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Die Potemkinschen Dorfer

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Das Bild, das der Durchschnittseuropäer, auch der gebildete, von der russischen Geschichte hat, erhebt sich vorläufig leider in nicht seltenen Fällen wenig über das Niveau einer Moritat. Der Sohnesmord Iwans des Schrecklichen, die Hinrichtung der Stre-litzen und des Thronfolgers Alexei unter Peter dem Großen, der Brand von Moskau, Rasputin und die Oktoberrevolution, das sind so die markanten und bekannten Daten. Dazu kommt noch die Geschichte von dem „Potemkinschen Dörfern“, in denen geradezu ein Symbol für die russische Wirtsdiaft, wenigstens früherer Zeiten, gesehen wird. Aber auch die Fabriken des gegenwärtigen Zeitalters seien nur „Potem-kinsche Dörfer“, die man errichtet habe, um ausländische Journalisten zu blenden, versicherte die Propaganda im Anschluß an das Rußlandbuch Edwin Erich Dwingers und fand damit Glauben. Auch das Staunen des deutschen Soldaten über den unversieg-lichen Panzerstrom und das Artilleriefeuer der Roten Armee hat sich bis heute noch nicht überall zu der Einsicht gewandelt, daß man sich von Rußland, seiner Geschichte und seinem Wesen völlig falsch Vorstellungen gemacht hat.

Die Potemkinschen Dörfer sind wirklich ein Symbol, aber nicht für russische Unfähigkeit, sondern europäische Verblendung.

Potemkin, so lautet die Anekdote, besaß als allmächtiger Günstling am Hofe Katharinas II. zahlreiche Feinde. Diese beschuldigten ihn bei der Kaiserin, daß er die zur Kultivierung der Krim erhaltenen Millionen in seine Tasch gesteckt habe und jene noch ein höchst elendes Land sei. Katharina habe daher im Jahre 1787 beschlossen, eine Reise dorthin zu unter-, nehmen und sich durch den Augenschein von dem Stande der Dinge zu überzeugen. Potemkin, der darüber zunächst in heftige Bestürzung geraten sei, habe sich durch Taschenspielerkünste größten Ausmaßes zu helfen gewußt. Er habe von weither Menschen und Vieh zusammentreiben und entlang der Reiseroute arbeiten und weiden lassen. Nachts hätten diese vorauseilen müssen, um am folgenden Tage vor der Kaiserin abermals aufzutreten. Die Dörfer, die man in der Ferne erblickt habe, seien nur bemalte Bretter gewesen. Die Kaiserin habe sich täuschen lassen und Potemkin durdi die Verleihung des Titels „der Taurier“ und durch kostbare Geschenke geehrt.

Der wahre Sinn der berühmten Reise Katharinas II. nach Südrußland kann nur im Zusammenhang mit der bedeutendsten Tat ihrer Regierung, der Ausdehnung der russischen Macht bis an die Nordküste des Schwarzen Meeres und der Erringung der Seeherrschaft auf diesem, selbst verstanden werden. Voraussetzung dafür war der Besitz der Krim, die dank des Bündnisses mit Österreich gegen den Willen aller anderen europäischen Mächte ohne Blutvergießen durch einen Handstreich Potemkins den Türken, die dort 300 Jahre lang ein Protektorat besessen hatten, 1783 entrissen worden war. Bereits in diesem Jahre hatte jener, nachdem er schon seit neun Jahren die südlichen Gouvernements Rußlands verwaltet und sich bemüht hatte, sie zu einer starken militärischen Bastion gegen das osmanische Reich auszubauen, seinen Untergebenen den baldigen Besuch der Kaiserin angekündigt und sie im Hinblick darauf zu äußersten Leistungen bei der Kolonisierung des fast menschenleeren Steppengebietes angespornt.

Die Reise war einerseits als Vergnügungsfahrt gedacht, wie sie Katharina seit Beginn ihrer Regierung gelegentlich in entfernte Provinzen ihres Reiches zu unternehmen liebte, sie verfolgte aber auch bedeutsame politische Ziele. Schon 1780 hatte Kaiser Joseph IL, der mit der Zarin ein Bündnis zur Vertreibung der Türken aus Europa und Aufteilung ihres dort befindlichen Besitzes abgeschlossen hatte, eine Zusammenkunft, die der Konsolidierung der Freundschaft der Alliierten dienen sollte, in der von Potemkin nahe der Dnjepr-mündung ins Schwarze Meer begründeten Festung Cherson angeregt. Russischerseits wollte man den Anlaß benutzen, den Türken und ganz Europa vor Augen zu führen, wie stark die eigene Militärmacht in Südrußland bereits geworden war und wie sich unter der Herrschaft der Zarin Wohlstand und Kultur in den neuerworbenen und von ' den Barbaren befreiten Gebieten entwickelt hatten.

