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Die organisierte Einheit

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Die Erinnerungen Paul Henri Spaaks, des bedeutenden belgischen Sozialisten und großen Europäers der ersten Stunde, umfassen die jüngste Vergangenheit von 1936 bis 1966. Es sind die dreißig Jahre der wahrscheinlich größten Erschütterungen, die Europa in seiner bisherigen Geschichte zu verzeichnen hatte. Die Erlebnisse dieses Mannes lesen sich wie ein spannendes und sympathisches Lehrbuch der Zeitgeschichte Europas für die historische Phase vom Höhepunkt des Einflusses Hitlers bis zum NATO-Austritt Frankreichs. Einer der Kronzeugen dieser Zeit berichtet.

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Die Erinnerungen Paul Henri Spaaks, des bedeutenden belgischen Sozialisten und großen Europäers der ersten Stunde, umfassen die jüngste Vergangenheit von 1936 bis 1966. Es sind die dreißig Jahre der wahrscheinlich größten Erschütterungen, die Europa in seiner bisherigen Geschichte zu verzeichnen hatte. Die Erlebnisse dieses Mannes lesen sich wie ein spannendes und sympathisches Lehrbuch der Zeitgeschichte Europas für die historische Phase vom Höhepunkt des Einflusses Hitlers bis zum NATO-Austritt Frankreichs. Einer der Kronzeugen dieser Zeit berichtet.

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„Dort wo es einen politischen Willen gibt, gibt es keine unüberwindlichen Schwierigkeiten.“ Dieser Satz beleuchtet charakteristisch den Politiker Spaak, den mutigen Optimisten und draufgängerischen Aktivisten. Ohne seine Courage, ohne seine Bereitschaft selbst voranzugehen, gäbe es möglicherweise heute keine EWG, kein Euratom und keinen Europarat. Er ist zweifellos einer der großen Motoren der bisherigen europäischen Einigungsbestrebungen gewesen, ebenso wie er einen bedeutenden Anteil an der Sicherung Europas gegen eine Erweiterung des sowjetischen Einflußbereiches nach Westen hatte. Die europäische Entwicklung seit dem Ende des zweiten Weltkrieges wurde ganz wesentlich von ihm beeinflußt, ja man kann sagen, daß es zwischen 1945 und 1965 kaum ein wichtiges, westeuropäisches, multilaterales Vertragswerk gab, welches nicht von Paul Henri Spaak entweder selbst entworfen oder doch zumindest stark mitbestimmt wurde. Es begann mit der Ausarbeitung der Grundlagen der Benelux-Zollunion noch in den letzten Kriegsjahren. „Benelux“ war nicht die Idee von Spaak gewesen, aber er hatte wesentlichen Anteil an der Fertigstellung der Konzeption und sofort nach Kriegsende an der Durchführung dieses Planes, der ein Modell für die weiteren Entwicklungen darstellte und ein Beispiel setzte. Ab 1947, als das Bündnis der großen Vier immer mehr Risse zu zeigen beginnt, steht Spaak sofort eindeutig auf der Seite der Gegner des Kommunismus. Er ist einer der ersten, der Stalins Vertreter in der UNO, Wyschinskij, heftig auf dessen immer aggressivere Tiraden gegen den Westen antwortet Am 28. September 1948 hält Spaak seine große Rede in der UNO, die damals — zum ersten- und letztenmal — im Palais Chaillot in Paris tagte. Es ist der erste energische Angriffe eines westlichen Staatsmannes gegen die Sowjetunion, deren drohende Haltung allgemein Angst und Einschüchterung hervorruft. Die Rede wird allgemein bejubelt. Spaak ist mit einem Schlag ein bekannter Staatsmann geworden. Von nun an tritt er mehr und mehr in die vorderste Front der politischen Repräsentanten der freien Welt. Trotzdem er während des Suezkonfliktes die Haltung Dulles vernehmlich kritisiert und heftig gegen jedes Nachgeben gegenüber Nasser- eintrat, steht er auf der Seite des amerikanischen Außenministers bei dessen internationalen Maßnahmen gegen den Kommunismus und die Unterdrückung Osteuropas. Er schreibt 1956 an Dulles: „Ich glaube sagen zu können, daß ich alle Ihre Ansichten bezüglich der Lage in den Ländern östlich des Eisernen Vorhanges teile. Ich habe oft gesagt, daß wir da vor einer der größten Tragödien der Geschichte stehen.“ Was die Einigung Europas betrifft, findet er, daß Dulles „scharfsichtiger und kühner war als viele Europäer.“

