganz abgesehen von den seither sich rasant vorwärtsbewegenden technischen Vervollkommnungen und der wachsenden Industrialisierung der Länder, die wir vor fünfunddreißig Jahren in der Mittelschule noch vorgesetzt erhielten als „bloße Agrarstaaten”. In dieser Hinsicht erfüllt eine Einrichtung, wie die unter der Leitung von Ministerialrat Doktor Alfred W e i k e r t stehende „Arbeitsgemeinschaft Ost”, eine eminent pädagogische und zeitnahe Aufgabe, auch wenn sie in ihrer Art eine ausgesprochene Neuheit darstellt und auf keinerlei Hinweise aus der Erfahrung sich stützen kann. Die ersten Wiener Kurse haben am 1. Dezember des Vorjahres begonnen; Graz folgte an seinem Institut für Slawistik (Mozartgasse 3) am 19. Jänner, Linz (Volksgartenstraße 36) am 23. Jänner dieses Jahres.

WER HEUTE NACH GESETZEN FRAGT, die in Osteuropa in Geltung sind, stünde — fände er nicht den Weg ins Haus Josefsplatz 6 — vor einem monatelangen Suchen, würde sich sicher mehrfach irren .und zuletzt auf ein verwaschenes Gewebe kommen, das ihm keine guten Dienste leistet. Man hat nicht umsonst — zuletzt bei der UNESCO-Tagung der Generaldirektoren europäischer Bibliotheken in unserer Nationalbibliothek, wobei sehr beachtete Gäste aus dem Osten anwesend waren — sich ernsthaft um die Frage der zweckmäßigen Dokumentation bemüht. Die „Arbeitsgemeinschaft Ost” erkannte schon früher die Wichtigkeit eines Ueberblicks über die Gesetzgebung der Oststaaten. Wir erfahren von den hierzu berufenen Fachmännern, daß vor vier Jahren mit der Sichtung des legislativen Materials begonnen wurde. Zwischen 1955 und 1958 sind 14.000 Gesetztitel durch Uebersetzung erschlossen worden. Die Gesetzblattsammlung ist in den Räumen der „Arbeitsgemeinschaft Ost” der öffentlichen Benützung zugänglich.

GESETZE UND PAPIER — das wäre allerdings wenig. Die Wissenschaftler am Josefsplatz betrachten solche rein praktischen Aufgaben nur als Teil ihrer Aufgaben. Die „Arbeitsgemeinschaft Ost” hat in Uebereinstimmung mit den Wirtschafts- und Verkehrsstellen eine Osf- akademie ins Leben gerufen. Die Kursteilnehmer sollen Einblick in die Marktlage der osteuropäischen Staaten gewinnen und die österreichische Stellung bei den wirtschaftliche Verhandlungen untermauern. Zunächst ist eine Kursdauer von fünf Monaten vorgesehen. Es finden Vorlesungen in russischer Sprache und Handelskorrespondenz, Unterricht in Wirtschaftsgeographie, sowjetischem Recht und Verfassungszustand statt. Es wird nichts über den Kamm geschoren. Jeder Kursteilnehmer erhält, das wird uns ausdrücklich versichert, ein individuelles, zu seinem Beruf passendes Thema zur Bearbeitung. Auf diese Weise, so hofft man, wird es in absehbarer Zukunft möglich sein, wirkliche Experten in handelspolitischen und technischen Fragen heranzuziehen. Wir werden in Wien nicht mehr gezwungen sein, sozusagen über ein Relais zu arbeiten, wobei sich immer fremde Interessen einmischen können.

EINE WISSENSCHAFTLICHE EINRICHTUNG publiziert natürlich. Sie lebt gerade in Fragen des Ostens nicht im Glashaus. Aus diesem Gesichtswinkel muten uns die „Wiener Quellenhefte zur Ostkunde”, die wir in die Hand bekommen, zweckmäßig an. Die „Reihe Kultur” stützt sich auf Originalquellen. Es wird eine Uebersicht geboten, was in Universitäten, Akademien, Schulen, Büchereien, Museen, im Bereiche der Erwachsenenbildung (Volksbildung), im Verlags- und Pressewesen, in Theater, Rundfunk und Fernsehen im Osten los ist. Das ist ja ein Gebiet, das in der Berichterstattung von Unrichtigkeiten und Verzerrungen aller Art nur so strotzt. Ich frage so nebenbei, weil es mich interessiert, ob es eine slowakische Hochschulbibliothek gibt. Und schon habe ich den gedruckten Hinweis in der Hand. Es gibt nicht emei .sondern drei’ allgemeine Zeatralbibjjo- theken an Hochschulen, zehn bibliothekarische Zentralbibliotheken an den Fakultäten von Preß bürg an bis Kaschau und nebenbei 334 Institutsbüchereien. Die Frage und die Antwort hätten wir schwerlich so schnell irgendwo anders erhalten. Außer der „Reihe Kultur” wird die „Arbeitsgemeinschaft Ost” noch Reihen über Landeskunde, Recht und Wirtschaft herausgeben. Die Zusammenfassung des Stoffes ist leicht, denn die Randlochung erlaubt Einreihung in Ordner.

WELCHE PLÄNE STEHEN NOCH AUS, fragen wir. Nun, da ist vor allem der großangelegte Atlas der Donauländer, ein Hilfsmittel wissenschaftlicher Information, eine Gemeinschaftsarbeit vieler Fachleute. Da halten wir die Arbeitskarte in der Hand. Maßstab 1:2 Millionen. Vom Norden, von den böhmischen Randgebirgen, geht der Blick entlang der Linie Kielce —Wladimir-Wolynskij, am Ostrand fällt noch Odessa herein, der Süden schließt Albanien und Nordgriechenland ein. Und in der Mitte, wie eine Pulsader, der Lebensstrom der Donau. Wenn man in der Bibliothek, die zu den beachtlichsten Schätzen der „Arbeitsgemeinschaft Ost” zählt, dieses siebzig Zentimeter lange und mehr als sechzig Zentimeter hohe Kartenblatt auf den Tisch legt, dann schweigt in den Ohren, während der Blick dem Donaulauf folgt, der Dreivierteltakt des Donauwalzers und auf steigt unerbittlich die Realistik der maschinendurch- rüttelten und vom schaffen Geisteskampf durch-’ wehten Gegenwart der Länder im Osten.

IN SEINER’ REDE ZU FRANKFURT in der Paulskirche hat am 26. Oktober 1848 Ludwig Uhland neben viel Zeitgebundenem die wahren Worte von den slawischen Stämmen gesprochen, in denen mit Recht „das Nationalgefühl hoch- aufgeglüht ist” und später den berühmten Satz gesagt: „Oesterreich hat den providentiellen Beruf, nach Osten hin mächtig zu sein, nach dem Osten Aufklärung und Gesittung zu tragen.” Der Dichter prägte das Bild von der „Laterne für den Osten”. Mehr als hundert Jahre später begreifen wir das Symbol tiefer. Vor dem Haus Palffy steht auf hohem Postament Kaiser Josef II., Träger einer materiellen Siedlungsidee, die Hand nach Nordosten, in den slawischen Raum ausgestreckt. Die gleiche Hand weist aber auch auf das Haus Josefplatz 6, in dem die Wissenschaft siedelt und Siedler sucht.

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