6722693-1965_19_01.jpg
Digital In Arbeit

Die Lippen und die Zahne

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn es noch immer Menschen gibt, die trotz der stetigen Ausweitung des Krieges in Vietnam darauf vertrauen, daß die menschliche Vernunft zur Verhütung eines Atomkrieges ausreicht, kann man sie um ihre Euphorie beneiden. Rechenmaschinen haben bekanntlich festgestellt, daß der erst Weltkrieg nicht stattgefunden habe, weil die unemotionellen Maschinen die menschliche Irrationalität nicht in Rechnung stellen können. Was sagen diese Maschinen wohl erst zum Vietnamkrieg, in den fast alle Beteiligten noch schlafwandlerischer hineintappen als in den Krieg von 1914?

Vier Staaten, deren primäres Interesse darin besteht, die Hegemonie eines fünften zu verhindern, bekämpfen sich um sekundäre Streitpunkte, mit zunehmender Erbitterung, zur Freude und zum Nutzen eben dieses fünften. Die Amerikaner wollen Südostasien nicht China überlassen. Die Russen wollen sich von China nicht aus Asien ausschließen lassen. Die Vietnamesen wollen nicht von Ausländern beherrscht werden. Die Chinesen schüren das Feuer, obwohl sie wissen, daß sie sich selbst in Gefahr begeben, weil sie die große Chance haben, als einziger, wenn auch schwer angeschlagener, Gewinner herauszukommen.

Die Amerikaner waren verblendet, eis sie nach Dien-Bien-Phu in die verwehten Fußspuren der Franzosen traten und darnach alle Möglichkeiten eines ehrenvollen Rückzuges verpaßten. Hätte damals Diplomatie regiert, hätte man die Möglichkeiten, Ho Tsch-min zu einem asiatischen Tito zu entwickeln, genützt! Alles sprach dagegen, daß sieh die Vietnamesen dazu hergeben würden, Schrittmacher der chinesischen Expansion zu werden, nachdem sie Chinas verhaßte Oberherrschaft erst im vorigen Jahrhundert abgeschüttelt (hatten. Jedoch die Gleichung „Kommunist ist gleich Kommunist“ war zu verführerisch simpel.

Warum mißtrauen die Chinesen wohl Ho Tschi-min heute noch und geben, im Gegensatz zu den Russen, ihre Hilfe nicht Hanoi, sondern den Vietkong? Man muß auch in Betracht ziehen, daß einmal Vereinbarungen nicht zuerst von den Kommunisten gebrochen wurden. Es war Diem, der den Beschluß der Genfer Konferenz, 1956 allgemeine Wahlen in Vietnam abzuhalten, wegfegte.

Auch die Russen kalkulierten falsch, als sie, im Glauben, die USA seien am Ende ihres Lateins, mit beiden Beinen kühn in den vietnamesischen Morast sprangen. Für sie ergab sich überhaupt keine Gelegenheit zu einem ehrenvollen Rückzug. Zwar berichtete „Die Zeit“ kürzlich aus Washington, die Sowjets seien bereit, für Zugeständnisse in Europa Vietnam aufzugeben. Könnten sie nach einem solchen Geschäft ihren, von den Chinesen leidenschaftlich bestrittenen, Anspruch, eine asiatische Macht zu sein, aufrechthalten? Würden sie daher nicht einen Preis fordern, der das Zahlungsvermögen des Westens weit übersteigt?

An den USA beweist es sich, daß verpaßte Gelegenheiten nie wiederkommen. Der versäumte Rückzug kann nicht nachgeholt werden, denn sonst hätte man als Weltmacht abgedankt. Nun kann man nur hoffen, daß die Feinde genügend Vernunft haben, um einem eine goldene Brücke zu bauen. Werden sie aber mehr Vernunft haben als man selbst? Besonders diejenigen, die viel weniger zu verlieren haben?

Manche Leute meinen, daß Präsident Johnson, überzeugt, Chinam esse delendam, bevor es zu einer Atommacht wird, die Entwicklung in Vietnam ebenso nützlich findet wie seinerzeit Roosevelt den Angriff auf Pearl Harbor. Kriegsminister McNamaras zweideutige Erklärungen nach seiner Rückkehr von der Konferenz in Honolulu sind nicht dazu geeignet, einen solchen Verdacht zu entkräften. Wenn die bisherigen Angriffe die Infiltration aus dem Norden nur geringfügig verlangsamt haben, wird ihre Steigerung nicht eher die Schleusen für die chinesischen „Freiwilligen“, die die Nordvietnamesen gerne geschlossen halten möchten, öffnen, als das Reservoir austrocknen? Zwar wird dem entgegengehalten, China könnte nicht viel Hilfe schicken, weil es nur zwei Eisenbahnlinien nach Vietnam gebe, die leicht unbrauchbar gemacht werden könnten. Seit wann aber sind asiatische Partisanen von der Eisenbahn abhängig?

