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Die Rache war fürchterlich

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Der Volksaufstand in Ungarn 1956 war im europäischen Einflußbereich der Sowjetunion die erste umfassende politische, militärische und soziale Erhebung, die sich nicht nur auf einzelne Städte, sondern auf das ganze Land ausdehnte.

Innerhalb von 48 Stunden endete die „volksdemokratische Ordnung” in Ungarn - in jeder Stadt und in jeder Gemeinde, und das mit wenig Blutvergießen (ausgenommen Budapest). Seit dem denkwürdigen 20. Parteikongreß der KPdSU in Moskau, wo Parteisekretär Nikita Chruschtschow seine Geheimrede gegen Stalin und dessen Methoden gehalten hatte, gärte es in Ungarn. Die politische Unzufriedenheit nahm zu, die Machthaber wurden der Lage nicht mehr Herr. Mit halbherzigen Lösungen, Zeichen ihrer Ohnmacht, verschlimmerten sie nur ihre Situation.

Im Herbst 1956 spitzte sich die internationale politische Lage zu. In Warschau kam es zu Arbeitererhebungen. Im Nahen Osten drohte die Besitznahme des Suez-Kanals durch Präsident Nasser, einem Verbündeten Moskaus, in einen Krieg auszuarten. Aus Ungarn erreichten den sowjetischen Geheimdienst KGB nur alarmierende Nachrichten: Bei einer bewaffneten Studentendemonstration am 23. August fiel die ungarische Führung in Panik. Ernö Gero, der Parteichef, rief die Sowjetregierung zu Hilfe. Imre Nagy, dem neuen Premier, gelang es erst am 28. Oktober, die Lage zu beruhigen, und zwar durch ehrlich gemeinte Zugeständnisse an die Aufständischen. Es war der Siegestag des Aufstandes.

Einige Tage der Konsolidierung folgten. Ungarn schien einen neuen Weg einzuschlagen. Die Freude über die wiedergewonnene Freiheit war groß. Nur Nag)' und die Regierung merkten, daß die Sowjetregierung anscheinend ihre bisherige Haltung Ungarn gegenüber angesichts der sich zuspitzenden internationalen Lage zu überdenken begann.

Am 29. Oktober brach nämlich im Nahen Osten ein Krieg aus: Briten, Franzosen und Israelis griffen Ägypten militärisch an. Man wollte die im Sommer 1956 von Präsident Nasser veranlaßte Verstaatlichung der Suez-Kanal-Gesellschaft mit Gewalt rückgängig machen. In den USA war das gesamte politische Interesse auf die bevorstehende Präsidentenwahl gerichtet; Washington war politisch gelähmt und konnte nicht in die Weltpolitik eingreifen. In Moskau tagte seit Tagen das Politbüro der KP: Diejenigen Genossen, die für die Beibehaltung Ungarns im Sowjetimperium waren, argumentierten: Wenn Ungarn in die Unabhängigkeit entlassen würde, könnte dies den anderen Volksdemokratien als Vorbild dienen; ein „Domino-Effekt” würde entstehen. Marschall Georgij Schukow, damals sowjetischer Verteidigungsminister, äußerte seine Bedenken, Deutschland könnte aus Rache für die Niederlage 1945 einen europäischen Krieg provozieren und als NATO-Mitglied die gesamte westliche Welt in diesen Krieg hineinziehen.

Am 31. Oktober 1956 fällte Partei -chef Chruschtschow seine Entscheidung: Ungarn muß im Sowjetlager bleiben, die alte KP-Herrschaft, wenn nötig, mit Militärgewalt wiederhergestellt werden. Schukow mobilisierte daraufhin zwei Armeen (die 8. und

Vor 40 Jahren erhoben sich die Ungarn gegen das kommunistische Regime. Die Niederschlagung und die folgenden Polit-Prozes-se forderten viele Opfer.

38. mechanisierte Armee).

Der sowjetische Angriff begann am 4. November 1956 - eine böse Überraschung für die ahnungslosen Ungarn. Nach einer Woche schwerer Kämpfe hatte die Rote Armee die frühere Ordnung wiederhergestellt. Eine prosowjetische Regierung unter Jänos Kädär wurde eingesetzt: Aber es dauerte noch etliche Wochen, bis der letzte Widerstand der Ungarn gebrochen werden konnte. Damit begann die 33jährige Kädär-Ära in der Ungarischen Volksrepublik, die von nun an wieder ein treuer Vasall Moskaus war.

Die ersten fünf Jahre des Kädär -Regimes waren von Leid und Gewalt gekennzeichnet. Kädär hatte in seiner ersten Proklamation volle Amnestie für all diejenigen versprochen, die sich „in irgendeiner Weise an der Oktober-Revolution beteiligt” hatten -doch dieses Versprechen wurde nicht erfüllt. Die Rache war vielmehr fürchterlich und einmalig in der Geschichte Ungarns. Der Geheimdienst bekam von KP-Chef Kädär freie Hand, gegen die Teilnehmer des Volksaufstandes vorzugehen, lausende von Verdächtigen wurden in „Schutzhaft” genommen. Dann kam den von politisch unzuverlässigen Juristen gesäuberten Gerichtshöfen die Aufgabe zu, alle „Gegenrevolutionäre” und „Volksfeinde”, die sich im Oktoberl956 gegen die Parteiherrschaft erhoben hatten, den Prozeß zu machen.

