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Die Quadratur des nordirischen Zirkels

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Über Nordirland steht nicht mehr viel in den Zeitungen. Die Anwesenheit britischer Truppen in Belfast und Londonderry hat kaum noch Neuigkeitswert. Aber wenn diese Kunde auch keinen Fernschreiber mehr in Aktion versetzt - es stehen doch nach wie vob überall, wo Protestanten und Katholiken in Nordirland ih allzu enger Nachbarschaft wohnen, Soldaten. Wenn auch nicht mehr unbedingt mit dem Gewehr in Anschlag. Ihre Anwesenheit genügt. Man hat sich an sie gewöhnt. Sie ihrerseits haben sich eingelebt und gehen in der Freizeit mit ihren protestantischen oder katholischen Mädchen ins Kino. Würden sie morgen Nordirland verlassen, würden übermorgen wieder Brandflaschen und Steine fliegen. Stormont, das nordirische Parlament, löst jetzt die den Katholiken gegebenen Versprechungen ein. Die Anwesenheit der britischen Soldaten zwingt die fanatisierte protestantische Unterschicht, dazu zu schweigen.

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Über Nordirland steht nicht mehr viel in den Zeitungen. Die Anwesenheit britischer Truppen in Belfast und Londonderry hat kaum noch Neuigkeitswert. Aber wenn diese Kunde auch keinen Fernschreiber mehr in Aktion versetzt - es stehen doch nach wie vob überall, wo Protestanten und Katholiken in Nordirland ih allzu enger Nachbarschaft wohnen, Soldaten. Wenn auch nicht mehr unbedingt mit dem Gewehr in Anschlag. Ihre Anwesenheit genügt. Man hat sich an sie gewöhnt. Sie ihrerseits haben sich eingelebt und gehen in der Freizeit mit ihren protestantischen oder katholischen Mädchen ins Kino. Würden sie morgen Nordirland verlassen, würden übermorgen wieder Brandflaschen und Steine fliegen. Stormont, das nordirische Parlament, löst jetzt die den Katholiken gegebenen Versprechungen ein. Die Anwesenheit der britischen Soldaten zwingt die fanatisierte protestantische Unterschicht, dazu zu schweigen.

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Sozia1 ? Reformen, Gleichberechtigung für eine bisher unterdrückte Minderheit, Abschaffung all der raffinierten Reglements, die zur Hintansetzung der Katholiken bei der Wohnungsvergabe, bei der Postenverteilung, bei Wahlen und so weiter führen — wenn das unmöglich Scheinende damit vollbracht wäre, könnten die britischen Soldaten tat-

sächlich morgen nach Hause fahren. Denn Stormont, das Parlament, hält, was die Regierung versprochen hat, schließlich ist die seit fünfzig Jahren alleinregierende Unionist Party im Besitz einer stolzen Dreiviertelmehrheit.

Natürlich hat die Partei keineswegs auf Kommando gehorsam eine geschlossene Kehrtwendung gemacht. Natürlich gibt es in allen Rängen Widerborstige, die sich mit dem Gedanken, aus der immer behaupteten Gleichberechtigung der Katholiken solle nun eine faktische werden, nicht anfreunden wollen oder kön- nen. Natürlich wird obstruiert und sabotiert, und es wird nicht leicht sein, die Verwaltungschargen der verschiedenen Ränge zur sinngemäßen Durchführung der nun beschlossenen Gesetze zu veranlassen. Aber das ist nicht das Hauptproblem.

Die nordirische Regierung steht heute vor einer der schwersten Aufgaben, vor die eine politische Führung gestellt werden kann. Es gilt eine auf geputschte, fanatisierte Anhängerschaft davon zu überzeugen, daß alles, was gestern richtig war, heute plötzlich falsch ist. Daß der Todfeind von gestern der Freund von heute zu sein hat. '

In einem demokratischen Staat lassen sich solche Richtungsänderungen um 180 Grad nicht einfach dekretieren. Es ist unmöglich, einen Mann wie Paisley nur deshalb zu verhaften, weil er die Chance seines Lebens darin sieht, die alten Fahnen des Hasses hochzuhalten, die „Wahrheiten“ von gestern zu verteidigen, die Feinde von gestern weiter Feinde zu nennen. Pastor Paisley verkörpert den aggressivsten Protestantismus von gestern. Diese fanatische Spielart des Protestantismus war bis vor kurzem ein Werkzeug zur Aufrechterhaltung der nordirischen Machtverhältnisse. Heute bedroht sie den Versuch der alten Herren Nordirlands, einen neuen Herrschaftsstil mit Beteiligung katholischer Kräfte zu finden.