Jedoch, nichts gibt zu der Annahme Grund, daß der Präsident ein Hasardeur ist, der meint, das Problem, Chinas atomaren Aufstieg zu verhindern, könne anders als im Einvernehmen mit der Sowjetunion gelöst werden. Zumindest vorläufig deutet alles darauf hin, daß der mit allen Wassern gewaschene Realist im Weißen Haus eine Lösung anstrebt, die es den Vereinigten Staaten ermöglicht, sich in Ehren aus der Verstrickung in Vietnam zu lösen.

China gibt sich den Anschein, als ob ihm die Gefahr, daß es zum Kriegsschauplatz wird, gleichgültig sei. Schließlich könnte das Resultat einen großen Einsatz lohnen. Mit jeder Steigerung des Krieges in Vietnam kommt China seinen zwei Zielen, der Beherrschung Südostasien und einer Auseinandersetzung zwischen seinem Todfeind, den USA, und seinem mißliebigem Nachbarn, der UdSSR, ein klein wenig näher. Es ist aufschlußreich, wenn man im „Peking Review“ vom 2. April liest, „China und Vietnam gehören so eng zusammen wie die Lippen und die Zähne“. Für das zweite Ziel, die atomare Götterdämmerung, gibt es wohl kein Opfer, das für ein Volk von beinahe 800 Millionen mit einem jährlichen beängstigenden Geburtenüberschuß zu groß wäre.

Von diesem Gesichtspunkt aus Ist es erklärlich, wenn eine Regierung, die, nach westlichen Begriffen, leisetreten müßte, bis sie eine Atommacht geworden ist, den Haß gegen die Vereinigten Staaten mit mehr Fanatismus als Goebbels schürt. So kann man in der Zeitung „Remnin Ribao“ lesen, die USA haben „seit 11 Jahren... beinahe 170.000 Menschen umgebracht... durch Verwundungen und Folterungen 800.000 andere dauernd zu Krüppeln gemacht ... zehntausende Frauen vergewaltigt ... beinahe 5000 Personen die Eingeweide herausgerissen oder lebendig begraben... halten über 400.000 Menschen in mehr als tausend Gefängnissen fest... sind grausamer als Hitler je gewesen ist“. Optimistischerweise kann man diese Haßtiraden auch als die üblichen Ausbrüche ohnmächtiger Wut ansehen. Uberhaupt war Rotchina von jeher in Worten viel unbeherrschter als in Taten.

Wie denkt die amerikanische Öffentlichkeit über den Vietnamkrieg? Seine verworrene Natur, seine zweideutigen Ursprünge, seine apokalyptischen Möglichkeiten lassen keine Begeisterung, sondern höchstens eine einem Gefühl unabwendbarer Notwendigkeit entspringende nationale Disziplin aufkommen. Eine kleine Schar weit rechts Stehender, deren Sprachrohr die sehr intellektuelle Zeitschrift „National Review“ ist, hat zuwenig Bedeutung, um diese Feststellung zu modifizieren. „National Review“ predigt seit Jahr und Tag einen Kreuz-zu.g gegen den atheistischen Kommunismus.

Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt einen schmählichen Rückzug ab, vertraut aber darauf, daß die Regierung jede Möglichkeit eines ehrenvollen Friedens wahrnehmen wird. Etwaigen weitreichenden Plänen steht sie mit Skepsis gegenüber. Sollte die Regierung daher solche Pläne verfolgen, müßte sie erst einmal viel Mühe auf „Aufklärung“ verwenden.

Die Republikanische Partei ist in ihrer Mehrzahl für eine harte Politik. Sie droht dem Präsidenten, sie würde darüber wachen, daß er keine Schwäche zeigt. Der Anhang der Partei ist jedoch nicht so groß, als daß diese Drohung den Präsidenten wesentlich in seiner Bewegungsfreiheit einschränkt. Die Haltung der Partei kann möglicherweise darauf zurückgeführt werden, daß die Eisen-hower-Adminstration die Intervention in Vietnam begann. Dadurch, daß Richard Nixon der artikulierteste Fürsprecher einer harten Politik i:t, hat er viel verlorenen Grund in seiner Partei zurückgewonnen. Als einziger Demokrat unterstützt Senator Dodd, der in seinem Chauvinismus oft mit Goldwater verglichen wird, die republikanische Linie.

