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Die Republik „Zweieinhalb“?

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Das wird nicht die Festfanfare, die an diesem Tag hier hätte erklingen sollen. Ein schwerer, dunkler Schatten ist über das Gedenken zum zehnten Jahrestag des Abschlusses des Staats Vertrages gefallen. Der Tod kam zur Jubelfeier. Er nahm den Mann aus unserer Mitte, dessen unverbrüchlicher Glaube an dieses Land vor zehn Jahren seinen schönsten Lohn fand: Leopold Figl.

Die Unterschrift, die der zum Kanzler und später zum Außenminister aufgestiegene Bauernsohn aus dem Tullner Feld vor zehn Jahren im Namen von sieben Millionen Österreichern unter die Magna Charta des neuen Österreich setzen konnte, entschädigte ihn für vieles. Für eine Jugend, die früh dem Kampf um die gute Sache des Bauernstandes, aber bald auch dem Einsatz für das bedrängte Vaterland gewidmet war. Für die Leiden in den Lagern der Gewalt, die die Schergen des Dritten Reiches jenen zudachten, deren Glauben an dieses Land und seine Auferstehung nicht zu brechen war. Für die Monate und Jahre der „ersten Etappe“ auf dem langen Weg von der Befreiung zur Freiheit, in denen von der hohen Würde eine? ösiterreichi-chen Regierungschefs nichts zu bemerken war, während die schwere Bürde der Verantwortung für dieses kaum wiadererstandene Land, für die Bewahrung seiner Einheit und Freiheit aber um so schwerer drückte. Wahrhaftig: es bedurfte eines großen • Maßes an Selbstverleugnung und seelischer Robustheit, um in diesen Tagen zu bestehen. Andere wären unter dem seelischen Druck jener Zeit zusammengebrochen, hätten lange vor dem Ziel aufgegeben. Leopold Figl aber hielt stand. Mehr noch: sein Optimismus wirkte ansteckend, seine Unbeugsamkeit teilte sich anderen mit und seine gerade Natur verschaffte ihm auch vor den hohen Herren des Alliierten Rates Respekt.

Wer konnte vor seine Landsleute hintreten wie Figl am Heiligen Abend des Jahres 1945! Mit einfachen Worten erklärte der Kanzler, mit leeren Händen vor dem österreichischen Volk zu stehen. Er könne ihm nichts geben: kein Essen auf den Tisch, kein Feuer in den Ofen, kein Licht — nicht einmal einen Christbaum. Leopold Figl aber wäre nicht Leopold Figl gewesen, wenn er, wie es naheliegend und menschlich nur zu verständlich gewesen wäre, nach diesem Bekenntnis der eigenen Ohnmacht das Mikrophon verlegen aus der Hand gegeben hätte. Nein: er versprach nichts, dafür forderte er. Er forderte nicht mehr und nicht weniger als den Glauben an dieses Österreich.

Die Früchte dieses Glaubens reiften langsam, aber sie reiften. 1955 koninte Julius Raab ernten, was Leopold Figl gesät hatte. Kein Österreicher als der „Kanzler aus Daohau“ hatte mehr Anrech't darauf, seinen Namein unter das historische Dokument des Staatsvertrages zu setzen, der in der Herzmitte des Kontinents aus einer Gewitterzone der Weltpolitik eine Oase friedlicher Begegnung machte und unserem Land mit der ein halbes Jahr später proklamierten immerwährenden Neutralität die Möglichkeit verschaffte, in neuer Form seine historische Friedensaufgabe zwischen West und Ost zu erfüllen — „wenn es nur will“.

Der 15. Mai 1965, an dem Österreich festlich des 10. Jahrestages des Abschlusses des Staatsvertrages gedenken wird, wäre Leopold Figls Jubeltag geworden. Stattdessen stehen wir an seiner Bahre. In diesen Tagen wird von der Tagespresse bestimmt der Lebenslauf Leopold Figls in allen seinen Stationen exakt nachgezeichnet werden. Eine Wochenschrift muß sich da versagen. Nicht versagen kann und will sie sich aber, den Raum auszumessen, den der tote Altkanzler in den Herzen des österreichischen Volkes eingenommen hat, und die Lücke aufzuzeigen, die sein Tod hinterläßt. Wer erinnert sich heute noch der mitunter bitterbösen Karikaturen, die vor eineinhalb Jahrzehnten der Koalitionspartner von Leopold Figl auf die Plakatwände zeichnete. Und so mancher „Parteifreund“ mag sich heute wohl nicht mehr mit gutem Gefühl der mehr oder weniger geschmackvollen Scherze erinnern, die Unverstand und Gedankenlosigkeit in Umlauf setzten. Vergessen, verweiht. Was in diesen Tagen des Abschieds so richtig durchbrach, ist das breite Gefühl der Identifizierung der Österreicher mit diesem Sohn der niederösterreichischen Erde.