Divide et impera!

Der Assoziationsmechanismus des mitteleuropäischen Zeitungslesers ist so programmiert, daß er auf das Stichwort Nordirland automatisch mit Gedankenfetzen wie „Protestanten unterdrücken Katholiken“ oder, wenn er überdurchschnittlich gut informiert ist, „Nationalitätenkonflikt, zwei Völker in einem Staat“ reagiert. Natürlich stimmt das. Die nordirischen Katholiken sind wirklich eine unterdrückte, in erster ' Linie nationale, von den Repräsentanten eines vor Jahrhunderten etablierten Kolonialregimes auf den zweiten Platz in einem einst ihren Vorfahren gehörenden Land verwiesene Minderheit.

Was viele deutschsprachige Zeitungen, darunter sehr renommierte Blätter, wie ein Geheimnis vor ihren

Lesern hüten, das ist die Tatsache, daß diese historisch bedingten national-religiösen Teilungen es den Konservativen Nordirlands erspart

haben, sich im Parlament jemals mit den Interessenvertretern der Misera plebs auseinanderzusetzen. Die Unionist Party ist eine konservative, eine Tory-Partei. Da man

schließlich zusammenstehen muß, um zu verhindern, daß die Katholiken am Ende Nordirland an Südirland anschließen, wählen die Protestanten geschlossen die Unionist Party, und die protestantische Labourparty bringt es nur auf zwei Mandate, gegenüber 39 Unionlisten.

Sozialer Frieden im „Heiligen Krieg“ Die meisten Katholiken wählen ebenso traditionell die ebenfalls konservative Nationalist Party, das heißt eine Tory-Opposition. Erst das Aufbegehren der Unterdrückten verbunden mit der Akzentverschiebung von den religiös-nationalen zu den sozialen Problemen führte neben sechs Nationalisten und zwei katholischen Labour-Volksvertretern auch drei Bürgerrechtler auf Stormont- Sitze.

Welchen Vorteil für die Tories die Aufspaltung der Labours in je eine winzige protestantische und katholische Labour Party bedeutet, ist klar. Nordirland wird seit Generationen von blutigen Unruhen in Permanenz erschüttert. In einem krassen Gegensatz dazu steht die Friedfertigkeit, mit der die nordirischen Arbeitnehmer den nordirischen Arbeitgebern begegnen. Disziplin und Genügsamkeit des nordirischen Arbeiters werden auch von den deutschen Konzernleitungen, die in Nordirland investieren, gerühmt. In Londonderry, wo die Arbeitslosigkeit am drük- kendsten ist und die Bürgerrechtsbewegung begann, kamen selbst auf dem Höhepunkt der Kämpfe immer mindestens neunzig Prozent der Arbeiter in die Fabriken. Der gesamte nordirische Produktionsausfall des „heißen Sommers“ wird auf weniger als 0,5 Prozent geschätzt. Die „Bravheit“ des nordirischen Ar

belters beruht einmal auf der sehr begründeten Angst um den Arbeitsplatz, die dem Iren in den Knochen sitzt. Läßt die Bravheit nach, wird er unmißverständlich gewarnt. So verschob LEC, ein englisches Unternehmen für Kältetechnik, die Eröffnung eines Zweigbetriebes mit dreihundert Arbeitsplätzen in Londonderry kürzlich auf unbestimmte Zeit.

Das System der Unterdrückung

Der protestantische Arbeiter wird überdies durch sein Elitebewußtsein bei Laune gehalten, daß der Katholik ja noch unter ihm steht. Die religiösen und nationalen Kämpfe haben den} Land die sozialen Auseinandersetzungen „erspart“. Der oft angestellte Vergleich zwischen Reve-

rend Paisley und Hitler hinkt, aber die Geschicklichkeit, mit der das nordirische Unternehmertum, auf den „gemeinsamen Feind“ hinweisend, seine Gefolgschaft um sich zu scharen verstand und die tatsächlichen Interessengegensätze zwischen den „Sozialpartnern“ übertünchte,

hat Parallelen im nationalsozialistischen Staat.

