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Die „neue Resistance“

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Seit vor sechs Jahren der Algerienkrieg ausgebrochen ist, stehen dem Franzosen drei Verhaltensweisen gegenüber diesem Krieg und seinen bekannten, von beiden Lagern begangenen Unmenschlichkeiten offen. Die simpelste und im Ausland am wenigsten überzeugende, bei der Struktur des französischen Geistes im Lande selbst aber immer noch wirksame Haltung ist die „juristische“ : Algerien sei nach der Verfassung ein Bestandteil Frankreichs; das verbiete dem Ausland jegliche Einmischung wie auch jeder französischen Exekutive das Preisgeben dieses Territoriums. Nach dieser Argumentation ist Recht und Unrecht eindeutig geschieden — der Krieg ist nach ihr einfach eine „Polizeiaktion“ gegen Kriminelle. Die konsequenten Nationalisten, die sich insbesondere im Berufsoffizierskorps und bei den Paras finden, machen sich meist offen über solche juristische Vorbehalte lustig. In sehr vielen Fällen streiten sie auch die vom eigenen Lager begangenen Unmenschlichkeiten gar nicht ab: diese seien in dem gegen Frankreich entfesselten „revolutionären Krieg“ unvermeidlich. Ihn „humanitär“ führen zu wollen, wäre Wahnsinn in einer Auseinandersetzung wie dieser, in der es nicht nur um das Schicksal der eigenen Nation, sondern auch ganz Europas gehe (der Algerienkrieg ist für sie nichts anderes als ein „Umfassungsmanöver des Bolschewismus“). Die dritte Haltung aber könnte man am ehesten die der Moralisten nennen, weil sie die moralischen Erwägungen eindeutig den politischen überordnet. Für sie gibt es kein Ziel, das die Unmenschlichkeit als Mittel rechtfertige.

Diese dritte Haltung war bisher gegenüber den beiden andern im Nachteil. Die wenigen Einzelgänger, die eindeutig Stellung zu nehmen wagten — Sartre, ein paar andere „heimatlose Linke“, ein paar Linkskatholiken (aber nicht mehr Mauriac, der seit dem Machtantritt seines Idols de Gaulle den Mund nicht mehr auftut) —, diese Einzelgänger also wurden durch eine dicke Wolke von Verdächtigungen und Verfemungen innerhalb der Gemeinschaft isoliert. Als „vaterlandslose Gesellen“ galten sie, als „Dreckfinke, die das eigene Nest beschmutzen“, oder im günstigsten Fall als „Weltfremde, die abstrakten Idealen opfern“. Es war selten, daß sie mehr als verstohlene Zustimmung registrieren konnten. Selbst die Kommunistische Partei hütete sich trotz ihres theoretischen „Antikolonialismus“ aufs ängstlichste, sich irgendwie mit jenen „Geächteten“ zu solidarisieren.

Das hat sich nun, wie ein in diesen Tagen veröffentlichtes Manifest und ein in Paris durchgeführter Prozeß zeigt, auffallend geändert. Und es kann nicht übersehen werden, daß de Gaulle an dieser Veränderung schuld ist. Der General hat sich zwar nie ausdrücklich für oder gegen eine jener drei Haltungen ausgesprochen. Aber auf kaum einem anderen Gebiet hat sich so deutlich gezeigt, welcher Art die politische Aktivität des französischen Staatschefs ist: Er ist nicht ein Mann, der energisch seine Politik durchsetzt oder die gegnerische Politik über den Haufen rennt; er ist vielmehr ein „Zermürb er“, der die gegnerischen Positionen in vielen Einzelzügen langsam und allmählich auflöst. Gewisse Handlungen konnten nicht ohne weitreichende Wirkung bleiben, wenn sie der Mann beging, der von vier Fünfteln des französischen Volkes als dessen legitimer Sprecher bezeichnet worden ist. Wie kann Algerien noch als „französisch auf immerdar“ gelten, wenn der Mann, der nach eigenem Urteil seit zwanzig Jahren die Legitimität verkörpert, den Bewohnern jenes Landes den Sprung in die Unabhängigkeit freistellt? Wie kann man den Kriegsgegner noch ernsthaft als Verbrecher behandeln, wenn der gleiche Mann diesem Gegner zumindest partiell seine Tapferkeit und seine edlen Motive bescheinigt? Wie kann man die Behauptung französischer Unmenschlichkeiten in diesem Krieg als Verleumdung bezeichnen, wenn ein Minister de Gaulles, nämlich Andre M a 1-r a u x, sie in öffentlicher Rede bestätigt hat und sogar noch ihr Weiterdauern unter de Gaulle zugab?

