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Die Planer und das Labyrinth

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In Praxis und Theorie rückt man nun in der Sowjetunion den Mängeln der geheiligten Planwirtschaft zu Leibe. Rein sachliche Analysen auf breiter Ebene und praktische Experimente mit neuen Methoden haben sie des schützenden Schleiers der Ideologie beraubt und auch sowjetischen Augen enthüllt, daß sie den Anforderungen einer modernen Volkswirtschaft, zumindest in ihrer bisherigen Form, nicht entspricht.

In einer Reihe von Artikeln, die in den letzten Wochen erschienen sind, haben sowjetische Wirtschaftswissenschaftler und Planungsmanager (Trapesnikow, „Prawda", 17. August; Rubintschik, „Prawda“, 20. August; Kronrod, „Iswestija",

22. August; Wolkow, „Prawda“,

23. August; Leontiew, „Prawda“, 7. September) folgende grundsätzliche Reformen vorgeschlagen: Abschaffung der Normdirektiven, größere Selbständigkeit der Betriebe, Einführung des Kapitalzinses und des Grundsatzes der Rentabilität als Kriterium des wirtschaftlichen Erfolges, materieller Anreiz für Belegschaft und Betriebsleiter durch Beteiligung am Gewinn und sogar Steuerung der Produktionsplanung durch den Markt. Ab 1. Mai 1964 wurden versuchsweise zwei Textilfabriken („Bolschewik“ und „Majak“) auf die Basis völliger Unabhängigkeit im Sinne dieser für bisherige sowjetische Vorstellungen scheinbar konterrevolutionären Grundsätze umgestellt. Ein Erfolg dieses Experimentes würde die Umstellung aller Unternehmen der sowjetischen Leichtindustrie zur Folge haben.

Ohne einen Blick hinter die Kulissen dieser Vorgänge, kann die weitreichende Bedeutung gar nicht ermessen werden, die sie für das schon oft umgeschaltete und stets in Reparatur befindliche Getriebe des sowjetischen Wirtschaftslebens haben und noch ausüben könnten.

Die Sowjet-PIanokraten vor schweren Aufgaben

..Nach Berechnungen sowjetischer Experten sind die Planungsaufgär, ben, denen sich heute die Wirtschaftssteuermänner der Sowjetunion gegenübersehen, um das 1600fache komplizierter als sie es 1928 bei der Ausarbeitung des ersten Fünfjahresplanes waren. Das wird sofort glaubhaft, wenn man erfährt, daß in der Sowjetunion gegenwärtig über 200 Millionen Arten von Gütern hergestellt werden, deren Produktion und Rohstoffbasis koordiniert werden muß. So nimmt es nicht wunder, daß die Sowjet- planokraten wenig Lust haben, das Schicksal des Sisyphus zwischen

Tabellen und Elektronenrechen- maschinen zu erleiden und daher nach einer „multilateralen“ Lösung der Wirtschaftsplanung suchen, der sie nun offensichtlich ziemlich nahe sind.

Die zentralistische Planwirtschaft erwuchs in ihrer heutigen Form aus dem Entschluß, die rasche Industrialisierung der bis dahin durch die Agrarwirtschaft dominierten Volkswirtschaft voranzutreiben. Ideologisch lief das unter der Devise: „die materiell technische Basis für das sozialistische System zu schaffen“. Zentrale Planung war damals deshalb verhältnismäßig leicht zu verwirklichen, weil sie sich im wesentlichen auf das Vorranggebiet der Schwerindustrie konzentrieren konnte, indem man der Leichtindustrie und der Landwirtschaft den Rest der Investitionsmittel und Rohstoffe überließ.

Die forcierte Industrialisierung enthüllte jedoch eine ihr innewohnende Logik, deren weitere Konsequenzen ihren Verfechtern heute ziemliches Kopfzerbrechen bereitet. Denn die Schwerindustrie begann, Bedürfnisse zu entwickeln, die sie selbst nicht zu stillen vermochte. Der Bedarf der Schwerindustrie und der Landwirtschaft an chemischen

Produkten (Kunstdünger, Lacke und so weiter) und der wachsende Kon- sumentenbedarf an Konsumgütern und Lebensmitteln — den man auch aus politischen Gründen nicht mehr völlig unbeachtet lassen konnte —

mußte nun von einer ungleich leistungsschwachen Landwirtschaft und Leichtindustrie gedeckt werden. Die unbestreitbar eindrucksvollen und im Westen mit einigem Staunen zur Kenntnis genommenen Erfolge in verschiedenen Zweigen der sowjetischen Schwerindustrie erweisen sich als Ergebnis der krassen Bevorzugung dieses Primus in der 'sonst benachteiligten Trias der sowjetischen Volkswirtschaft Die Stiefschwestern Landwirtschaft und Leichtindustrie haben der Sowjetunion den so sehr ersehnten Ruf, ein Wirtschaftswunderland zu sein, ziemlich verdorben.

Die Milchmädchenrechnung ging nicht auf

Die Erkenntnis, daß die zunehmend komplexe Struktur einer

Industriegesellschaft und ihrer Wirtschaft nicht mit so einer Milchmädchenrechnung aufgegliedert werden kann, zeigte sich zunächst nur in den immens anschwellenden Körperschaften der Planungsbehörden.

Dort begann man bald zu bemerken, wie viele Konsequenzen und Wechselwirkungen jede Planungsentscheidung nach sich zog. Die große Wirtschaftspolitik aber wurde zu jener Schaukel, die, zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung schwingend, an dem sich immer mehr verwickelnden Knoten der wachsenden Koordinierungsaufgaben hing. Bis 1957 herrschte das zentralistische Ministerialsystem, das zwar eine koordinierte Planung in den einzelnen Ressorts gewährleisten konnte. Die mangelnde Koordination zwischen diesen gab jedoch einem Ressortegoismus Raum, der zu Zweigleisigkeiten und schweren Verlusten führte. Die von Chruschtschow hierauf eingeleitete Reform mit einem System regionaler Koordination aller Wirtschaftszweige hatte im provinziellen Raum Erfolg, aber sie verursachte schwere Störungen in der interregionalen gesamtstaatlichen Koordinierung. So sah sich die sowjetische Führung Anfang 1963 abermals genötigt, zu einer straffer zentralgesteuerten Ordnung zurückzukehren. Die Befugnisse der regionalen Volkswirtschaftsräte wurden sehr eingeschränkt und neue zentrale Körperschaften gegründet.

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