Eine Schlüsselorganisation, die die protestantischen Gefährten an ihre Führer bindet, ist der über das ganze Land verbreitete, angeblich teilweise an freimaurerische Vorbilder angelehnte, in Logen gegliederte Orange Order. Ursprünglich vereinigten sich in diesen Logen die kleinen protestantischen Bauern gegen die kleinen katholischen Bauern und Landarbeiter. Später wurden die Logen auch in den Städten Zentren des gesellschaftlichen, religiösen und politischen Lebens der Protestanten. Im Orange Order klopft der Mann aus der protestantischen Oberschicht dem armen protestantischen Arbeiter wohlwollend auf die Schulter. Gesellschaftliche Schranken werden natürlich nicht abgebaut, aber auf diese Weise für große Teile der Mittel- und der Untermittelschichte unsichtbar gemacht.

Gleichzeitig ist der Orange Order aber auch eine inoffizielle, aber hochwirksame Posten- und Woh- nungsvermiittlung für Protestanten. Diese inoffiziellen Agenturdienste des Ordens bilden ein weiteres der vielen in das soziale, gesellschaftliche und politische Leben eingebauten Siebe, deren Maschen Protestanten durchlassen, Katholiken aber zurückhalten.

Der Katholik stößt auf horizontale und vertikale Schranken, wohin er sich auch wendet. Mit zunehmendem Rang nimmt der Prozentsatz der Katholiken in allen Bereichen des wirtschaftlichen und öffentlichen Lebens ab. Spitzenpositionen erreichen fast nur Protestanten. Aber auch der einfache katholische Fabriksarbeiter steht kaum jemals neben einem protestantischen Kollegen

an der Maschine. Es gibt Tätigkeiten, die praktisch den Protestanten, und solche, die den Katholiken Vorbehalten sind, rein katholische und rein protestantische Werkshallen. Die schlechter bezahlten, die unangenehmeren Jobs sind die Jobs der Katholiken.

In verschiedenen Gebieten war es üblich, überhaupt nur die Frauen der Katholiken als billige Arbeitskräfte einzustellen, die Männer blieben zu Hause, kochten und erzogen die Kinder. Im „Cameron-report“, in dem die Ergebnisse einer dem Parlament vorgelegten Untersuchung über die „Disturbances in Northern Ireland“ niedergelegt sind, ist häufig und natürlich sehr abfällig vom „Hooliga- nismus“ in katholischen Vierteln die Rede, verwahrlosten jugendlichen Rowdys, die ohne ausgeprägte politische Ziele Unruhe stiften wollten.

Nicht erwähnt wurde die Tatsache, daß diese Jugendlichen, die ein halbes Leben an Straßenecken und in Kneipen verbracht haben, nie eine Chance hatten, einen anständigen Job zu bekommen. Viele schulentlas-

sene männliche Jugendliche in Londonderry können sich eine fünf-, ja zehnjährige Wartezeit bis zur ersten Stelle auf der untersten Etage der sozialen Pyramide ausrechnen. Mehr als 18 Prozent aller arbeitsfähigen Männer von Londonderry leben von der Arbeitslosenunterstützung. Geldbeträge, die von London für die Industrialisierung Nordirlands zur Verfügung gestellt wurden, sind nicht für die Schaffung von Arbeitsplätzen in Londonderry, sondern für den Aufbau eines neuen Industriereviers fern von den Zentren der katholischen Massenarbeitslosigkeit verwendet worden.

Im Rathaus von Londonderry, einer zu 67 Prozent katholischen Stadt, sind sogar die Posten eines Botengängers, Raumpflegers oder Assistenten in der öffentlichen Leihbücherei protestantische Vorrechte. Unter 69 leitenden Angestellten der Stadt sind nur acht Katholiken. Aufschlußreich ist eine Aufschlüsselung des höheren Verwaltungspersonals nach Religion und Gehaltsklassen: Über Ž000 Pfund jährlich: 7 Posten, kein Katholik; 1000 bis 2000 Pfund: 18 Posten, kein Katholik; Unter 1000 Pfund: 44 Posten, 8 Katholiken.