Es gab geheime und nicht geheime Prozesse. Angeklagt wurden Männer und Frauen, die während des Aufstands mit der Waffe in der Hand gekämpft hatten. Vor die Richter kamen auch Publizisten, Schriftsteller und Dramatiker - „Volksverhetzung” lautete die Anklage. Gegen Soldaten und Polizisten führten die Militärgerichte einen Feldzug. Und selbstverständlich wurden auch die politischen Führer des Aufstandes angeklagt, obwohl ihnen - namentlich Imre Nagy - Kädar noch im November 1956 öffentlich und schriftlich ein „Salvus condactus” zugestellt hatte.

Erst nach dem Regimewechsel in Ungarn (1990) wurden aus den Geheimarchiven die Opferzahlen des kommunistischen Rachefeldzuges bekannt. Sie sind keineswegs genau, denn Ende der sechziger Jahre wurde so manche Akte vernichtet, um spätere Forschungen unmöglich zu machen. Demnach hat das Kädar-Regi-me von Mitte Dezember 1956 bis März 1963 etwa 22.000 Personen eingesperrt, 20.000 interniert und über 400 Personen durch den Strang hingerichtet. Dann folgte eine politische Amnestie - nicht aus humanitären Gründen, sondern auf Druck der US-Regierung.

Die meisten der Hingerichteten waren junge Männer zwischen 18 und 28 Jahren und vorwiegend einfache Arbeiter. Aber auch 14 junge Frauen befanden sich unter den Hingerichteten. Von Militärgerichtshöfen wurden 26 Soldaten als „Verräter” zum Tode verurteilt und das Urteil vollstreckt. Darunter waren ein General, ein Oberst, ein Oberstleutnant, mehrere Majore. Mit der Hinrichtung des Polizeipräsidenten von Budapest, Polizei-Oberst Sändor Kopäcsi, wollte man ein Exempel statuieren. In letzter Stunde wurde sein Todesurteil in lebenslängliche Haft umgeändert. Den Chef der ungarischen Nationalgarde, General Bela Kiräly, hatte man in Abwesenheit zum Tode verurteilt; er konnte sich rechtzeitig im November 1956 nach Wien absetzen. (Heute lebt der 85jährige General hochgeehrt wieder in Ungarn.) Gegen Imre Nag)r und seine Gefährten wurde im Juni 1958 in Budapest ein Geheim-prozeß geführt. Nicht die Russen, sondern Jänos Kädär verlangte gegen seinen Genossen die Todesstrafe. Die sowjetischen Genossen „genehmigten” das Urteil nur, das am 16. Juni 1958 in Budapest vollstreckt wurde.

Wie hoch die Anzahl der Opfer aus den Kämpfen in Ungarn im Oktober und November 1956 war, kann man heute beantworten: Die Zivilbevölkerung beklagte 2.780 Tote und etwa 17.000 Verwundete. Während der Kämpfe in Budapest fielen auf Seiten der von der Regierung gegen die Aufständischen eingesetzten Ordnungskräfte 66 Soldaten und Offiziere; die Zahl der Verwundeten belief sich auf 280 Personen. Der Staatssicherheitsdienst hatte ungefähr 50 Tote und Verwundete zu beklagen - angesichts der Zahl seiner Mitglieder (15.000 Mann) wahrlich nicht viel; die Zahl selbst zeugt vom mangelnden Kampfgeist seiner Angehörigen.

Über die Verluste der in Ungarn eingesetzten Sowjettruppen wurden zwischen 1956 und 1992 weder in Ungarn noch in der Sowjetunion je Zahlen publiziert. Neuerdings hat der Historische Dienst des Russischen Verteidigungsministeriums einen bemerkenswerten Band herausgegeben, in dem man alle Verluste der eigenen Armee publizierte, die diese Streitmacht während ihres Bestehens von 1918 bis Ende des Afghanistan-Krieges (1986) in 14 Feldzügen beziehungsweise Kriegen erlitten hat. In Ungarn operierten zwischen dem 24. Oktober und 15. November 1956 etwa 15 Divisionen. Ihre Verluste: 662 Tote, 1.520 Verwundete und 51 Vermißte. Insgesamt also 2.233 Militärs.

Abschließend soll noch erwähnt werden, daß als Folge der Niederschlagung des Volksaufstandes etwa 211.000 Ungarn im Winter 1956/57 aus ihrer Heimat in den Westen geflohen sind. Diese Zahl gehört auch zu den Verlustzahlen des Volksaufstandes.

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