Wieviel da unterirdisch ins Rutschen gekommen ist, spürte man allen Erklärungen jener „junge n“ oder „neuen Resistance“ an, welche in diesen Wochen als letzte Ausformung jenes Lagers der Moralisten von sich hat reden machen. Dieser „neuen Widerstandsbewegung“ geht es niclit mehr bloß darum, die Methoden des ek uien, des französischen Lagers anzuprangern. Sie wendet sich Vielmehr offen auch gegen Frankreichs Kriegs ziel und nimmt — ein revolutionärer Vorgang — offen für den Gegner, nämlich den FLN, Partei. Vor wenigen Monaten noch wäre so etwas nicht möglich gewesen, ohne einen Sturm der Entrüstung in der Öffentlichkeit und, bei lauem Verhalten der Staatsgewalt, ein sofortiges Eingreifen des Heeres zu provozieren. Heute ist keines von bei-dem der Fall, obwohl die Staatsgewalt erstaunlich zögernd gegen diese „Resistance“ vorgeht. Und selbst die Proteste von Soustelle und Salan, die sich zu Sprechern der Ultras machen, die Entrüstung der rechten und rechtsextremistischen Presse haben etwas resigniert Pflichtmäßiges.

Auf der anderen Seite aber bewegt man sich mit einer Unbefangenheit, die man vor kurzem noch für unmöglich gehalten hätte. Die Sitzungen des Prozesses vor dem Militärgericht in der Rue du CheTche-Midi in Paris, von dem zu sprechen ist, wurden zu mondänen Ereignissen. Es war „chic“, wenn man auf der Anklagebank Bekannte hatte, denen man zuwinken konnte. Angeklagt waren Franzosen und Algerier, die dem „Netz J e a n s o n“ angehört haben sollen — einer von dem flüchtigen Literaten Francis J e a n s o n geleiteten und mehrheitlich aus Franzosen bestehenden Untergrundorganisation, welche dem FLN beisteht und jungen Franzosen zur Desertion aus der französischen Armee verhilft. Die Begleitmusik dazu aber lieferte ein von mehr als 120 Persönlichkeiten unterzeichnetes Manifest, das nicht zufällig am Tag der Eröffnung des Prozesses veröffentlicht wurde: Es verkündet nämlich das „Recht auf Nicht-unterwerfung“ im Algerienkrieg. Dieser Krieg sei nicht die Sache Frankreichs, sondern eine Privatangelegenheit der Offiziers„kaste“, die sich längst außerhalb der Demokratie gestellt habe. Die Sache des FLN hingegen sei die Sache der Freiheit; jeder freiheitsliebende Mensch und insbesondere Franzose- habe sich für den FIlN' einzusetzen. Es ist kein Zufall, daß die beiden prominentesten Unterzeichner des Manifest? die „Päpste“ der beiden revolutionären Schulen der modernen französischen Literatur sind: Andre Breton für den Surrealismus zwischen den beiden Kriegen und Sartre für den Existentialismus nach dem zweiten Weltkrieg. Die Schriftsteller, Filmstars, Regisseure und Professoren, welche das Manifest unterzeichnet haben, die* jungen Leute, die auf der Anklagebank sitzen, gehören denn auch einheitlich dem an, was ihre Gegner verächtlich als „Intelligentzia“ (mit tz) bezeichnen — jener „heimatlosen Linken“, welche nicht nur von den bürgerlichen Parteien, sondern auch von der KP mit größtem Mißtrauen beobachtet wird (es ist denn auch nicht bloße Taktik, wenn sich die französische KP vom „Netz Jeanson“ distanziert hat). So klein diese Gruppen auch sind, so darf ihre Bedeutung als Ideenstreuer, als „Avantgarde“ neuer Entwicklungen nicht unterschätzt werden.

Nicht überall allerdings, selbst bei den Sympathisanten nicht, wurde geschätzt, daß die Verteidigung durch Prozedurmanöver eine ganze Woche lang die eigentliche Eröffnung des Prozesses verhindert hat. Es kam zu einer Reihe von Zwischenfällen, welche in der für bunte Details stets empfänglichen französischen Öffentlichkeit den Angeklagten auch Sympathien verschafften, die ihnen nicht von vornherein sicher waren. Es fing damit an, daß das Gericht es für wirksam gehalten hatte, unter das Bewachungspersonal auch Algerier zu mischen. Es kam jedoch zu „Fraternisation“ zwischen den Algeriern in Uniform und denen auf der Anklagebank, und es wirkte penibel, daß die ersteren aus dem Saal bugsiert wurden, als im Verlauf des Prozesses französische Zeugen über Unmenschlichkeiten der französischen Algerienarmee aussagten. Es wirkte weiter ungünstig, daß der Präsident jedem Angeklagten oder Zeugen ins Wort fiel, der vom „Krieg“ in Algerien sprach; gesetzlich sei diese Bezeichnung für das, was in Algerien geschehe, nicht zulässig. Ein Zeuge erwiderte trocken, daß dieses Wort schließlich sogar vom Staatschef in persona verwendet werde. Recht ungeschickt verhielten sich auch jene zwei dem Gericht angehörenden Offiziere, welche sich in freundschaftlichem Gespräch mit einem jener Brüder Sidos erwischen ließen, die die Chefs der als staatsgefährlich verbotenen rechtsextremistischen

Bewegung „Jeune Nation“ sind. Gewiß, die beiden Offiziere zogen sich mit Erlaubnis des Präsidenten aus dem Gericht zurück. Die Bemühungen der Verteidigung, das Gericht als befangen hinzustellen, finden jedoch seither mehr Glauben.