Österreich ist seit verg lngenem Sonntag ärmer geworden. Ärmer geworden ist aber auch die Partei, an deren Wiege Leopold Figl stand und der er unverdrossen ob der ewig menschlichen Gezeiten von Dank und Undank diente. Enthielt er sich auch in den letzten Jahren, da er sich auf den Platz eines guten Hausvaters seines niederösterreichischen Heimatlandes zurückgezogen hatte, eines stärkeren Einflusses auf die Bundespolitik, so war Leopold Figl doch „da“. Das Gewicht seiner Person und der mit ihr identifizierten Politik einer wahrhaft christlichen Demokratie und eines unabdingbaren österreichertums wogen gar manches auf, was in der breiten Waagschale der Volkspartei sonst zu liegen kam. Dabei war Leopold Figl alles andere als ein weltferner Ideologe, sondern zeitlebens ein Praktiker, der die Realitäten des Lebens kannte. Dem politischen Geschäft aber waren Grenzen gezogen, wo immer es um Österreich ging, wo in dieser oder jener Vermummung alter Ungeist sich wieder hervorwagte. Da gab es für Figl kein Wenn und kein Aber, sondern nur ein klares Bekenntnis.

Viele schöne Worte werden in diesen Tagen dem toten Altkanzler ins Grab gesprochen werden. An Kränzen wird es nicht fehlen Besser aber als jedes Blumengewinde dünkt uns, sich um die Erfüllung des politischen Testamentes Leopold Figls zu bemühen. Ein solches gibt es! Es ist aus der am jüngsten Ostersonntag gehaltenen Rundfunkrede für jeden, der Ohren hat zu hören, vernehmbar:

„... es gibt keine Epoche in der österreichischen Geschichte, auch nicht im Geschehen der letzten 50 Jahre, über die man nicht offen und ehrlich reden könnte, ja reden muß. Die Wahrheit kann immer bestehen. Sorgen wir dafür, daß jeder Österreicher, vor allem die Jugend, auch über die jüngste Geschichte unseres Vaterlandes die ganze Wahrheit erfährt. Sagen wir ihr, wie sich alles zugetragen hat und wie es kommen mußte — auch, oder besser ganz besonders, in den Klassenzimmern unserer Schulen und in den Hörsälen unserer Universitäten. Es war immer schon eine österreichische Sünde, daß oft jene schwiegen, die etwas hätten sagen müssen, die1 aber lehrten und redeten, die besser geschwiegen hätten ...“

Und ein wenig später wurde Figl noch deutlicher:

„ ... Es gehörte zwischen 1938 und 1945 sehr viel Mut dazu, der Gewaltherrschaft . zu trotzen. Es war auch sehr viel Selbstbewußtsein notwendig, um zwischen 1945 und 1955 den Standpunkt Österreichs in vielen Dutzenden von Verhandlungen mit den Alliierten kompromißlos zu vertreten. Es bedarf aber nach meiner Meinung nicht weniger des Mutes, in einer Zeit, in der echter österreichischer Patriotismus, der sich 1945 so glänzend bewahrt hat, im Überfluß des Wohlfahrtsstaates zu ersticken droht, das not-, wendige Maß an Zivilcourage aufzubringen, die allein der Österreichidee zum allgemeinen Durchbruch verhelfen kann. Ohne Zivilcourage lebt die Freiheit nicht lange. Österreich und die österreichische Na-'ion müssen für uns Realitäten sein •i.nd nicht Diskussionsgrundlagen, wie man gerade jetzt da und dort hört.

Die Zeit des Hungerns und der Entbehrung war auch eine Zeit des Aufbruches einer jungen, vielgeprüften Nation zur demokratischen Selbstbesinnung und Zusammenarbeit. Daran sollten wir uns nicht nur am 27. Aprü und am 15. Mai erinnern, sondern zu jeder Stunde, in der die Gefahr droht, daß dieser bewährte Weg wieder verlassen werden könnte. Im Ringen um Österreich wurden 1945 und 1955 wichtige Schlachten geschlagen, doch der Kampf geht weiter, er geht so lange uieiter, bis jede Frau, jeder Mann und jedes Kind in diesem Land tief im Herzen von der historischen Aufgabe ihres Volkes überzeugt sind...“

Das sind Worte, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig lassen. Wird man sie hören? Will man sie hören? Oder bekommt Walter Jam-bor recht, der in der zweiten Folge der Vierteljahrszeitschrift „Die Republik“ schreibt, viele hätten „Angst vor jener Zeit der starken Herzen und der weiten Anzüge, der hohlen Wangen und der wachen Gewissen“?