Nicht eine Kontrollfahrt, sondern eine außenpolitische Demonstration und Propagandaaktion größten Stils war also diese Reise in die Krim, die in ihren Einzelheiten infolge ihrer Ähnlichkeit mit dem Treffen zwischen „Führer und EHice“ uns auch heut noch merkwürdig vertraut erscheint, obwohl sie eines der glänzendsten Hoffeste des 18. Jahrhunderts darstellt, dessen Verlauf wir in den brillanten Schilderungen des Prince de Ligne und des französischen Gesandten Segur mit Genuß miterleben können.

Potemkin bewies bei der Vorbereitung und Durchführung dieses Unternehmens ein Organisationstalent und eine Phantasie, die ihn einem Todt oder Speer zumindest ebenbürtig erscheinen lassen. Schon im Herbst 1784 war die Reiseroute mit ihren Stationen im wesentlichen festgelegt. Entsprechend wurden neue Straßen gebaut, die vorhandenen verbessert, Brücken und Fähren instand gesetzt. Für jeden Pferdewechsel wurden 5 bis 700 Rosse bereitgestellt, an den Übernachtungsorten, die sich nach Möglichkeit durch schöne Lage und Aussicht hervortun sollten, wurden bequeme, unterkellerte Quartiere mit Eishäusern geschaffen, einwandfreie Brunnen gegraben und gepflegte Gärten angelegt. Das gewaltige Kolonisationswerk der Steppe wurde, darüber kann kein Zweifel bestehen, in diesen Jahren durch diese Reise bestimmt und damit auch nachteilig beeinflußt. Die deshalb g'egen Potemkin erhobenen Vorwürfe sind trotzdem nur teilweise berechtigt, denn zu diesem Zeitpunkt mußte die friedliche Besiedelung noch hinter der militärischen und diplomatischen Aktion zur Sicherung der Gebiete gegen den früheren Eigentümer, der sich mit ihrem Verlust noch keineswegs abgefunden hatte, zurücktreten.

Aus dem Gesagten geht bereits hervor, daß Potemkin sich nicht einen Augenblick der Täuschung seiner Gebieterin schuldig rnachte, mit der ihn in diesen Jahren kein Liebesverhältnis mehr, sondern eine reife und menschlich schöne Freundschaft verband, die durch die gemeinsame Arbeit für ein großes politisches Ziel in das Bedeutende gehoben wurde. Die Anekdote von den „Potemkinschen Dörfern“ ist vielmehr auf Höflingstratsch und bewußte Verleumdung zurückzuführen, für die in erster Linie der aus Petersburg wegen seiner bösen Zunge ausgewiesene sächsische Diplomat Heibig verantwortlich zu machen ist, der in dem von Archenholz herausgegebenen Journal „Minerva“, 1797 bis 1801, in Fortsetzungen eine pamphletartige Potemkin-Biographie veröffentlichte, die bis in die jüngste Zeit hinein völlig unkritisch als Geschichtsquelle benützt wurde.

Als Katharina im Jänner 1787 Sankt Petersburg verließ, um sich in der Begleitung ihrer bevorzugten Getreuen nach dem Süden zu begeben, ließ sie in der Residenz eine mißgünstige und feindselige Kamarilla, mit dem Thronfolger Paul an der Spitze, zurück. Schon auf der Reise hatte sie sich veranlaßt gesehen, den Gouverneuren von Moskau und Petersburg ausführlich zu berichten, in welch ausgezeichneter Ordnung sie selbst die von Potemkin verwalteten Provinzen angetroffen habe. Der österreichische Gesandte Cobenzl, der die Fahrt mitgemacht hatte, berichtete aber, daß es nicht gelang, die Lästermäuler zum Schweigen zu bringen und daß man sich einfach weigerte, zu glauben, „daß es in Taurien und Cherson so war, wie wir es tatsächlich gesehen haben“. „Ich weiß“, schrieb der Prince de Ligne an die Marquise de Coigny, „daß es nicht Mode ist, den Reisenden und Hofleuten auch das Gute, das man von diesem Reiche erzählt, zu glauben. Jene Einheimischen, die erbost darüber sind, daß sie nicht mit uns waren, behaupten sogar, daß man uns beschwindelt hat und daß wir selbst schwindeln Man hat auch schon das lächerliche Märchen erfunden, daß man auf unsere Route Dörfer hundert Meilen weit transportiert hat, daß Schiffe und Kanonen nur gemalt, die Kavallerie ohne Pferde gewesen seien ... Ich weiß sehr gut, wie man getäuscht werden kann. Zum Beispiel mag die Kaiserin, die nicht zu Fuß gehen kann, glauben, daß einige Städte, für die sie das Geld gegeben hat, fertig sind. Dabei sind diese oft ohne Straßen, die Straßen ohne Häuser und die Häuser ohne Dächer, Fenster und Türen. Sie sieht gut gebaute Kaufläden mit steinernen Arkaden und die Kolonnaden der Paläste für die Generalgouverneure, für die sie 42 silberne Tafelgeschirre zu hundert Gedecken geschenkt hat. Da ich auf verschiedenen Fahrten die Kaiserin verlassen habe, habe ich vieles gefunden, was die Russen selbst nicht kennen. Begonnene großartige Anlagen, Fabriken, Kriegersiedlungen mit schnurgeraden Straßen, von Bäumen umgeben und von Wasserläufen durchflössen.“

