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Die Regierenden stehen unter dem Diktat der Militars

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Das „Todesfasten" tiirkischer Polithaftlinge lenkt wieder ein-mal den Blick auf gravierende rechtsstaatliche Defizite dieses Landes.

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Das „Todesfasten" tiirkischer Polithaftlinge lenkt wieder ein-mal den Blick auf gravierende rechtsstaatliche Defizite dieses Landes.

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Vor rund 30 Jahren hatte ich meine erste Begegnung mit Kurden in Wien: Ein Kurden-verein hat mich zu einem schonen und frohlichen kurdischen Neujahrs-fest eingeladen. Und es hat den An-schein, daB es auch heute in Oster-reich beinahe keine radikalen Kur-dengruppen wie die PKK gibt, so daB die hier lebenden Kurden kei-nen Bedrohungsfaktor darstellen.

Seit langem ist indes bekannt, daB nicht nur in der Turkei, sondern auch im Irak, im Iran, in Syrien und in der ehemaligen Sowjetunion Kurden Verfolgungen ausgesetzt waren und sind. Die einzige Begion, in der „theoretisch" seit fiinf Jahren keine Kurden-Verfolgungen stattfmden, ist das Wohngebiet der Kurden im nordlichen Irak. Denn nach dem Ende des Golfkrieges wurde dieses Kurdengebiet zur UNO-Schutzzone erklart und untersteht nicht mehr der Kontrolle durch die irakische Be-gierung. Die „praktische" Ausnah-me sind die zeitweisen Uberfalle auf die dort befindlichen Kurdendorfer durch die tiirkische Armee, wenn diese in. bewuBter Verletzung der irakischen Souveranitat angeblich dorthin geflohene tiirkische Kurden verfolgt und zu vernichten trachtet.

Kurdische Tragodie

Die Tragodie des Kurdenvolkes ist, daB es zwar schon seit vielen Jahr-zehnten um Autonomie und staatli-che Selbstandigkeit kampft, daB aber alle fiinf „Gastlander" davon nichts wissen wollen. Dabei waren die Kurden in der Turkei zufrieden, wenn man ihnen eine beschrankte Autonomie und Menschenrechte ge-wahren wurde.

Die heutige Lage der Kurden in der Turkei ist recht abenteuerlich. Unter dem Vorwand der Bekamp-fung staatsfeindlicher Umtriebe konnen die legalen Vertreter der Kurden im Parlament jederzeit we-gen des Vorwurfs separatistischer Propaganda verhaftet werden. Uber-dies wurden hunderte kurdische Dbrfer im Zuge von „Vergeltungs-aktionen" dem Erdboden gleich ge-macht.

Immer wieder gab es kurzfristig Ansatze zu einer friedlichen Losung. So hat der im Marz 1996 an die Macht gekommene neue tiirkische Ministerprasident Mesut Yilmaz bei seinem Amtsantritt erklart, daB es die Absicht seiner Regierung sei, friedliche Beziehungen zur kurdischen Minoritat herzustellen. Aber schon drei, beziehungsweise fiinf Jahre friiher haben die damals an die Macht gekommenen neuen Be-gierungschefs die gleiche Erklarung abgegeben. Das Diktat der wirklich Begierenden in diesem Land - des Militars und der Sicherheitskrafte -hat die guten Absichten der jeweils neuen Begierungschefs stets sehr schnell zunichte gemacht.

Tatsachlich ist die tiirkische Armee mit ihren 60.000 Mann nicht nur die gr'oBte Armee Europas sondern auch ein eigener Staat im Staa-te. Fur die USA war sie wahrend des Kalten Krieges von unschatzbarem

Wert "als suddstliche Bastion gegen die Sowjetunion und auch als Spio-nagest,utzpunkt, von dessen Basen sogar Gesprache zwischen Panzerbe-satzungen in der Nahe Moskaus ab-gehort werden konnten.

Symptomatisch fiir die verzerrten Machtverhaltnisse ist, daB vor weni-gen Wochen, bei der Machtubernah-me des ersten islamistischen Premiers der Tiirkei, Necmettin Erbakan, dieser sich beeilte, als eine seiner ersten Amtshandlungen den Sold der Militars zu erhohen. um sein Image als Islamist bei den Militars aufzupolieren. Kein Wunder, wenn man bedenkt, daB seit der Griindung der modernen Ttirkei 1923 durch Kemal Ataturk die Grundlage des neuen laizistischen Bechtsstaates die Demokratie nach westlichem Vorbild sein sollte.

Wahrend die NATO von ihre"n Mitgliedstaaten verlangt, daB sich das Militar der politischen Fiihrung unterordnet und „glaubwiirdig in ei-nen demokratischen Bechtsstaat ein-gebettet ist", kann davon in der Tiirkei keine Bede sein. Die Akzeptanz des Sonderstatus der tiirkischen Ar-

mee erlaubt es dieser, gegentityer der kurdischen Minoritat eine Politik des harten Durchgreifens zu prakti-zieren. DaB eine solche Politik auch terroristische Gegenreaktionen her-ausfordert, ist kein Wunder. Diese wiederum sind dann willkommener AnlaB fiir die Armee, die Daumen-schrauben noch fester anzuziehen.

Grauenvolle Erfahrungen

Kin ehemaliger PKK-Funktionar bench tete kiirzlich in der „Suddeut-schen Zeitung" iiber seine Erfahrungen im Gefangnis: „Sie haben uns geschlagen, so lange, bis wir ohn-machtig wurden. Wir wurden mit Stromschlagen gequalt, kalt abge-spritzt, muBten Waschmittel und Exkremente schlucken." - Frage des Interviewers: „Wie konnten Sie unter diesen Umstanden iiberhaupt Widerstand leisten?" - Antwort: „Wir organisierten ,Todesfasten', Hungerstreiks, die dreifiig, vierzig und mehr Tage dauerten. Viele be-zahlten das mit Erblinden, Lahmun-gen und ihrem Leben, aber durch

das Todesfasten erreichten wir all-mahlich bessere Haftbedingungen."

Zuletzt befanden sich in den tiirkischen Gefangnissen, in denen etwa 9.000 politische Gefangene inhaf-tiert sind, knapp 300 in einem „To-desfasten". Sie nehmen nicht einmal Zuckerwasser oder Mineralstoffe zu sich, bis Ende letzter Woche starben bereits sechs Haftlinge.

Folgende Forderungen miissen nun an die Turkei gestellt werden.

■ Zu alien Gefangnissen soli der UNO-Menschenrechtskommission freier Zutritt gewahrt werden.

■ Das Antiterrorgesetz ist so abzuan-dern, daB die legalen Vertreter politischer Minderheiten nicht willkiir-lich verhaftet und vor Gericht gestellt werden konnen.

■ Der kurdischen Bevolkerung soli ein Autonomiestatut gewahrt werden.

■ Das von Kurden bewohnte Gebiet in der Turkei soil zur UNO-Schutzzone erklart und von UNO-Truppen geschiitzt werden.

Der Autor ist

Verfasser zahlreictier /jazifistischer Biicher und und Zeitungsartikel

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