Die Schraube wurde überdreht

In Irland, wo Gewalt von oben nie mit stumpfer Lethargie hingenom- men, sondern immer mit Gewalt von unten beantwortet wurde, ist die Aufrechterhaltung eines solchen Systems nur mit brutaler Gewalt möglich. Ulster (genauer: Rumpf-Ulster, denn Nordirland umfaßt nicht das gesamte alte Ulster) lebt seit der Staatsgründung praktisch in einem Ausnahmezustand, der es der Royal Ulster Constabulary (R. U. C.) er-

möglicht, fast alles, was sie tut, für legal zu erklären. Polizisten prügeln fast überall gerne, nordirische Polizisten prügeln besonders rücksichtslos, besonders unüberlegt, aber natürlich nur Katholiken. Die R. U. C. umfaßt 3000 Mann, unter ihnen 300 Katholiken, die aber nur als Verkehrsposten und in anderen „harmlosen“ Funktionen verwendet werden. Noch gefürchteter sind die „B-Specials“, eine 10.000 Mann starke protestantische, mit Maschi-

nengewehren ausgerüstete Sondertruppe, deren Existenz mit dem Hinweis auf eine angebliche Katholische Geheimairm.ee gerechtfertigt wird.

Die großen Tage der nordirischen Prügelpolizei sind bis auf weiteres vorbei. Die B-Specials sollen aufgelöst werden, die R. U. C. will die Regierung in eine demokratische Polizeitruppe mit starker katholischer Beteiligung umwandeln. Über einen erheblichen Vertrauensvorschuß der Katholiken kann sie dabei bereits jetzt verfügen.

Die fortschrittlichen Kräfte innerhalb der Unionist Panty haben erkannt, daß das Strategem, den protestantisch-katholischen und den ihm zugrunde liegenden nationalen Gegensatz zu konservieren, um dem Konservativismus die Konfrontation mit sozialen Forderungen und einer sozialistischen Massenpartei zu ersparen, bis an die äußerste Grenze seiner Möglichkeiten strapaziert wurde. Es ist sehr schwer, davon los-

zukommen, denn die Alternative könnte heißen: moderner, plurali-

stischer Staat, aber es könnte auch anders, nämlich zur Abolition des Staates und zum Anschluß an die irische Republik kommen. Die politische Gleichung Nordirlands enthält zu viele Unbekannte.

Die untere und mittlere Führerschicht der Unionist Party ist nach fünfzig Jahren an der Macht ohnehin so korrumpiert, verbraucht und jeglichen Denkens in Alternativen entwöhnt, daß sie gar nicht mehr in der Lage ist, anders als in Wunschvorstellungen zu denken. Nicht der dazu viel zu schwache fortschrittliche unionistische Flügel hat das Regierungsschiff auf den prokatholischen Versöhnungskurs gebracht, sondern der Wind aus London. Die britischen Soldaten in Belfast und in Londonderry sollen nicht nur Riots des protestantischen Mobs verhindern, sie werden auch als eine stets präsente Mahnung an die Unionist Party verstanden, dem nun eingeschlagenen Kurs treu zu bleiben.

Wohin er Nordirland führt, weiß niemand. Nach dem bewußt oder unbewußt angewendeten Rezept „Teile und herrsche“ läßt sich das Land nicht mehr regieren. Aber die fanatischen kleinen Protestanten in den Städten, diese Zweitärmsten unter den Armen, stellen ein gern verharmlostes, keineswegs harmloses Reservoir für mögliche neue, radikale Gruppen dar, deren Stunde in dem Augenblick kommen könnte, in dem der militärische Druck nachläßt. Man versucht jetzt verzweifelt, die Geister, die man zwar nicht gerufen, aber doch kunstvoll am Leben erhalten hat, loszuwerden. Es ist ein Problem, vergleichbar mit der Quadratur des Zirkels. Es wird nicht leichter dadurch, daß ein Teil der unioni- stischen Zauberlehrlinge nur mit halbem Herzen bei der Sache ist.

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