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Die Orthodoxie in Rußland

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Die nissische Revolution des Jahres 1917 traf mit voller Wucht auch die orthodoxe Kirche. Sie verlor ihren Besitz, darunter zahlreiche Kirchen. Bischöfe und Priester wurden hart verfolgt, der geistliche Beruf sehr erschwert und geächtet. Systematisch wurde das religiöse Leben nahezu erdrosselt. In der Kulturpolitik dieser Phase, die fast zwei Jahrzehnte währte, hatten die Besbosch-niki, die organisierten Gottlosen, die unbestrittene Führung. Im Jahr 1936 begann eine allmähliche Milderung in der Kirchenpolitik der Sowjetunion. Die Stalin-Verfassung gab den Geistlichen wieder das Wahlrecht und der im gleichen Jahre tagende Komsomolkongreß forderte größere Duldsamkeit gegenüber den „religiösen Vorurteilen“. Die eigentliche Wendung in der sowjetischen Kirchenpolitik trat 1939 ein, als die bisherige Verfolgung des Klerus, vornehmlich des höheren, plötzlich aufhörte, behördliche Weisungen die gewaltsame Unter-

drückung der Religion untersagten und die Presse die Notwendigkeit erörterte, die antireligiösen Grundsätze der sowjetischen Politik selbstverständlich beizubehalten, jedoch an die Zeitverhältnisse anzupassen. „Der Bund der Gottlosen“ wurde mit Androhung von Strafen aufgefordert, in seiner Propaganda die Gefühle des Gläubigen nicht mehr zu verletzen. Die antireligiösen Museen verfielen der Schließung, das Kampfblatt „Besbosch-nik“ stellte im September 1942 das Erscheinen ein und schließlich löste sich der „Bund der Gottlosen“ auf, dessen Mitgliederzahl inzwischen von fünf auf drei Millionen gesunken war. Die Priester wurden nicht mehr wegen Ausübung ihres Amtes eingespart, die religiöse Unterweisung innerhalb der Krchen gestattet und die Belästigung der Kirchenbesucher verboten. Der durch' die Fünftagewoche praktisch abgesetzte Sonntag wurde wieder als Ruhetag eingeführt und Erzbischof Germanos, Exarch für Mittel- und Westeuropa, erklärte 1946, daß sogar Mitglieder der Kommunistischen Partei wieder die Kirche besuchen dürfen.

Der zeitliche Zusammenhang dieser Entwicklung mit dem Fortgang des Krieges ist offensichtüdi. Ohne Zweifel erwarb sich die Orthodoxie in den sehr schweren Kämpfen, die Rußland gegen die deutschen Heere zu bestehen hatte, große Verdienste um die Stärkung der patriotischen Gesinnung und des Widerstandswillens der Volksmassen. Daher ist es leicht zu verstehen, daß besonders seit 1943 die Einstellung des Staates zur orthodoxen Kirche noch freundlicher wurde. Stalin empfing den Moskauer Metropoliten Sergej in Audienz und dankte der Kirche für die Spende von sechs Millionen Rubel Sammelgelder zur Ausrüstung einer Panzerkolonne. Nunmehr, nach 18 Jahren, durfte endlich der Patriarch gewählt werden. Stalin selbst kündigte diesen Akt öffentlich an und am 8. September 1943 wurde Sergej von 17 Bischöfen zürn „öku-menisdien Patriarchen der orthodoxen Kirche“ gewählt, feierlich gekrönt und sodann ein sechsgliedriger Synod als Kirchcri-regierung gebildet.

Nach Sergejs Tode wählte im Februar 1946 ein Konzil, an dem bereits mehrere nichtrussische orthodoxe Kirchen teilnahmen, Jen Patriarchen Alexej. Während 1917 bis 1941 die Zahl der Kirdien von 40.407 auf 4255, die der Bischöfe von 130 auf 28, die der Priester von 50.960 auf 5665 gesunken war, gab es (nach Angabe Karpows) 1946 wieder rund 25.000 russische Kirchen in 90 Diözesen mit fast 100 Bischöfen und etwa 30.000 Priestern. Die noch vprhandenen beschlagnahmten Reliquien und Ikonostase wurden zurückgegeben. Außer einem theologischen Institut in Moskau und einer kirchlichen Akademie in Leningrad gibt es (wieder lach Karpow) weitere zehn Seminare zur Heranbildung der Priester, die übrigens vom Militärdienst befreit wurden.

