6539907-1946_35_05.jpg
Digital In Arbeit

Die osterreichische Gemeindeverfassung ein Rechtsjuwel

Werbung
Werbung
Werbung

Von den europäischen Gemeindeverfassungen hat neben der englischen vor allem die preußische das Augenmerk der Fachleute auf sich gezogen, während die österreichische Gemeindeverfassung . trotz ihrer Vorzüge und ihrer Bewährung außerhalb ihres Geltungsgebietes ein beinahe unbeachtetes Dasein geführt hatte. Diese Vorzüge der österreichischen Gemeindeverfassung beruhen darauf, daß sie in ausgezeichneter Weise nicht nur die demokratischen Grundsätze und das Prinzip der Gemeindeautonomie vereinigt, sondern auch die Forderung, die als ihre Grundabsicht der Schöpfer der preußischen Gemeindeverfassung, der Reichsfreiherr von Stein, hinstellte und die die preußische Gemeindeverfassung bei weitem nicht in dem Maß erfüllte und erfüllen konnte. Es ist daher zweckmäßig, die beiden Systeme der Gemeindeverfassung einem kurzen Vergleiche zu unterziehen. So wird nicht nur die Überlegenheit des österreichischen Systems klar zutage treten, sondern auch die Tatsache, daß die nationalsozialistische Gemeindeverfassung, die sich zu Unrecht als eine Verbesserung der Steinschen hinstellte, bei ihrer Verwirklichung zu einer Gefährdung des Gemeindelebens führen mußte, indem an Stelle eines eigenständigen Gemeindelebens die seelenlose Diktatur des Parteiapparats trat.

Der Grundgedanke Steins war, durch die Heranziehung der Staatsbürger zur Gemeindeverwaltung, das heißt durch eine Demokratisierung der Gemeindeverwalrung das Staatsbewußtsein zu unterbauen und zu heben. Stein sagte:

„Hat man sich überzeugt, daß das Verdrängen der Nation von jeder Teilnahme an der Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten den Gemeingeist erstickt und daß dessen Stelle eine Verwaltung durch besoldete Behörden nicht ersetzt, so muß eine Änderung in der Verfassung erfolgen. Das zudringliche Eingreifen der Staatsbehörden in Privat- und Gemeindeangelegenheiten muß aufhören und dessen Stelle nimmt der Bürger ein, der nicht in Formen und Papier lebt, sondern kräftig handelt, weil ihn seine Verhältnisse in das wirkliche Leben hinrufen.“

So gelangte Stein zur Forderung der freien Gemeinde.

Leider war jedoch Stein bei der Durchführung dieses Gedankens der Gemeindeselbstverwaltung nicht glücklich, da er die damals in Frankreich vielfach herrschende Meinung sich zu eigen machte, daß auch in der Gemeindeverfassung sowie in der Verfassung des Staats der Grundsatz der Gewaltenteilung durchzuführen sei. Daher sehen wir in der Steinschen Gemeindeverfassung, die ja praktisch in Preußen bis 1933 galt, den Unterschied zwischen der beschließenden Stadtverordnetenversammlung mit ihrem Vorsteher und dem die Stadt verwaltenden Magistrat mit dem Bürgermeister an der Spitze. Das Wort Magistrat hat also in Preußen eine ganz andere Bedeutung wie in Österreich. Die Stadtverordneten werden von der Bevölkerung gewählt,“ der Magistrat von der Stadtverordnetenversammlung. Da jedoch die Magistratsmitglieder einschließlich dem Bürgermeister nicht dem Kreise der Stadtverordneten zu entnehmen sind, so stehen sie der Bevölkerung mangels eines direkten Zusammenhanges fremd gegenüber. Bald errangen auch die beamteten Magistratsmitglieder mit den Bürgermeistern die Führung und drängten die Stadtverordneten immer mehr zurück, so daß in der Gemeindeverwaltung die bürokratischen Elemente die demokratischen an die Wand drückten. Damit aber war das Ziel der Steinschen Gemeindeverfassung verfehlt und die preußische Gemeindeverwaltung erwies sich im Laufe der Zeit immer unfähiger, die vorhandenen demokratischen Keime zu pflegen.

Diese Entwicklung war in Preußen im wesentlichen schon abgeschlossen, als 1848, also vierzig Jahre später als in Preußen, sich in Österreich Graf Stadion vor die Aufgabe gestellt sah, eine zeitgemäße Gemeindeverfassung zu entwerfen. In Preußen war man immer mehr dazu übergegangen, i n der Gemeinde eine staatliche Anstalt zu sehen und den Gemeindeorganen nur die Rolle mittelbarer Staatsorgane zuzugestehen. Dies entsprach dem zentralistischen Staatsgedanken, der sich eine autonome Gemeinde weder theoretisch noch praktisch vorstellen konnte. Demgegenüber stellte sich Stadion auf den Standpunkt, „d i e Grundfeste des freien Staates ist die freie Gemeinde. Der Wirkungskreis der freien Gemeinde ist a) ein natürlicher, b) ein übertragene r“.

