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Die praktische Seite der Frühemanzipierung

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In viel größerem Ausmaß als in Europa lag und liegt die Volks-schul- und Mittelschul- (High-School-) Erziehung in den Händen von Frauen. Kritiker der immer wieder diskutierten „matriarchalischen Komponente“ in der amerikanischen Zivilisation haben diese unentrinnbare „Respektsache“ zwischen Mutter und Lehrerin, der sich kein junger Amerikaner bis zum 18. Lebensjahr entziehen kann, für die „Frauenübermacht“ verantwortlich gemacht. Die vernachlässigte, aber unbedingt notwendige Systematik und fachliche Grundlage der Lehrerinnenausbildung — 1964 eine Selbstverständlichkeit, 1874 aber noch eine Zukunftsforderung des Pastors — muß in den vier Collegejahren erarbeitet werden. Aber selbst jene Studentinnen, die nicht Lehrerinnen werden, sondern sich „nur“ ihren Familien widmen, dürfen nicht vergessen, sagt Seeley, daß „eine Mutter in einem gewissen Ausmaß künstlerische Fertigkeiten und verschiedene Berufsfertigkeiten verbinden muß; sie ist Künstler und Handwerker; sie macht Gesetze und führt sie aus; sie muß Prediger, Arzt und Advokat sein“. Dieser Ausspruch zeigt, wie tief der Bildungsanspruch der Frau bereits in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in der amerikanischen Erziehungstheorie verankert war, lange bevor die Auswirkungen in der gesellschaftlichen Gesamtstruktur spürbar wurden. Seeley lehnt aber die einfach scheinende Lösung, den Weg der Universitätsbildung für die Frau freizumachen, ab: die Öffnung der bestehenden Männer-collegs für weibliche Hörer (die angelsächsische Universitätsstruktur, die zwischen „undergraduate“ = Collegehörer und „graduate“ — im eigentlichen Sinn akademischer Hörer unterscheidet, darf hier nicht außer acht gelassen werden; das diskutierte Problem gilt selbstverständlich nur für die „undergra-duates“). Ein Argument, das sich gegen die gemischten Colleges (coe-ducational Colleges) richtet, mutet nach zwei vom „männlichen“ Geist

getragenen Weltkriegen seltsam modern an. Pastor Seeley stellt die Frage, ob die Schaffung eines von maskulinen Leitbildern bestimmten Erziehungstypus auch für Mädchen erstrebenswert sei...?

Das Mädchencollege als utopischer Frauenstaat

Smith College als pars pro toto amerikanischer Mädchencolleges wird de iure von Männern regiert. Der Präsident ist immer ein Mann

gewesen; ungefähr die Hälfte der Professoren — an der amerikanischen Hierarchiespitze sogar noch mehr — sind Männer. Die einflußreichen Körperschaften hinter dieser

akademischen Fassade aber — alumnae association (Vereinigung ehemaliger Hörerinnen) und trustees (Aufsichtsrat) — werden weitgehend von Frauen regiert. Diese Körperschaften stimmen über Neuinvestitionen ab, sie bringen aber auch die Geldmittel für die oft sehr kostspieligen Projekte auf (ein Betrag von zehn Millionen Dollar für das neue Laboratoriumsgebäude zum Beispiel wurde im Laufe einer Spenden- unc1 Sammlungsaktion in den letzten vier Jahren bereitgestellt). Sie kümmern sich aber ebenso um Details, wie die politische Einstellung einzelner Professoren, eine Haltung, die besonders zur Zeit der McCarthy-Kommissionen als Übergriff empfunden wurde und eine Krise zwischen Lehrkörper und diesen Vereinigungen hervorrief.

Der Eindruck eines utopischen Frauenstaates verstärkt sich innerhalb der Collegepolitik durch das Prinzip einer Art ungeschriebener Gewaltenteüung. Die männlichen Professoren kümmern sich mehr um rein akademische Bereiche (Vorlesungstitel, Neuberufungen und so weiter), die Frauen, rein zahlenmäßig in gewaltiger Übermacht (alumnae, weibliche trustees, Professorinnen und administratives Personal), konzentrieren sich mehr auf Ziele erziehungspolitischer, nicht direkt akademischer Natur: Spenden für Stipendien, Verleihung von Ehrendoktoraten an Frauen — es gibt keinen männlichen Ehrendoktor von Smith —, Errichtung neuer Gebäude, Überwachung der Moral, Gründung und Betreuung von Smith-College-Clubs in allen Staaten der USA mit Ausläufern in London und Paris. Diese ständige weibliche Beeinflussung der allgemeinen Collegeatmosphäre, unterstützt durch verschiedene Debattierklubs am College selbst und durch das Studentinnenparlament, formt das Imago eines utopischen Frauenstaates,. .DJesej sej&arp, „..unwirkliche Atmosphäre wird durch die geographische Lage verstärkt. Das College liegt in einer kleinen New-England-Stadt mit idyllischer, wienerwald-artiger Umgebung, inmitten eines riesigen, wohlgepflegten Parks, in dem die Collegehäuser verstreut sind: Bibliothek, Vorlesungshallen, Wohnhäuser, Spital, Turnhallen, Kapelle, Museum, Glashäuser, Bootshaus am „Paradiesteich“ (paradise pond), Tennisplätze, Reitbahn und so weiter. Der soziale Kontakt mit den Einwohnern der Stadt, zum Großteil irische und polnische Einwanderer der ersten oder zweiten Generation ist aus vielerlei Gründen