Audi das altberühmte und im russischen Volke einst hoch in Ehren gestandene ortholoxe Mönditum lebt wieder auf. Das Höhlenkloster in Kijew und das Moskauer Dreifaltigkeitskloster mit dem Grab des heiligen Sergius wurden freigegeben. Insgesamt, so wird berichtet, bestehen ^wieder 87 Klöster

m weiten Rußland. Dies ist in wenigen Strichen das eine Bild des Diptychons Kirche und Staat in Rußland.

Das andere Bild zeigt das Verhä\tnis vom Staate her. Er gewährt heute der in zwanzigjähriger harter Verfolgung gänzlich verarmten Kirche wieder gewisse materielle Beihilfen: Gebäude für das Patriarchat, Steuererleichterungen, Herstellung kirchlicher Druckwerke usw. Zu staatlichen Feierlichkeiten auf dem Roten Platz wird auch der Patriarch eingeladen, der übrigens 1946 mit dem Orden der Roten Fahne ausgezeichnet worden ist.

Im Oktober 1943 wurde beim Rate der Volkskommissäre, wie damals die Regierung tmtlich hieß, ein „Rat für die Angelegenheiten der orthodoxen Kirche“ gebildet. Karpow, der Vorsitzende des neuen Rates, erklärte, er werde sich in die „inneren Angelegenheiten der Kirche“ nicht einmischen, sondern er habe die Durchführung der für lie Kirche geltenden staatlichen Vorschriften zu überwachen. Während nämlich die kultisdie Freiheit wieder besteht, sind andere Einschränkungen der Religions-ireiheit noch nicht aufgehoben. Auf diese hat Karpow hingedeutet. Dem Patriarchen und jedem Bischof steht als Berater ein Regierungskommissär zur Seite. Konzil und Bischofskonferenzen bedürfen der amtlichen Erlaubnis. Bei der Wahl der Bischöfe und bei der Bestellung der Priester wirken Regierungsvertreter mit. Der Unterricht der kirchlichen Seminare darf Philosophie, Geschichte und profane Fächer nicht enthalten. Die Errichtung von Pfarren setzt die Erlaubnis der Regierung voraus.

Das Wort Gottes kann während der Liturgie in der Kirche verkündet werden, jedoch gibt esaußerhalbderKirchen noch keine Seelsorge, vor allem keinen Religionsunterricht in der Schule und es ist bisher nidit bekanntgeworden, ob der strenge Paragraph 122 des Strafgesetzes von 1926 aufgehoben ist, der Zwangsarbeit für Religionsunterricht an Jugendliche unter 18 Jahren androhte. Nur für Personen über 18 Jahren soll der religiöse Unterricht in Privatwohnungen an drei Anwesende gestattet sein. Folglich gibt es noch keine Erlaubnis außerkirchlicher Zusammenkünfte orthodoxer Christen und keine kirchliche Jugendpflege. Der Einfluß der orthodoxen Kirche auf die russische Jugend wird daher vo.i manchen Beobadnern ais gleich Null erklärt, weshalb Eva Curie' ihre Reiseein-drüdie dahin zusammenfaßte: „Der Krieg gegen die Religion ist gewonnen und der Sieger kann sich den Luxus eines Waffenstillstandes gestatten.“

Der unbefangene Leser der Berichte über die neue Kirdien politik Sowjet-Rußlands kommt zur Meinung, riaß derzeit anscheinend eine Phase eingetreten ist, die deutliche Merkmale des aus'der Geschichte anderer Länder bekannten Staatskirchentums erkennen läßt. Ohne Zweifel bietet sie der russisdien Orthodoxie trotz der tief einschneidenden Beschränkungen wertvolle Möglichkeiten eines allmählichen Wiederaufblühens des religiösen Lebens, wengistens in einem Teile des Volkes, vielleicht sogar die Hoffnung auf künftige Zugeständnisse von seiten der Staatsleitung. Am kulturpolitischen Charakter des Staates selbst ist allerdings durch die neue Kirchenpolitik keine wesentliche Änderung eingetreten.

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