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Die Negerin im Autobus

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In gewisser Hinsicht hat die Zivilrechtsbewegung der farbigen Amerikaner vor zehn Jahren in Montgomery, Alabama, begonnen, als eine Negerin sich weigerte, ihren Omnibussitz einer Weißen abzutreten. Der begonnene Boykott gegen die Buslinie, die „Freedom riders“, die „Sit ins“, die Organisation der gewaltlosen Boykotts, Demonstrationen und Wahlrechtsforderungen blieben für lange Zeit Angelegenheit der schwarzen Selbstwehrverbände christlich-gandhischer Prägung. Selbst als sich im Herbst 1963 zirka 200.000 Demonstranten beim „Marlfch auf Washington“ unter dem Denkmal Lincolns zusammenfanden, um der Bürgerrechtsvorlage Kennedys Nachdruck zu verleihen, waren die weißen Teilnehmer, obwohl nicht wenige, zumeist einzelne: Intellektuelle liberaler Observanz, Gewerkschaftler, Christen mannigfacher Kirchen, Juden und „Linke“. Als diesmal, nachdem Präsident Johnson in seiner Botschaft an die Nation, in der er zweimal den Kampfruf der Zivilrechtsbewegung aufnahm, „We shall overcome!“, ein endgültiges Wahlgesetz vorschlug, das — besonders im Süden des Landes — alle Hemmungen beseitigen würde, Neger an der Ausübung ihres Wahlrechts zu hindern, hatte sich die Zivilrechtsbewegung wesentlich verbreitert. Als die Bürgerrechtsgruppen zum Protestmarsch nach Montgomery für gleiches Wahlrecht und gegen Polizeibrutalität aufriefen, forderte die offizielle Vertretung der protestantischen Kirchen die Geistlichen ihrer Gemeinden zur Teilnahme auf, und die AFL-CIO, die noch in Washington nur durch einen „Flügel“ vertreten war, sandte einen offiziellen Vertreter.

Negerverbände, die Administration, die Gewerkschaften und die Kirchen sandten 25.000 Frauen und Männer nach dem gleichen Montgomery, in dem vor zehn Jahren einer Negerin ein Autobussitz verweigert worden war, trotzdem die State-troopers des Gouverneurs von Alabama in Selma hunderte zusammengeschlagen hatten.

Und dann kamen zwei Morde: ein protestantischer weißer Geistlicher und die ebenfalls weiße Frau eines höheren Gewerkschaftsführers wurden getötet, die letztere als die vom Präsidenten unter sein Kommando gestellten Nationalgarden Alabamas und die föderalen Truppen kaum die Autostraßen zwischen Selma und Montgomery geräumt hatten.

Es kann keinen Zweifel unterliegen, daß sich damit die Atmosphäre im Land (auch im Süden) grundlegend zu wandeln beginnt: Die Terrorakte des Ku-Klux-Klan haben vor allem der südstaatlichen Geschäftswelt, aber auch Ortsgruppen beider Parteien einen heilsamen Schrecken eingejagt.

Selbst die Führung anderer Südstaaten absentiert sich. Der Gouverneur von Texas hat sich in unmißverständlicher Schärfe gegen Alabamas Gouverneur Wallace gewandt, und das in keiner Weise als „links“ zu bezeichnende Komitee des Repräsentantenhauses zur Bekämpfung unamerikanischer Tätigkeiten hat einstimmig beschlossen, unverzüglich der „Kriegserklärung“ des Präsidenten an die Klan-Gruppen mit Untersuchungen der Rechtsradikalen (und der „Black Muslims“) Hilfestellung zu geben.

In Detroit hat der republikanische Gouverneur Romney sich an die Spitze einer riesigen Sympathiekundgebung für den Alabama-Kampf um die Gleichheit der Amerikaner schwarzer Hautfarbe gestellt.

Selbst Wallace, Gouverneur von Alabama, begriff, daß der Terror des Klans jede moralische Grundlage für seinen auf dem Prinzip der „Souveränität“ der Einzelstaaten beruhenden Widerstand gegen die Zivilrechtsbewegung im allgemeinen und die Wahlrechtsvorlage im besonderen zu nehmen beginnt.

Alabama (und wahrscheinlich Mississippi, wo noch immer, die Mörder der drei Bürgerrechtsvorkämpfer sich der Freiheit erfreuen!) wird selbst dann, wenn aus praktischen Gründen der Boykott-Vorschlag Martin Luther Kings nicht oder nur begrenzt in die Tat umgesetzt werden kann, in eine psychologische Situation im Gesamtrahmen der Vereinigten Staaten versetzt werden, die einem Pestkordon ähnlich ist.

Als man die Sache der Neger durch die nicht endenwollenden Gewalttaten der Integrationsgegner zur Sache der Gesamtnation machte, die Kirchen und die Arbeiterbewegung endgültig an ihre Seite trieb, hat man der eigenen Sache den Todesstoß gegeben.

Die — unpolitischen — New Yorker Untergrundbahnüberfälle genügen, ihn nervös zu machen: den mörderischen Mummenschanz der aus „Weltanschauung“ Panik verbreitenden Klan-Leute ist er nicht willens, weiterhin zu dulden. Die Gegenfront gegen die Zivilrechtsbewegung ist im Zusammenbrechen.

Montgomery dürfte seit langer Zeit zum erstenmal die von 25.000 Frauen und Männern gesungene Nationalhymne gehört haben. Hunderte und aber Hunderte von Fahnen, die das Sternenbanner zeigten, standen der Flagge der rebellischen Konföderation gegenüber, die noch immer vom Regierungsgebäude Alabamas weht. Die Ereignisse in Alabama: — nicht nur die Morde, auch die Tatsache, daß auf der anderen Seite in der Tat „keine Fensterscheibe eingeschlagen“ wurde, haben der überwiegenden Mehrheit der Nation gezeigt, daß man die „neue Gesellschaft“ nur bauen kann, wenn man die Augen nicht länger schließt, aber auch den Negerverbänden, daß man die eigenen Ziele nur erreichen kann, wenn man das angebotene Bündnis von Administration, Kirchen und Arbeiterbewegung annimmt und in allen wichtigen Fragen der Erziehung, des Häuserbaues, der Gleichberechtigung überhaupt für die gemeinsam kämpft, die heute benachteiligt sind: Farbige und Weiße!

Die Umwandlung einer Minderheitsbewegung in eine „koalitionsbereite“ gesamtnationale Reformbewegung geht nicht von heute auf morgen.

Die Geschehnisse in Alabama im Frühjahr 1965 mögen in ihrer Dramatik für manchen Beobachter nur eine von vielen innenpolitischen Konfliktsituationen sein, denen sich die Johnson-Regierung gegenübersieht (läßt man in diesem Zusammenhang einmal die Außenpolitik, Vietnam, ganz aus dem Spiel!): In Wirklichkeit sind sie der Beginn einer Umord-nung der Ordnungs- und Unruhekräfte im Land gewesen.

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