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Die nüchterne Abrüstung

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Kürzlich gaben der amerikanische Präsident Johnson und der sowjetische Ministerpräsident Chruschtschow eine Einschränkung in der Produktion von Atomsprengstoff bekannt. Mit den früheren Kürzungen werden die USA in den nächsten vier Jahren die Plutoniumproduktion um 20 Prozent, die Erzeugung von spaltbarem Uran um 40 Prozent herabsetzen.

Erwartungsgemäß schloß sich kurz darauf Großbritannien dieser Aktion an, während Frankreich seiner Politik treu blieb und sich ablehnend verhielt.

Sind wir damit dem Ziel einer weltweiten Abrüstung wieder um ein Stück nähergekommen, oder wollte man nur eine unnütze Überproduktion, deren Beseitigung die militärische Schlagkraft keineswegs beeinträchtigt, vermeiden und dies gleichzeitig für propagandistische Zwecke ausnützen? Diese Frage läßt sich aus verständlichen Gründen nicht mit Sicherheit beantworten. Tatsache ist, daß nach dem von der Weltöffentlichkeit mit so großem Beifall aufgenommenen Atomteststoppabkommen der bisherige Verlauf der Genfer Abrüstungsverhandlungen schwer enttäuschte. Dieser neuerliche Fingerzeig des guten Willens — und als solchen dürfen wir ihn auch dann betrachten, wenn er stark propagandistischen Charakter trägt — veranlaßt uns aber zu einer viel konkreteren und bedeutungsvolleren Frage: Können wir in nächster Zukunft echte Fortschritte in der Abrüstung erwarten?

Immer wieder befremdet es, wie die vielen, im Grunde so ähnlichen Vorschläge und die anscheinend unwesentlich abweichenden Details zu Angelpunkten des Mißmuts der einen oder anderen Seite der Genfer Abrüstungskonferenz werden. Wenn diese langlebige Konferenz auch ein chronisch abhängiges Spiegelbild der augenblickspolitischen Erfordernisse ist und mit geradezu seismographischer Genauigkeit auf die „seelischen Erschütterungen“ sowohl der Innen-wie der Außenpolitik der einzelnen Partnerstaaten reagiert, läßt sich doch eine gewisse Verzögerungstendenz kaum übersehen. Die andauernde, ins Überdimensionale wachsende Aufrüstung kann, bedingt durch die wirtschaftsstrukturelle Verschiedenheit der beiden großen politischen Lager, naturgemaß kein ursächlich gleiches Verlangen nach ihrer Beseitigung mit sich bringen.

Um auf die so verschiedenen Erfordernisse näher einzugehen, ist es zweckmäßig, die wirtschaftlichen und politischen Aspekte vorerst getrennt zu untersuchen.

Die totalitäre Planwirtschaft der Sowjetunion verlangt gänzlich andere Erwägungen als das liberale und daher kompliziertere und feinnervigere System des Westens. Die Verlagerung größerer Kapitalien von der Rüstungsindustrie auf andere industrielle Zweige brächte ohne Zweifel einen gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung in der Sowjetunion mit sich. Ja sie könnte vielleicht sogar die derzeitige Kompensationspolitik des Handels auflok-kern und den Außenhandel, wenn schon nicht nach westlichem Muster liberalisieTen, so doch durch die erhöhte Kreditwürdigkeit der Sowjetunion für beide Teile attraktiver machen. Wir haben diese Schwierigkeiten bei größerem einseitigem Güteraustausch in jüngster Zeit bei den Getreidelieferungen des Westens drastisch erkennen können.

Auch ein anderer wirtschaftspolitischer Vorteil animiert die Sowjets dazu. Der Einfluß des Westens auf die Entwicklungsländer ist nicht zuletzt durch seine — erzwungener-maßen — großzügige Unterstützung bedingt. Zudem versucht auch Peking immer mehr sich in das Werben einzuschalten. Will Moskau seine Positionen in diesen Gebieten halten und neue dazugewinnen, muß es wohl oder übel tiefer in die Tasche greifen als bisher. Eine Abrüstung würde das dafür notwendige Kapital frei machen.

Vollkommen anders liegen dagegen die Verhältnisse im westlichen Lager. Ist es in der totalitären Planwirtschaft der Sowjetunion durchaus möglich, ja sogar erwünscht, die Masse der frei werdenden Arbeitskräfte sofort anderweitig zu verwenden, würde zumindest in den USA das Arbeitslosenheer größere Ausmaße annehmen und ein sozialpolitisches Chaos heraufbeschwören. Und selbst wenn es möglich wäre, einen Großteil der frei gewordenen Arbeitskräfte und natürlich auch Soldaten sofort auf anderen Arbeitsplätzen unterzubringen, könnte man doch nicht das gewaltige Mehr an Produktion so rasch in den USA selbst oder auf anderen Märkten plazieren. Auch diese Sorgen hat die UdSSR nicht, da sie noch immer empfindlichen Mangel an Gütern hat.

Schließlich werden auch das auf die amerikanische Politik so einflußreiche Großkapital und die Militärs zumindest eine rasche und radikale Abrüstung zu verhindern trachten.

Es läge also nahe, dem Westen die Schuld an den endlosen Verhandlungen zu geben Das träfe, wenn der wirtschaftliche Aspekt der einzige wäre, bis zu einem gewissen Maße auch wirklich zu. Die Einschränkung ist nötig, denn auf lange Sicht hätte auch der Westen aus einer Abrüstung nur Vorteile zu erwarten — aus einer kontinuierlichen Abrüstung, die ihm Zeit läßt, sich den geänderten Bedingungen der Arbeitslage anzupassen.