Eine so sensible Natur wie der Prince de Ligne war nicht schwer zu beeindrucken und die heroische Landschaft der südlichen Krimküste führte denn auch bei diesem Salordpwen geradezu zu einer inneren Erneuerung. Dagegen machte Joseph II. die Reise als skeptischer und scharfer Beobachter mit, der sich nur gelegentlich und gegen seinen Willen, zum Beispiel durch die großartige Flottendemonstration in dem von Potemkin errichteten Hafen von Seba-stopol, mitreißen ließ. Für diesen gewissenhaften Regenten handelte es sich in erster Linie darum, die tatsächliche Stärke seines Bundesgenossen zu ermitteln. So war er schon vor der Zusammenkunft mit Katharina allein nach Cherson gefahren, um die dortigen Anlagen ungestört besichtigen zu können. Seinem scharfen Blick war keiner der Mängel entgangen, die der Neugründung noch anhafteten und nur mit Mühe ertrug er die prahlerische Selbstzufriedenheit seiner Gastgeberin, die er zu seinem entschiedenen Mißfallen durch das Gesehene in so hohem Grade „verblendet“ fand, daß sie sich allein und ohne seine Mithilfe imstande glaubte, alles, was sie anstrebte, zu erreichen.

Es ist psychologisch begreiflich, daß Joseph sich innerlich darüber lustig machte, wenn Katharina Cherson einen „Koloß“ nannte und hier ein „zweites Amsterdam“ im Entstehen glaubte. Er hatte recht, wenn er in seinen Briefen an den Feldmarschall Lacy die Festungsanlagen und Kriegsschiffe tadelte und die Armee desorganisiert fand. Was er übersah, war die außerordentliche Leistung, die darin bestand, in dem völlig menschenleeren Steppengebiet, in dem jegliches Baumaterial fehlte, Städte geradezu aus dem Bockn zu stampfen. So war Cherson — neben Jekaterinoslaw (heute Dnjepropetrowsk)^mit Nikolajew die wichtigste Gründung Potemkins —, ganz abgesehen von der eminenten strategischen Bedeutung, die es bereits bei der Eroberung der Krim bewiesen hatte, schon im fünften Jahre seines Bestehens der Stützpunkt eines lebhaften russisch-französischen Handels geworden, der in direktem Verkehr mit Marseille stand. An seine Entwicklung wurden in ganz Europa die kühnsten Erwartungen geknüpft, die allerdings nicht in Erfüllung gingen, da es später durch Odessa verdrängt wurde. Auch war die augenblickliche Schwäche der russischen Armee darin begründet, daß Potemkin sie unter bewußter Absage an das bisherige preußische Vorbild zu einer den besonderen Bedürfnissen der Landesverteidigung angepaßten Nationalarmee umzugestalten versuchte. Ein oberflächliches Vergleichen mit dem Stand der europäischen Zivilisation ließ Joseph die Dynamik der hier erst an ihrem Anfang stehenden Entwicklung verkennen und verleitete ihn dazu, die dem Zarenreich innewohnenden Kraftreserven zu unterschätzen. Außerdem bewirkte sein ganzes 'Verhalten das Gegenteil von dem, was er mit der Reise bezwecken wollte. Eine Abkühlung der russisch-österreichischen Freundschaft trat ein. Durch die sehr gemessene Anerkennung, die er sich abrang und durch sein Bestreben, den Dingen auf den Grund zu gehen und sich nicht einfach mit dem Gezeigten zufrieden zu geben, hatte er sich ausgesprochen unbeliebt gemacht. Fortan bezeigte man russischerseits wenig Lust, ihn oder seine Beauftragten „spionieren“ zu lassen. Wenn diese Gäste aus dem Westen die Größe dessen, was man geschaffen hatte, nicht vorbehaltlos anzuerkennen bereit waren und glaubten, Kritik üben zu müssen, weil noch nicht, alles so weit entwickelt war, wie bei ihnen selbst, dann war es besser, wenn sie überhaupt wegblieben.

Dnjepropetrowsk, Nikopol, Cherson, Sebastopol und auf der Rückreise Kriwoi-Rog, das sind heute die Stätten, deren Anfänge die Zeitgenossen „Potemkinsche Dörfer“ nannten. In diesem Hinweis liegt eine eindringliche Warnung, bei der Beurteilung der Zustände in Osteuropa in Zukunft eine größere Vorsicht walten zu lassen.

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