äußerst gering. Männliche Besucher in größerer Zahl und aus der vergleichbaren Altersstufe sieht man nur an Wochenenden, wenn Studenten von der zwei Autostunden ent-

fernten Universität Yale zu Besuch kommen. Die amerikanische Collegestudentin lebt also bis zu ihrem zweiundzwanzigsten Lebensjahr in einer Atmosphäre, die Absolventinnen unserer Mädchengymnasien schon mit achtzehn als zu einseitig empfinden. Die Gewöhnung an diese behütete und geregelte Country-Club-Atmosphäre mit rigorosen Ausgeh- und Anwesenheitsbestimmungen fällt einer Amerikanerin um so schwerer, da man ihr hier plötzlich Freiheiten wieder nimmt, die sie unfern'Eintritt s^ßegÖ bereits besessen hat. Der utopische Fraueh-staat besteht allerdings für die Durchschnittsstudentin, die ja später nicht als Professorin in den Frauenstaat zurückkehrt, nur vier Jahre lang. Heirat, Beruf oder ein SpezialStudium an einer Graduate School bringen sie meist schnell von der Fraueninsel zurück an das Ufer der Realität.

Die konservative Rebellion

Die weibliche Rebellion auf der frühen Stufe der Emanzipierung in den Vereinigten Staaten und nich't viel später auch in Europa, kann

man als echte Revolution bezeichnen. Obwohl die ersten Studentinnen meist aus bürgerlichen Häusern kamen, versuchten sie gerade die bürgerlichen Vorstellungen des

Elternhauses von den Aufgaben der Frau zu durchbrechen. Der Mann sollte nicht für sie gesucht werden, sondern sie suchten sich den Mann (sei es sogar unter Verzicht auf Heirat, ein häufiges Verhaltensschema der Intellektuellen in den „wild twenties“ — den wilden zwanziger Jahren); die berufliche Vorherrschaft des „bürgerlichen“ Mannes sollte gebrochen, die politische Gleichstellung mußte erreicht werden. Diese Errungenschaften sind 1964 keine Zu-kuaftsmueik: Diese'Bastionen sind gestürmt und gefallen. Aber neue Bastionen sind aus der Asche der alten entstanden, die von vielen einsichtigen jungen Amerikanerinnen als Architekturen des Schreckens betrachtet werden. Auf diesen Bastionen befinden sich nun viele und fühlen sich vereinsamt und unerfüllt: die oft bessere und tief ergehende humanistische (liberal arts) Erziehung, denen der amerikanische männliche Akademiker (Arzt, Jurist, Ingenieur und so weiter) und spätere Gatte nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hat; das Phänomen der „carreer woman“ (primär berufsorientierten Frau), die oft viel mehr als ihr Mann verdient, oder eine Lebensverwirklichung in Gestalt jener älteren Professorinnen am Campus, die dem Ideal einer Gertrude Stein, jenem Modell der ruhelosen Bubikopfintellektuellen, nacheifern. Sie suchen vergeblich jenes Glück in den Zügen dieser Verkörperung ihrer eigenen potentiellen Möglichkeiten, das von den Aposteln der Frühemanzipierung versprochen wurde.

Trotzdem studiert man, trotzdem wird der Andrang an den Mädchencolleges von Jahr zu Jahr stärker, aber man ist von den hohen und höchsten Zielen abgerückt. Man hat sich auf mittlere Ziele geeinigt. Man studiert, um einen besserbezahlten Posten zu bekommen, man studiert, um das Sozialprestige zu erhöhen, man studiert, um den zukünftigen Gatten aus einer gleichgestellten Universität (Yale, Harvard, Prince-ton und so weiter) kennenzulernen. Ja, man studiert sogar, um einen Wunsch der Eltern zu erfüllen. Daher rebelliert man gegen zu hohe Forderungen der Professoren, kämpft gegen zu strenge Noten-gebung und tauscht anspruchsvolle gegen leichtere Vorlesungen aus. Man rebelliert also im Grunde gegen das männerfeindliche Leitbild einer Gertrude Stein. Eine quasikonservative Rebellion ohne echtes konservatives Anliegen (Verteidigung eines als gut befundenen Alten) ist an den amerikanischen Mädchencolleges in vollem Gang. Man kann nur hoffen, daß diese Rebellion nicht bis zum Versinken in eine allumfassende Kleinbürgerlichkeit erfolgreich sein wird.

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