Die Gemeinde hat nach Stadion einen natürlichen Anspruch auf Selbstverwaltung, „der nur mit Rücksicht auf das Gesamtwohl die notwendigen Beschränkungen erhält“. Vielleicht oder wahrscheinlich war ihm auch nicht die Kritik des Franzosen Guizot an der Gewaltenteilungslehre bekannt: dieser forderte, als im Sinne des parlamentarischen Lebens gelegen, daß die Regierung, das heißt das Ministerium, als ein Ausschuß des Parlaments aufzufassen ist. Stadion lehnte daher die Teilung der Gemeindeverwaltung in eine beschließende und eine verwaltende Körperschaft ab und bestimmte, daß der Bürgermeister, der Vorsitzender des Gemeinderates und Chef der Gemeindeverwaltung in einer Person ist, aus der Mitte des G e m e i n d e r a t e s zu wählen ist. Als Mandatar mit dem Volke verbunden und Kind seiner Gemeinde, ist der österreichische Bürgermeister im Gegensatz zu seinem preußischen Kollegen wirklich der Repräsentant der Gemeinde nach innen und außen. Die politischen Parteien Österreichs haben von der kleinsten Landgemeinde bis zur Großgemeinde Wien es immer als ihre Ehrenpflicht erachtet, ihre besten Männer auf den Bürgermeisterposten zu berufen. Wer zum Beispiel die Entwicklung Wiens und die Namen seiner Bürgermeister seit hundert Jahren übersieht, wird zugeben, daß Liberale, Christlichsoziale und Sozialdemokraten sich hier bemühten, eine solche demokratische Tradition im besten Sinne des Wortes zu schaffen. Eine dem Wesen der Gemeinde fremde Büro-kratisierung wurde durch dieses System hintangehalten.

Wer dagegen die preußische Gemeindeverwaltung — die anderen deutschen Staaten hatten andere' Systeme, die zum Teil dem österreichischen Systeme näher standen, ohne daß sie viel beachtet worden waren — überblickt, wird feststellen, daß die Gemeinde immer mehr bloßes, bürokratisch geleitetes Verwaltungsorgan wurde. Die Gemeindewahlen fanden im Volke nur wenig Resonanz, denn die Stadtverordneten hatten angesichts der Gemeindebürokratie nichts zu sagen. Die Eräftigen Persönlichkeiten, die sich In Österreich mit Vorliebe der dankbaren Arbeit an der Heimatsgemeinde widmeten, zogen sich auf andere Gebiete des öffentlichen Lebens zurück. So wurde zur Zeit der national-fozialistischen Herrschaft über Österreich die Vernichtung des letzten'Restes von Demokratie in der Gemeindeverfassung, die Bestimmung, daß die Stadtverordneten nicht mehr von der Bevölkerung zu wählen, sondern v'o n den nationalsozialistischen Parte i i nstanzen zu ernennen seien, von der Bevölkerung beinahe teilnahmslos entgegengenommen. So lebte unter dem nationalsozialistischen Regime die Gemeinde nicht mehr ihr Leben, sie war tatsächlich nur Vollzugsorgan des Staates und der Partei geworden. Die Absetzbarkeit des Bürgermeisters durch die Parteiinstanzen war des ferneren nicht geeignet, eine Verwurzelung desselben zu fördern. Ja, der schon vor dem Nationalsozialismus vielfach bestandene Brauch, zum hauptamtlich fungierenden Bürgermeister einen Ortsfremden zu bestellen, wurde jetzt vielfach System.

Als man die nationalsozialistische Gemeindeverfassung nach Österreich verpflanzte, konnte sie daher nicht gedeihen. Wenn dieses System gedauert hätte, wäre es ähnlich wie in Preußen zu einem Verdorren des Gemeindelebens gekommen. Während in der österreichischen Gemeindeverfassung alles darauf abzielt, einen volkstümlichen Menschen an die Spitze der Gemeindeverwaltung als Bürgermeister zu stellen, hat das nationalsozialistische System die Gemeinde immer mehr zu einer Anstalt des Staates ohne ein selbständiges Leben herabsinken lassen.

In der österreichischen Gemeindeverfassung ist neben dem autonomen noch der übertragene Wirkungskreis der Gemeinde von allem Anfange an betont worden. Auel: dies ist ein trefflicher Gedanke; denn der österreichische Bürger- ' meister wird dadurch der Mann, der die Brücke von der Gemeinde zum Staate zu schlagen beginnt. Er wird angeleitet, seinen Blick auf das Staatsganze zu richten. Eine Menge trefflicher österreichischer Politiker hat ihre Laufbahn einstmals als Bürgermeister oder Gemeinderat begonnen. Indem sie die Verhältnisse im Kleinen kennenlernten und hiebei auch die Verwaltungspraxis sich aneigneten, die für eine jede sachliche Politik notwendig ist, erwies sich die Gemeinde als die Ausbildungsstätte der Staatsmänner. Aber auch die Politiker, die nicht aus der Gemeindeverwaltung hervorgegangen sind, waren immer in einem weit höheren Maße als in Preußen gezwungen, sich um die Gemeinden und ihre Probleme zu kümmern.

In wenigen Jahren wird dieses österreichische System der Gemeindeverwaltung sein hundertjähriges Bestandsjubiläum feiern. Bei diesem Anlaß wird es zweckmäßig sein, darauf hinzuweisen, wie der organische Staatsgedanke, der nicht mechanisch und zentralistisch den Staat aufbaut, sondern im ganzen Bereiche des öffentlichen Lebens frischpulsierendes Leben zur Grundlage des Staatsaufbaues machen will, gerade in der österreichischen Gemeindeverfassung sich praktisch ausgewirkt hat.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung