6669185-1960_52_18.jpg
Digital In Arbeit

Die oberösterreichisdie Raiffeisenkasse einst und jetzt

Werbung
Werbung
Werbung

Der frühere Präsident der westdeutschen Bundesrepublik, Professor Dr. Theodor Heuß, hielt am deutschen Genossenschaftstag des Deutschen Raiffeisenverbandes im Jahre 1954 in München an die versammelten Genossenschafter eine Begrüßungsansprache, welche die Problematik des Genossenschaftswesens ehr treffend kurz beleuchtete.

Er führte aus, daß er einmal, einige Jahre nach Beendigung des zweiten Weltkrieges, in der Nacht am Bahnhof einer westdeutschen Stadt, die im Krieg zerstört und nun wiederaufgebaut worden war, angekommen sei. Als er auf den Bahnhofvorplatz hinausgetreten war, habe ihm von einem großen, stattlichen Gebäude in blauer Neonschrift die Aufschrift „Deutsche Genossenschaftsbank“ entgegengeleuchtet. Da habe er bei sich gedacht: „Wie weit haben sie es gebracht 1“

Auch wir sind mit gewissem Stolz zu dieser Feststellung berechtigt, wenn wir die oberösterreichischen Raiffeisenkassen vor dem Krieg mit denen von heute vergleichen. Es gibt in Oberösterreich keine Kasse mehr, die nur an Sonntagen Kassastunden hält, wie dies früher die Regel war. Von den 296 Raiffeisenkassen sind praktisch 160 zum Tagesverkehr, übergegangen, alle anderen sind zumindest an mehreren Tagen in der Woche für den Geschäftsverkehr zugänglich. Bei 125 Raiffeisenkassen sind die Angestellten hauptberuflich dort beschäftigt. Vor dem Krieg gab es sechs derartige Kassen.

Eine große Anzahl von Raiffeisenkassen hat nach dem Jahre 1945 eigene Gebäude gekauft oder neu gebaut. Im Herbst dieses Jahres sind allein sieben Raiffeisenkassenneubauten eingeweiht worden, und in diesem Winter werden voraussichtlich noch weitere fünf ihrer Bestimmung übergeben werden können.

Die Raiffeisenkassen verwalteten zum 30. September 1960 1369,5 Millionen Schilling an Einlagen gegenüber 78,5 Millionen Schilling zu Beginn des Jahres 1938. Die Einlagen sind seit dem Jahre 1953, dem Jahre der Stabilisierung der Währung nach dem Krieg, bis Ende September 1960 allein um das Siebeneinhalbfache angewachsen. Das Kreditvolumen aller Kassen haftete zum Ultimo des Monats Spetember dieses Jahres mit 887 Millionen Schilling aus. Es verteilt sich auf rund 62.800 Konten. Der Umsatz der Raiffeisenkassen wird im Jahre 1959 auf rund 9500 Millionen Schilling geschätzt.

So ist das Geschäft der Raiffeisenkassen tatsächlich sehr beachtlich angestiegen.

Prof Dr. Heuß meinte aber, man müßte sich auch fragen: Wohin sind die Genossenschaften gekommen? Sind sie ihrem Wesen treu geblieben?

Wie verhält es sich diesbezüglich mit den Raiffeisenkassen in Oberösterreich?

Meiner Ansicht nach sind es hauptsächlich drei Dinge, in denen sich die Kassen von heute, abgesehen von ihrer geschäftlichen Ausweitung, von denen von früher unterscheiden. So hat

1. der Buch- und Kassenführer als der Geschäftsführer einer Raiffeisenkasse an Bedeutung stark zugenommen und haben die anderen Organe der Kreditgenossenschaft, Vorstand, Aufsichtsrat und die Generalversammlung, an Bedeutung eingebüßt, eine Entwicklung, wie sie im wirtschaftlichen und politischen Leben der Gegenwart fast ausnahmslos festzustellen ist. Sie hat in den Volksdemokratien dazu geführt, daß der die Geschäfte führende oberste Parteiklüngel unbeschränkt und unkontrolliert regiert und daß alle anderen staatlichen Organe ein Scheindasein führen.

Da wir eine ähnliche Entwicklung vermeiden wollen, haben wir neben der Schulung der Kassenführer, der Ausbildung der Funktionäre, welche den Vorstand und Aufsichtsrat bilden, unser besonderes Augenmerk zugewendet. Außerdem achten wir besonders darauf, daß die jährlichen Raiffeisenkassen-Vollversammlungen durch die leitenden Angestellten der Raiffeisen-zentralkasse besucht werden — im vergangenen Jahr sind insgesamt 281 Vollversammlungen besucht worden —, damit den Versammelten in verständlicher Form ein überschaubares Bild von der Gebarung ihrer Raiffeisenkasse genoten werden kann.