Schon 1948 als der Schatten der Sowjetunion bedrohlich auf Westeuropa fiel, begann der damalige britische Außenminister, Ernest Be-vin, erste Schritte zu einer Organisation Westeuropas. Am 17. März 1948 wurde der Brüsseler Vertrag zwischen Großbritannien, Frankreich und den drei Beneluxstaaten unterzeichnet. Offiziell gegen ein neues Erstarken Deutschlands, in Wirklichkeit gegen die Sowjetunion gerichtet, stellte er „eine wichtige Etappe“ auf dem Weg zur Konsolidierung und Sicherung Westeuropas dar. Er war zugleich ein Wirtschafts- und Verteidigungsvertrag. Vom Brüsseler Vertrag geht nicht nur eine direkte Verbindung zu den späteren Römischen Verträgen der EWG, sondern er sollte auch eine sensationelle Wendung der amerikanischen Politik auslösen. Am selben Tag erklärte nämlich Präsident Truman mit Bezug auf den Brüsseler Vertrag, daß die Vereinigten Staaten von nun an auch in Friedenszeiten politische und militärische Bündnisse schließen würden. Das bedeutete eine vollkommene Kehrtwendung der US-Politik und die Aufgabe der Monroe-Doktrin. Amerika hatte den Isolationismus verlassen. Spaak war einer der Hauptgestalter dieses Vertragswerkes gewesen. Vier Jahre später wurde er zu den glühenden Verfechtern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, die

schließlich im August 1954 über Mendes-France stürzte, welcher Europa damit einen der schwersten Rückschläge nach dem Krieg zufügte. Zwischendurch war Spaak Präsident der Europäischen Versammlung des Europarates gewesen. Demonstrativ verließ er dieses Gremium bald wieder, zutiefst enttäuscht von der „Zaghaftigkeit der Mehrzahl der Abgeordneten und ihrer Weigerung ernsthafte Beschlüsse zu fassen.“ Alle diese Mißerfolge waren aber zugleich für einige europäische Aktivisten und vor allem für Spaak Anlaß neue Wege zu suchen. So kam es zu den zuerst bescheidenen, dann immer mutigeren Vorbereitungen der EWG, deren eigentlicher Vater Hollands Außenminister Beyen war. Anläßlich der Konferenz von Messina im Juni 1955 arbeiteten dann die Außenminister der sechs Staaten der Montanunion die eigentlichen Unterlagen für EWG und Euratom aus. Spaak wurde als weiterer Koordinator zur Fertigstellung des Vertragswerkes bestellt und erhielt dadurch einen ausschlaggebenden Einfluß auf das Werden des Gemeinsamen Marktes. Der „Spaak-Be-richt“ wurde das Fundament der Römischen Verträge, die schließlich am 25. März 1957 in Rom unterzeichnet wurden. Schon drei Monate vorher war Belgiens aktivster Europäer zum Generalsekretär der NATO gewählt worden, die er vier Jahre leitete.

Als Kompendium der jüngsten Geschichte Westeuropas sind Spaaks Memoiren für jeden an unserer Zeit Interessierten und mit Politik befaßten von größtem Wert. Eine verblüffende Fülle hochinteressanter Einzelheiten und Persönlichkeiten beleuchtet in diesem umfassenden Werk die westliche Politik der letzten dreißig Jahre. Die Bescheidenheit und Menschenfreundlichkeit ihres Autors kommt allen den vielen, die darin genannt werden, zugute, denn nur wenige kommen schlecht weg. Der Autor selbst zeigt sich als einer der politischen Motoren der Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg und als aktiver Hüter der freien Welt. Ohne selbst ein schöpferischer Geist zu sein — die Geburt der großen Ideen überläßt er voll Bewunderung verschiedenen seiner Zeitgenossen —. ist er ein mutiger Anreger und vor allem ein hervorragender Ausführender. Ohne Robert Schumann, Jean Monnet und J. W. Beyen wäre die EWG nicht geboren, ohne Henri Spaak aber wäre sie vermutlich nicht realisiert worden.

MEMOIREN EINES EUROPÄERS, von Paul Henri Spaak. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 603 Seiten, DM 28.—.

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