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Die Reform bleibt ein Traum

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Seit dem Tag, an dem die großen jugoslawischen Tageszeitungen den Wortlaut der vom Parlament gebilligten „Wirtschaftsreform“ brachten, sind nur ein paar Wochen vergangen. Dieser Zeitabschnitt ist zu klein, um schon jetzt ein präzises Urteil über die praktischen Auswirkungen dieser „Reform“ zu geben. Denn das Chaos, das jetzt in der jugoslawischen Wirtschaft herrscht, ist zu groß, um die „neuen“ Maßnahmen, Gesetze und Vorschriften über den Dinarkurs (ein amerikanischer Dollar ist ab 26. Juli 1965 gleich 1250 Dinar, anstatt 750 Dinar wie bisher), die Verteilung der Mittel und die Bedingungen des Produzierens richtig verstehen zu können — wenn hierzulande überhaupt etwas zu verstehen ist. Die meisten kroatischen und serbischen Wirtschaftsjournalisten geben der Verwirklichung der Wirtschaftsreform in der Praxis keine zu großen Chancen, weil dazu momentan die realen Möglichkeiten fehlen. Die bankrotte Lage der Wirtschaft kann man zum Beispiel nicht nur durch die Verbesserung der Produktionsorganisation beseitigen, wenn dies die Entlassung der Arbeiter verlangen würde. Schon jetzt gibt es in Jugoslawien etwa 250.000 Arbeitslose. Wenn nach manchen Empfehlungen von einzelnen Kommunisten oder Wirtschaftsfunktionären noch einmal soviel Arbeiter von ihren Arbeitsplätzen entlassen werden sollen, um die Betriebe von unnützen Aufwendungen zu befreien, dann ist das Problem der Arbeitslosigkeit eine erstrangige politische und soziale Frage, die den Sozialismus und Kommunismus in Jugoslawien ernstlich bedrohen würde. Diese Gefahr wurde sofort erkannt. Jetzt schrecken die Kommunisten und Direktoren vor weiteren unpopulären Entlassungen begreiflicherweise wieder zurück. Das aber bedeutet, daß die wirtschaftlich reparaturbedürftigen Betriebe weiterhin belastet bleiben, da die Arbeiter entlohnt werden müssen, auch wenn sie wegen Mangel an Rohmaterial und Devisen im Betrieb nur wenig produzieren.

Die Frage der Auslandsschulden

Nach angestellten Berechnungen arbeitet ein Arbeiter durchschnittlich pro Tag nur etwa vier Stunden. Der Uberschuß der Arbeitskräfte belastet auch die Administration. So erschien in der Zeitung „Vecernje novosti“ vom 2. August 1965 eine treffende Karikatur unter der Überschrift „Reform und Finger“. Sie zeigt drei Sekretärinnen an einer

Schreibmaschine. Zwei Beobachter daneben fragen sich, ob das der Überschuß der Arbeitskraft ist, wenn jeder nur mit zwei Fingern tippt.

Zu dem Problem des Überschusses der Arbeitskraft sind gleich als Reformhindernis die fälligen Schulden an das Ausland zu nennen. Der jugoslawische Staat schuldet dem Ausland etwa eine Milliarde Dollar (Angaben von Bundesfinanzminister Kiro Gligorov). Die jugoslawische Regierung ist verpflichtet, allein noch in diesem Jahr 289,6 Millionen Dollar zurückzuzahlen. Die Zurückzahlung der Kredite muß aber zwangsweise zur Senkung des Lebensstandards führen, was die Belgrader Wochenzeitung „Ekonomska politika“ deutlich unterstreicht. Um zu Geld zu kommen, soll die „Reform“ den Warenaustausch mit dem Ausland erleichtern, selbstverständlich vor allem die Ausfuhr. Bedingung für den Ausbau des Außenhandels sind aber eine radikale Aufhebung der bisherigen Ausfuhrbestimmungen und die Begrenzung des Verbrauchs, also wieder eine jahrelange Zurückstellung des Standards, da die bisherige mangelhafte Produktion nicht über Nacht reorganisiert werden kann. Es ist also völlig unklar, wie in Jugoslawien eine richtige Wirtschaftsreform heute durchzuführen wäre. Das einzige, was in der groß angekündigten „Reform“ größte Aufmerksamkeit verdient, ist die Billigung der stärkeren Verfügungsrechte der Unternehmen in bezug auf das unternehmerische Einkommen und die Devisen.