15. Mai 1955 — 15. Mai 1965. Von den hohen Männern, die vor zehn Jahren aus Moskau die Freudenbotschaft des Staatsvertrages nach Hause brachten, ist nur mehr Außenminister Kreisky nicht nur unter den Lebenden, sondern auch im Amt. Raab hat uns vor über einem Jahr verlassen, Schärfs irdische Hülle haben wir erst vor wenigen Wochen in der Präsidentengruft beigesetzt, und nun müssen wir auch Figl in die Heimaterde betten. Mit jedem von diesen Männern aber haben wir — so dünkt es manchem in dunklen Stunden — ein Stück auch von der Zweiten Republik eingesargt.

Als wir im Jänner 1964 vom Grabe Julius Raabs zurückgekehrt waren, schrieben wir an dieser Stelle: „Seit über einem Jahr ist die Zusammenarbeit der beiden großen Parteien eine Zusammenarbeit auf Abruf. Mit allen Folgeerscheinungen^ Unsicherheit hat sich ausgebreitet, Mißtrauen wuchert, manche Auflösungserscheinung wird trotz anhaltender, ja sogar wieder steigender wirtschaftlicher Konjunktur sichtbar.“

Man kann nicht sagen, daß die vergangenen 15 Monate imstande waren, diese Meinung zu korrigieren. Im Gegenteil. Gar manche Krise wurde offensichtlich, die damals noch schlummerte. Es gab Stunden, in denen man sich wie mit einer Zeitmaschine in die Februar-und Märztage 1938 zurückversetzt fühlte. Zuletzt lag der erste Tote, den politisohe Leidenschaften in der Zweiten Republik gefordert hatten, auf dem Pflaster. Ist der Abschied von Leopold Figl zugleich auch ein Abschied von der Zweiten Republik? Von dem Staat der Zusammenarbeit und des österreichischen Selbstverständoisses? Steigt langsam und unmerklich aus dem

— um ein Lieblingswort Dr. Drim-mels zu gebrauchen — „Transito-rium“ unserer Gegenwart eine Art Republik „Zweieinhalb“ herauf, deren äußeres Erscheinungsbild, den Mendelschen Regeln folgend, bedenkliche Züge der Ersten Republik wieder anzunehmen droht? Soll wieder „Rechts“ gegen „Links“ die Devise werden, zwischen der eine verantwortungsbewußte staatspöli-tische Mitte zerrieben wird? Der Österreicher hat ein Vaterland. Noch. Morgen schon wird er vielleicht zwei haben, zwischen denen er sich entscheiden soll. Wem im rechten Angebot so manche „Zuwaage“ nicht gefällt und wer in dem' linken Offert nicht unbeträchtliche Schönheitsfehler findet, hat eben Pech. Recht geschieht ihm, so recht wie zu allen Zeiten in Österreich Patrioten geschehen ist. Solche Überlegungen könnte — wie gesagt

— ein Pessimist anstellen. Aber welcher Österreicher wäre noch in keiner Stunde seines Lebens Pessimist gewesen.

Wenn man Leopold Figl in und außerhalb seiner Partei eines aufs Zeug flicken wollte, nannte man ihn einen „1945er“. Es war lange Jahre nicht gerade opportun, sich an den Ausgangspunkt der Republik zu erinnern. 'Es könnte den einen oder anderen potentiellen Wähler kränken, wenn ihm ins Gedächtnis gerufen würde, daß Österreich nicht nur aus der Konkursmasse des Dritten Reiches, sondern in der Antithese zu der Geisteswelt des Deutschnationalismus aller Schattierungen wiedererstand. Die Konsequenzen solch einer Haltung stellten sich ein. Wenn Kardinal König an der Bahre Leopold Figls die Worte sprach: „Die Generation der 45er stirbt langsam aus. Nicht aussterben aber darf der Geist der Männer von 1945, ihr Glaube an Österreich, ihr Wille zur Zusammenarbeit“, so hat der Wiener Ober-hirte damit, wie schon mehrmals vorher, einer staatspolitischen Maxime ersten Ranges Ausdruck gegeben.

Das politisch-geistige „Klima“ in dem zehn Jahre nach dem Staatsvertrag als perfekte Koasumgiesell-schaft etablierten Österreich ist nicht das beste. Aber es gibt nichts, was eine Resignation rechtfertigen' könnte, es besteht nicht die geringste Ausrede dafür, daß die — um ein Wort Pius' XII. abzuwandeln;

— Guten müde werden dürften.

So nehmen wir am Vorabend des 10. Jahrestages des Stäatsvertrages Abschied von Leopold Figl. Wir tun es am besten mit der Erneuerung des von ihm geforderten Gelöbnisses, jenen österreichischen Patriotismus, der sich 1945 so glänzend bewährt hat, im Überfluß des Wohlfahrtsstaates nicht ersticken zu lassen. Und an der notwendigen Zivilcourage, die allein der ösiterreicbidee zum allgemeinen Durohbruch verhelfen kann, soll es uns auch weiterhin nicht fehlen!

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