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Die Peinlichkeit des „Seitenblicke“-Milieus

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Die „Seitenblicke“-Gesell- schaft folgt dem olympischen Grundsatz: dabeisein ist alles. Kollektiver Exhibitionismus. Davon leben Klatschkolumnisten ebenso wie Zeitgeist-Magazine. Ohne Hemmungen. Plötzlich soll es diese geben?

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Die „Seitenblicke“-Gesell- schaft folgt dem olympischen Grundsatz: dabeisein ist alles. Kollektiver Exhibitionismus. Davon leben Klatschkolumnisten ebenso wie Zeitgeist-Magazine. Ohne Hemmungen. Plötzlich soll es diese geben?

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Daß es in der politischen Arena - und das nicht nur hierzulande und heutzutage - „men- schelt“, ist so neu nicht, wie es mancher Kommentar der jüngsten Zeit weismachen will. Zwei angesehene Landeshauptleute haben sich immerhin vor gar nicht so langer Zeit aus ihren Ämtern zurückgezogen, weil sie ihre privaten Verhältnisse mit ihrem Amt nicht länger vereinbaren konnten und wollten. Eine Scheidung von Privat und Staat, die säuberliche Trennung von Intimsphäre und Amt wurde jedenfalls in diesen Fällen nicht in Erwägung gezogen.

Gibt es diesen ganz persönlichen Lebensbereich, der für die Außenwelt tabu sein sollte, überhaupt noch für Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen und auf Öffentlichkeit drängen? Was wird nicht alles unternommen, um nur ja in den Klatsch- und Tratschspalten dieser „Seitenblicke“-Gesellschaft erwähnt zu werden. Warum widerstehen auch so viele Spitzenpolitiker nicht der Versuchung, die Intimsphäre nach

außen zu stülpen, wenn sie diese dann gewahrt wissen wollen? Wo soll plötzlich der Respekt herkommen, den man sich selbst versagt?

Die Trennung von Privat und Staat — einmal unabhängig davon, ob sie wünschenwert wäre oder nicht — kann in einem solchen Milieu nicht funktionieren. Allerdings: die 31 in der Bundesverfassung explizit genannten Kompetenzen des Bundespräsidenten, seine Rolle als Garant der Rechtmäßigkeit der staatlichen Politik stehen mit seinen privaten Verhältnissen in keinem wie immer gearteten Zusammenhang.

Diesem reduzierten Amtsverständnis als „Staatsnotar“ ist aber gerade Thomas Klestil entgegengetreten. Er ist ganz bewußt auch angetreten, die angeschlagene moralische Autorität des Amtes zu stärken, „Vorbilder aufzuzeigen und Vorbild zu sein“ („Mein Programm für Österreich“, 6. März 1992).

BLICK DURCHS SCHLÜSSELLOCH

Daß Thomas Klestil jetzt nicht nur daran gemessen wird, wie er seinen Rechtspflichtenkatalog erfüllt, sondern auch nach den Erwartungen und Hoffnungen, die er ausgelöst hat, mußte er in wenigen Tagen erfahren. Und das wieder ist so einfach nicht vom Amt zu trennen.

Amt wie Amtsträger wurden und werden der öffentlichen Neugierde ausgeliefert. Das ungustiöse und verletzende Auswalzen der Affäre am Boulevard, das veröffentlichte Kopfzerbrechen über First und Second Lady, die Argusaugen, die jede und jeden Beteiligten auf Schritt und Tritt verfolgen, die süffisanten Deu

tungen von Klestil-Aussagen zu Ehe und Familie, die Spekulationen über Scheidung, Scheidungsfolgen und Unterhaltspflichten, die hinterfotzige Aufforderung, Schmutzwäsche gar vor dem Richter auszubreiten: darunter leidet nicht nur ein Mensch, das kann ja niemand wegstecken, darunter leidet auch sein Amt.

Die Zeiten der Außerstreitstellung des Bundespräsidenten sind - auch was ihn persönlich betrifft - endgültig vorbei. Jetzt wurde auch unter das ebenso „idolisierte“ wie „idealisierte“ Verständnis des Amtes ein Schlußstrich gezogen.

Ein Damm ist gebrochen. Die Flut ist unabsehbar und könnte vieles und noch manche mit sich reißen. Öuting, wie es die „Seiten- blicke“-Gesellschaft nennt, ist angesagt. Vom ersten Mann im Staat abwärts. Der Blick durch die Schlüssellöcher ist freigegeben.

Bundespräsident Thomas Klestil hat eine rasche und eindeutige Lösung seiner privaten Probleme versprochen. Sie ist durch das Auswalzen der Affäre vor und in der Öffentlichkeit sicher nicht leichter geworden. Daß er aber zu einer Lösung seiner persönlichen Beziehungsprobleme finden muß, war ihm allerdings schon seit längerer Zeit bewußt. Da bleibt, bei allem Respekt vor der nunmehrigen Offenheit, auch gehöriges Unbehagen zurück.

Klestil steht unter Zeit- und Entscheidungsdruck: menschlich ist das nach all den Verwundungen für alle Beteiligten eine zusätzliche Belastung. Wunden können heilen, aber Narben bleiben. Und das wohl nicht nur privat.

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