Haben wir aus wirtschaftlicher Sicht die Frage des Wie einer Abrüstung skizziert, so ist die angesichts der schleppenden Genfer Verhandlungen beinahe banale Überlegung, ob eine Abrüstung im Augenblick überhaupt wünschenswert ist, rein politisch. Bedingt durch ihre gezielte Struktur ist Politik von Propaganda schwer zu trennen; hier aber müssen wir, um zum Eigentlichen vorzustoßen, alle propagandistischen Erwägungen beiseite lassen.

Am prägnantesten ließe sich die politische Situation hierin in der bildhaften Art der Chruschtschow-Reden wiedergeben: In einem Revier, in dem junge Löwen ausgesetzt wurden, beschließen zwei bisher verfeindete Jäger Frieden zu schließen, ihre Waffen fortzuwerfen und aus Ersparnisgründen keine neuen mehr anzuschaffen. Die Moral dieser Geschichte liegt auf der Hand. Es hieße Vogel Strauß spielen, seine Augen vor diesen wehrtaktischen Tatsachen zu verschließen Die heute noch Kleinen können sehr rasch wachsen. Was nützen den Verhand-lungs- oder Vertragspartnern noch so viele Inspektionen auf ihren eigenen Territorien, wenn ein außenstehender Gegner — noch so gute Spionage kann versagen — geheim zu einem Überraschungsangriff rüsten konnte?

Alle diese Gedanken sind natürlich den Weltmächten nicht fremd. Allen Verträgen liegt das gemeinsame Streben der Partner zugrunde, vom anderen Teil möglichst große Sicherheiten für die Erfüllung dieser Abkommen zu erreichen. Innerhalb eines Rechtsstaates ist das sehr leicht, bei internationalen Verträgen aber weniger.

Der Bruch eines solchen Vertrages vor allem durch eine Großmacht — die Beispiele in der Geschichte sind ungezählt — hat für den Vertragsbrüchigen Teil im allgemeinen keine unangenehmen Folgen, ja zumeist kann er noch mit Genugtuung die „langen Gesichter“ seiner Partner betrachten. Wieder und wieder rechtfertigt sich das internationale Verlangen nach einem Gerichtshof und einer Exekutive, die bindend verordnen und entscheiden und die Durchführung erzwingen können. Die Absicht, die Vereinten Nationen mit solchen Vollmachten auszustatten, muß an der gegenwärtigen Struktur dieser Einrichtung scheitern. Jedes Leben selbst der reifsten Demokratie — und die Organisationsform der Vereinten Nationen ist eine solche — kann nur ein Schattendasein führen, wenn alle Entscheide nur vetolos getroffen werden dürfen. Im praktischen Leben würde das heißen, daß bei einem Prozeß ein Angeklagter nur mit seiner Zustimmung verurteilt werden kann, während im anderen Falle eine Aussetzung des Urteils vorzunehmen ist. Dieses Beispiel zeigt deutlich, wie unwirklich und unwirksam die Organisation der Vereinten Nationen im Ernstfall ist.

Bei einer echten weltweiten Kontrolle — und nur sie kann bei realer Überlegung den Erfolg bringen — ist es undenkbar, daß ein großer Teil der Menschheit, wie das unter anderem beim kommunistischen China und Deutschland (beide Teile) der Fall ist, nicht berücksichtigt wird. Wenn wir aus diesen Zusammenhängen die Chinapolitik de Gaulles deuten, der sich durch sein Nicht-Beitreten zum Teststopp — abgesehen von anderen Erwägungen — für Vermittlungen den Boden geebnet hat, läßt sich folgern, daß er damit dem Westen und vor allem den USA, denen aus verständlichen Gründen für eine eigene Initiative die Hände gebunden sind, keinen schlechten Dienst erwiesen hat. Ein Beitritt Chinas zur UNO müßte natürlich — will man die Organisation nicht gänzlich zur Farce werden lassen — die unabdingbars Forderung nach einer Änderung der Vetobestimmung durch die Westmächte zur Folge haben.

Wir sehen also, wie die einzelnen Rädchen — nur einige wenige wurden aufgezeigt — ineinandergreifen und durch ein lange Zeit oft nur am Rande vermerktes politisches Geschehen geprägt und getrieben werden.

Die Menschheit, die sich von der Abrüstungskonferenz, die von einem Vorschlag in den anderen „torkelt“, Erfolge erhofft, muß warten. Warten, bis die große politische Bühne die Voraussetzungen geschaffen hat, die zwar einstweilen noch in weiter Ferne zu liegen scheinen, aber, einmal erkannt, sich auch schon zu verwirklichen beginnen. Und wie schnell darin ein Fortschritt erzielt werden kann, wird im wesentlichen von den führenden Staatsmännern abhängen. Angesichts der erfolgreich verlaufenen Operation de Gaulles und angesichts des 70jähri-gen Geburtstags des sowjetischen Ministerpräsidenten sollte man die. Hoffnung aussprechen, daß in der nächsten Zukunft, deren Politik vielleicht Dezennien in ihrem Grundcharakter bestimmen wird, kein so einschneidender, vor allem in der Sowjetunion ins Ungewisse führender Wechsel maßvoller politischer Persönlichkeiten erfolgen möge, wie wir ihn beim Tod Kennedys — mit Herzklopfen, aber Gott sei Dank bislang ohne schwere Folgen — erst1 überstanden haben.

Die Abrüstungskonferenz in Genf wird weitertagen. Von Zeit zu Zeit wird eine Meldung wie die der Einschränkung der Produktion von spaltbarem Material die Eintönigkeit unterbrechen. Aber es wird noch viel politischen Schweiß kosten, bis die Zeit für erfolgreiche Verhandlungen reif ist.

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