Das herbe Schicksal der Wirtschaftsbeschlüsse der jugoslawischen Regierung und des Skupstina war schon immer, daß sie kaum je verwirklicht worden sind. Die jetzige „Wirtschaftsreform“ wurde zwei Jahre lang vorbereitet; man kann also nicht sagen, sie sei das Resultat voreiliger Schritte. Aber schon eine Woche, nachdem das Skupstina die neuen Vorschriften bewilligt hatte, sah sich> der Generalsekretär des Gewerkschaftsbundes Jugoslawiens wegen der Preissteigerungen gezwungen, zu erklären: „Die Art, wie in manchen Kommunen und Betriebsorganisationen die neuen Preise für Produkte und Dienstleistungen bestimmt werden, droht in gewissem Sinne die Ziele der Wirtschaftsreform in Frage zu stellen. Nach Informationen der Gewerkschaften haben die Lebenskosten in allen großen Industriezentren alles Einkalkulierte der Wirtschaftsreform übertroffen.“

Die Preisschraube unter Kontrolle

Einen Tag später beschloß die jugoslawische Regierung, die gestiegenen Preise der kommunalen Dienste, der Mieten, der elektrischen Energie und mancher Nahrungsmittel unter administrative Kontrolle zu stellen. Die Preissteigerungstendenz hatte zur Folge, daß die Lebenshaltungskosten nicht, wie in der „Reform“ vorgeschlagen, um 23 bis 25 Prozent angestiegen sind, sondern um 40 oder mehr Prozent. Einige Beispiele: Nach Angaben des Bundesmarktinspektorats (Vjesnik u srijedu, 11. August 1965) verkaufte ein Teigwarenunternehmen in Split noch vor einigen Wochen eine bestimmte Mehlspeise an die Händler für 169 Dinar. Heute kostet sie 341 Dinar. In Marburg geschah ähnliches mit gleichen Produkten. Das landwirtschaftliche Kombinat „Belje“ erhöhte den Butterpreis von 1400 auf 2400 Dinar pro Kilogramm, den des Käses von 800 auf 1500 Dinar. Ähnlich gingen andere Unternehmen vor, etwa „Podravka“, „Budimka“, Konservenfabrik „Ja-dran“ und andere. Auf die Verbraucher wird also keine Rücksicht genommen! Die Tages- und Wochenzeitungen sind in den letzten Tagen überfüllt mit Kommentaren und Berichten über die hohen Preise und die Schuldigen für das Marktfiasko. Die Menschen in Kroatien resignieren. Man fragt sich aber, wozu wurde eigentlich die große amerikanische Hilfe verwendet? Der Markt ist nur auf einigen

Gebieten Regulator der Preise. Als zum Beispiel das Hotel „Europa“ in Sarajewo den Preis einer Flasche Bier von 160 auf 368 Dinar hinaufsetzte, mußte man feststellen, daß die Gäste ausblieben. So ist der Bierpreis also wieder gesenkt worden. Ähnlich geschah es der städtischen Molkerei in Mostar: Nach dem Preisanstieg für Milch blieb sie auf den Vorräten sitzen, die Direktion kehrte nun zu den alten Preisen zurück. Zur Hebung und besseren Organisation der Produktion fehlen den Betrieben nicht nur Geld, sondern auch Rohstoffe, moderne Maschinen, gut ausgebildete Wirtschaftsfunktionäre und wirtschaftlich-technologische Erfahrung.

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