Dagegen spiegelt der demokratische Senator Fulbright, den Johnson einst als Staatssekretär In Betracht zog, mit seiner Forderung nach einer zeitweüigen Suspendierung der Bombehangriffe die Meinung des größten Teiles seiner Partei wider. Allerdings vermeiden die meisten demokratischen Politiker aus begreiflichen Gründen, solche Ansichten öffentlich zu verkünden. Angeblich soll Johnson über die zögernde Haltung seiner Partei enttäuscht sein.

Die Opposition gegen den Krieg an sich macht zwar sehr viel mehr Lärm, ermangelt aber eines Zentrums. Unter den Politikern sind die demokratischen Senatoren Wagno Morse und Ernest Gruenlng die hauptsächlichen Kriegsgegner. Ihr Einfluß ist gering. Einflußreichere Senatoren haben sich von ihnen zurückgezogen, seitdem der Präsident sich zu Verhandlungen bereit erklärte. Senator Morse warnte: „Unsere Mißachtung der Satzungen der Vereinten Nationen wird die USA in einen asiatischen Krieg verwik-keln, mit dem sie nicht fertig werden.“ Eine kleine Schar von Mitgliedern des Repräsentantenhauses, darunter auch Republikaner, sandten einen Protest an den Präsidenten.

Unter den Zeitungen hat allein die einflußreiche „New York Times“ klare Stellung gegen den Krieg bezogen. Viele Tageszeitungen sind jedoch mehr oder weniger skeptisch. Von katholischen Zeitschriften sind es vor allem „Commonweal“ und „Ramparts“, die den Krieg ablehnen. Überhaupt ist der Klerus, besonders der protestantische, in der Opposition gegen den Krieg sehr aktiv. 2500 Pfarrer gaben ein ganzseitiges Inserat in der „New York Times“ auf, dessen Titel war „Im Namen Gottes macht Schluß“. Angeblich soll dieses Inserat in Kürze nochmals mit der Billigung von 60.000 Geistlichen erscheinen.

Auf einer anderen Ebene liegen die lautstarken Proteste seitens der Studenten. Man ist sich nicht gewiß, ob die jungen Leute von Idealismus oder von Geltungsbedürfnis oder von der Überzeugung, daß das Leben zu süß ist, um einen Einsatz zu lohnen, motiviert werden. 15.000 Studenten standen Ostern vor dem Weißen Haus Posten mit Antikriegsplakaten. An einer Reihe von Universitäten wurden Protestkundgebungen, die mit der Vorführung von Vietkong-Filmen abwechselten, die ganze Nacht hindurch abgehalten, darunter auch an der Harvard-Universität, der berühmtesten Hochschule des Landes. Die Möglichkeit, daß die Kommunisten bei diesen Protesten ihre Hand im Spiel haben, wird von zwei so gegensätzlichen Zeitschriften wie dem schon erwähnten „National Review“ und dem ultralinken „National Guardian“ zugegeben.

Während die Studenten demonstrieren, wartet die Bevölkerung die kommenden Ereignisse nicht ohne Nervosität ab. Man fragt sich, ob die Vietkong den ihnen aus dem bevorstehenden Monsunregen erwachsenden Vorteil zu massiven Angriffen auf amerikanische Stützpunkte ausnützen werden, ob China zur Entlastung der Vietnamesen Laos angreifen wird. Man hofft, daß die Russen Flugzeugabwehrraketen nur um Hanoi und Haiphong, Orte, die aus den amerikanischen Angriffsplänen ausgeklammert sind, anbringen werden. Man hat ein ungutes Gefühl, wenn man hört, daß die USA keine Wahl hätten, als massive chinesische Angriffe mit Atombomben zu beantworten.

•Alles in allem würde man daher einen ehrenvollen Frieden, aber keinen anderen, mit einer Erleichterung aufnehmen wie nie zuvor. Man ist auch darauf vorbereitet, daß ein solcher Frieden kein formeller sein, sondern aus einer stillschweigenden Trennung der Feinde bestehen wird.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung