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Die Minderheit in der Minderheit

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Rund 50 Reformjuden aus Zürich, Wien und zwölf deutschen Städten trafen unlängst in Wien zusammen.

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Rund 50 Reformjuden aus Zürich, Wien und zwölf deutschen Städten trafen unlängst in Wien zusammen.

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Wären da nicht die typischen Kopfbedeckungen der Männer gewesen, nichts hätte darauf hingewiesen, daß in dem Barocksaal des Wiener Europahauses ein jüdischer Gottesdienst gefeiert wurde. Auch der Mann am Pult wirkte in seinem modernen Anzug keineswegs so, wie man sich gemeinhin einen Rabbiner vorstellt. Und doch war es ein „klassischer” jüdischer Gottesdienst, der hier im Rahmen eines dreitägigen Seminars „Progressives Judentum und Halacha” abgehalten wurde.

Was für Nicht-Juden erstaunlich klingt, stößt in traditionellen und konservativen jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum auf heftige Ablehnung. So war es kein Zufall, daß die Vorträge sowie die Leitung der Gottesdienste und Workshops bei diesem Treffen in Wien durch Rabbiner aus den USA, aus Großbritannien und Israel erfolgten: Walter Jacob, 1939 aus Augsburg emigriert, Rabbiner in der 16. Generation seiner Familie; Jonathan Ma-gonet, Mediziner und Rektor des liberalen Leo Baeck-Rabbiner-Colleges in London; Tovia Ben-Chorin, gebürtiger Israeli, in den USA zum Rabbiner ausgebildet. „In Deutschland sind die jüdischen Gemeinden strenger als in Israel”, meinte ein Teilnehmer aus Frankfurt. In Wien wird die hundert Mitglieder zählende liberal-progressive Gemeinde Or Chadach, die seit fünf Jahren existiert, geradezu angefeindet und von jüdischen Zeitungen boykottiert.

Worin bestehen die Unterschiede, die es traditionellen Juden so schwer machen, das Reformjudentum zu tolerieren? Von der Stellung der Frau (gemischte Sitzordnung in der Synagoge, die Wahl von Rabbinerinnen) abgesehen, sind es weniger die Unterschiede in der Liturgie (es gibt eigene Gebetbücher für Reform-Synagogen) als die Frage: Wer ist Jude und wer nicht? Im Gegensatz zu traditionellen Juden akzeptieren die Reformjuden auch den Vater zur Bestimmung der Zugehörigkeit zum Judentum.

Darüber hinaus akzeptieren sie interkonfessionelle Ehen. Wohl versuchen sie, den nicht-jüdischen Teil zum Übertritt zu motivieren, im Sinne ihrer liberalen Einstellung gibt es aber kein Muß zum Konvertieren. Und beim Übertritt legen sie weniger Wert auf detaillierte Vorschriften; im Mittelpunkt steht das Wissen vom Judentum, das sich Konvertiten in monatelangem Studium erwerben müssen. Selbstverständlich sind auch Dialoge nicht nur mit Christen, sondern auch mit Moslems, und die Aufgeschlossenheit gegenüber Veränderungen in Liturgie und Interpretation: dem Reformjudentum geht es um die Verknüpfung von Vergangenheit (Tradition), Gegenwart (Aktualität) und Zukunft (Hoffnung).

Bedenkt man, daß das Reform Judentum vor fast 200 Jahren seinen Ursprung in Deutschland hatte und noch 1920 zwei Drittel aller europäischen jüdischen Gemeinden Reform-Gemeinden waren, wird deutlich, welche Zäsur die NS-Zeit und der Zweite Weltkrieg - von England abgesehen - auch in dieser Hinsicht bedeutet hat. Die Blüte des liberalen Judentums in den USA begann mit der Auswanderung deutscher Juden zwischen 1840 und 1880, die sich wegen der fehlgeschlagenen liberalen Revolution von 1848 zur Auswanderung entschlossen hatten; 80 Prozent von ihnen schlössen sich dem Reformjudentum an. Heute sind ein Drittel der englischen und zwei Drittel der amerikanischen Juden Mitglieder von Reformgemeinden.

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