Der deutlichste Stimmungsumschwung aber war auf einen Zwischenfall mit zwei graphologischen Experten hin festzustellen (was fatal an die Rolle der Graphologen im Dreyfus-Pro-zeß erinnerte, der sich vor sechzig Jahren zum Teil im selben Lokal abspielte). Die beiden Experten, der eine achtzig, der andere vierundsiebzig Jahre alt, bezeichneten, um sie zu überführen, eine der Angeklagten im Brustton der Überzeugung als Verfasserin • eines mit einem anderen Namen unterzeichneten Briefes (der an sich harmlos war und nur belastend gewesen wäre, wenn er wirklich von der Angeklagten geschrieben worden wäre). Im Gegensatz zum Gericht hatte jedoch die Verteidigung nachgeforscht, ob es jenen Unterzeichner nicht doch geben könnte. Und wirklich: er trat auf und bestätigte, den Brief geschrieben zu haben. Die Experten suchten zwar ihr Gesicht (und damit auch das des Gerichtes) zu retten, indem sie diesen Zeugen als „Gefälligkeitszeugen“ verdächtigten. Darauf erbot sich der Zeuge sofort, sich einer graphologischen Expertise zu unterziehen. Zum Erstaunen des Saales ging das Gericht auf dieses Angebot nicht ein; es ließ vielmehr den betreffenden Anklagepunkt als „weniger wichtig“ fallen...

Diese und eine Reihe anderer Zwischenfälle drohten zeitweise den Kern des Prozesses zu verdecken. Das Wesentliche an dem Prozeß war nämlich, daß die Angeklagten des „Netzes Jeanson“ entweder offen zu den ihnen vorgeworfenen Taten standen oder doch, wenn sie ihrer Behauptung nach der Untergrundorganisation nicht angehörten, sich nun nachträglich mit deren Zielen solidarisierten. Besonderen Eindruck hinterließ ein Angeklagter, der für sich stolz in Anspruch nahm, gerade um der ihm zur Last gelegten Taten willen ein guter französischer Patriot zu sein. Wenn er dem FLN helfe, so mache er nur mit dem ernst, was man ihm in der Schule als französische Ideale beigebracht habe: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. In die gleiche Kerbe hieb eine als Zeugin geladene Lehrerin, die sagte, sie könne ihren SchÄ < fcht, wie^dasiftf Serftnfoich JteTiE'ef-' zählen,' die FolteT sei im TS. Jahrhundert abgeschafft-worden, WbtfgiPvo^WfÄsisc^n Armee in Algerien drüben neu eingerichtet worden sei. Und die Versuche des Präsidenten, jene behaupteten Unmenschlichkeiten als bloße Gerüchte abzutun, wurden von einem prominenten Zeugen vereitelt — nämlich von Paul Teit-gen, einem Bruder des bekannten MRP-Politi-kers, der vom August 1956 bis zum September 1957 als Generalsekretär der Präfektur von Algier (mit dem besonderen Aufgabenkreis der Polizeiangelegenheiten) unmittelbaren Einblick besaß. Auf die Frage eines Verteidigers, ob es wirklich zu Folterungen und Liquidationen gekommen sei, an wartete er: „Deswegen habe ich ja von meinem Posten demissioniert.“

Die Dauer des Prozesses gegen das „Netz Jeanson“ war ursprünglich auf eine Woche festgesetzt, vier Wochen wurden daraus. Dann wurde das Urteil verkündet. Dreizehn Angeklagte — von denen vier flüchtig sind — erhielten die Höchststrafe von je zehn Jahren, drei Angeklagte Gefängnisstrafen zwischen acht Monaten und fünf Jahren, neun wurden freigesprochen. Diese unerwartet hohen Strafen gehen einher mit Haussuchungen, Beschlagnahmen und Verhaftungen von Unterzeichnern des „Aufsatz der 121“. Einigen Prominenten

unter ihnen — wie Sartre, Simone Signoret und Francoise Sagan — ist die Teilnahme an Rundfunk- und Fernsehsendungen untersagt worden.

Der Jeanson-Prozeß hat den Widerspruch deutlich gemacht, an dem die französische Politik in Algerien im Gegensatz zu derjenigen im „Schwarzen Afrika“ südlich der Sahara krankt: Ein Staat, der offiziell immer noch die Schule von 1789 als seine Grundlage ansieht, kann den Krieg in Algerien nur mit schlechtem Gewissen führen. Das ist ja auch einer der Gründe, weswegen de Gaulle sich bemüht, diesem Krieg ein Ende zu machen.

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