Nur auf diese Art ist die Gewähr gegeben, daß das Interesse der Mitglieder an ihrer Genossenschaft wachgehalten wird, daß die Stellung des Kassenführers nicht übermäßig anwächst, unter diesen Umständen doch eine gewisse „balance of power“, ein gewisses Gleichgewicht, unter den Organen der Kasse, die sich zu kontrollieren haben, erhalten bleibt und die Kreditgenossenschaften nicht zu einer toten Organisation erstarren. Dies setzt freilich voraus, daß das Einzugsgebiet der einzelnen Raiffeisenkassen nicht allzu groß wird. Denn eine konstitutionelle demokratische Verwaltung ist nur in einem beschränkten Raum möglich.

2. Die einzelne Kreditgenossenschaft hat sich als juristische Person entfaltet, die früher nur als Konstruktion vorhanden war. Die Raiffeisen-kasse besitzt heute Anlagen (Geschäftseinrichtung, Stahlschränke, Rechen- und Buchungsmaschinen, Kassengebäude usw.) und muß zumindest einem Angestellten zum Teil oder zur Gänze die Bestreitung seines Lebensunterhaltes ermöglichen, alles Dinge, die ehedem nur mehr oder minder andeutungsweise vorhanden waren. Die Raiffeisenkasse ist daher heute in größerem Maße als früher zur Erhaltung ihrer Existenz gezwungen, nicht nur zu dienen, sondern auch zu verdienen. Hier könnte es nun sein, daß allmählich das „Verdienen“ größer geschrieben wird als das „Dienen“ und der Gedanke Raiffeisens „Alle für einen und einer für alle“ verblaßt.

Wir sind daher bemüht, den Buch- und Kassenführern neben einer fachlichen Ausbildung auch eine geistige Ausrichtung zu geben und haben in diesem Jahr mit einer größeren Anzahl junger Kassenführer eine zweitägige Tagung veranstaltet. Die Themen behandelten die Stellung des Buch- und Kassenführers im Dorf, die Stellung des Kassenführers in seiner Organisation, seine Beziehung zur Politik, aber auch seine Beziehung zu Gott, da von dieser letzten Endes sein Verhalten zur Umwelt wesentlich abhängt.

3. Die Bedeutung der Zentralkasse ist viel größer als früher. Auch bei den Kreditgenossenschaften ist ein Zug zur Konzentration feststellbar, die zwangsläufig mit einer möglichst rationellen Ausnützung des Kapitals verbunden ist.

Die oberösterreichische Raiffeisen-Zentralkasse hat für die bestmögliche Verzinsung der liquiden Mittel der Raiffeisenkassen Sorge zu tragen. Sie ist außerdem die Geldausgleichstelle der ihr angeschlossenen Kreditgenossenschaften. Sie hat die Raiffeisenkassen in geschäftlicher Hinsicht zu betreuen und sie mit den modernen Erfordernissen des Geld- und Kreditwesens vertraut zu machen. Daß das Geschäft von 296 Kreditgenossenschaften einer gegenseitigen Abstimmung, Zuordnung und Planung von einer Stelle aus bedarf, wer könnte es bezweifeln? Je dichter aber der Zahlungsverkehr und je verflochtener die Wirtschaft im Lauf der letzten Jahrzehnte wurde, um so bedeutender wurde die Aufgabe der Zentralkasse. Hier wäre es nun möglich, daß die Zentrale, sei es aus Mißtrauen in die Fähigkeiten und den guten Willen des genossenschaftlichen Unterbaues, aus allzu großer Pedanterie oder aus einem zu großen Geltungsstreben Dinge an sich zieht, welche in erster Linie die Kassen zu besorgen haben, so daß diese dann zu Filialen ihrer Zentrale degradiert werden.

Dieser Zustand könnte aber ebensogut zwangsläufig und ohne daß es die Zentrale beabsichtigt, herbeigeführt werden, wenn die Raiffeisenkassen ihren Aufgaben nicht gewachsen sind und gegenseitige Rücksichtnahme in freiwillig geübter Selbstdisziplin mißachten. Denn in diesem Falle müßte die Zentralkasse infolge des Unvermögens des genossenschaftlichen Unterbaues tätig werden und die Ordnung zwangsweise herbeiführen.

Wir sind daher in Oberösterreich in gleicher Weise bemüht, uns bei der Zentralkasse Beschränkung aufzuerlegen, den genossenschaftlichen Unterbau zur Entfaltung zu bringen und in ihm die Überzeugung für die Notwendigkeit einer harmonischen, freiwilligen Zusammenarbeit zu wecken.

So hoffen wir, daß wir Herrn Professor Doktor Heuß mit gutem Gewissen antworten können: „Die Raiffeisenkassenorganisation in Oberösterreich ist ihrem Wesen treu geblieben.“

Dr. KARL SCHALLER Direktor der oberösterreichischen Raiffeisen-Zentralkasse

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung