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Die Resignation überwinden

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60 Tage nach der Invasion einer Großmacht in ein kleines europäisches Land hat Europa noch immer nicht sein Gleichgewicht gefunden. Zwar hat sich — noch undefinierbar — ein stärkeres europäisches Bewußtsein herausgebildet, das im Europäer jenseits des Eisernen Vorhangs nicht mehr den russo- philen Halbasiaten sieht, weil auch hinter kommunistischen Masken Menschen europäischen Denkens und Fühlens sichtbar werden — doch drang dieses unzensurierte Europagefühl noch längst nicht in die Staatskanzleien vor.

Der Beratenden Versammlung des Straßburger Europarates lag kürzlich ein Expose über den Stand der europäischen Gemeinschaften vor, in dem es resignierend heißt: „Die Überwindung der staatlichen Struktur Europas steht nicht in Aussicht, und daher bleibt Europa unfähig, sein Schicksal selbst zu gestalten und seine politische Verantwortung in der Welt wahrzunehmen.“

Die heutige Situation ist das Ergebnis mangelnder politischer Mobilität, wie wir sie seit 1945 erleben.

Denn trotz fleißiger Hilfe durch Marshallplan und sowjetische „Berater“ waren die Europäer nach dem zweiten Weltkrieg nicht sonderlich daran interessiert, wieder militärische Funktionen auszuüben. Man redet sich darauf aus, genug mitgemacht zu haben, und baute lieber am Sozialsystem als an Verteidigungsprojekten. So gelang es den Amerikanern, unter Hinweis auf ihre dominierenden Beiträge zur westlichen Verteidigung, die NATO-Alliierten jahrelang als strategische „Laufburschen“ zu benützen; denn jedes Land suchte im Konfliktfall ja sowieso die zusätzliche Garantie der USA.

Nicht anders war es im Warschauer Pakt. Obwohl die Satellitenregime im Osten zu hohen Rüstungszahlungen gezwungen wurden, war die Kommandostruktur — wie wir seit der lauten Kritik des Verteidigungsministers Prchlik wissen — einbahngeregelt: die Befehle gab Moskau, die „Laufburschen“ saßen in Prag, Budapest und Warschau.

Angesichts der Sachlage war es einfach, den Verbündeten die einzige ausreichende Waffe in militärischen Großkonflikten, nämlich die Atomwaffe, zu verbieten. Moskau und Washington fanden sich dabei rasch. Denn es galt ihnen nicht nur, die atomare Rüstung zu verhindern — es ging ihnen auch um den technologischen Regreß Europas, wie der eräte Entwurf des Atomsperrvertrages deutlich zeigt. Doch Europa tat alles, um sich gegenseitig in buddhistischer Passivität lieber selbst anzuklagen als den Übermut der Russen und Amerikaner zu bremsen. Und Europa spottet über den alten General im Elysee, der zumindest sein Land nicht völlig dem Willen anderer ausliefern wollte.

Servan-Schreiber sagt in seiner „Amerikanischen Herausforderung“: „Der Wille zur Selbstbestimmung ist die Triebfeder unserer Zivilisation… Von dem Tag an, da er erlahmt und die Völker Europas die Sorge um ihr Schicksal einem Größeren überlassen, von dem Tag an wäre die Kraft dieser Zivilisation gebrochen…“

In der Zwischenzeit ist de Gaulle freilich durch seine eigenen Landsleute gelähmt worden. Und — seinen Stolz wahrend — meint er nun, offensichtliche Fehler nicht revidieren zu müssen.

So schleppt sich Europa auch von Ratstagung zu Beratender Versammlung, von EWG-Ministerrat zu EFTA- Konferenz. Und während der technologische und damit wirtschaftliche Unterschied zwischen den Supermächten und Europas kleinen Neonationalisten immer größer wird, kann man sich auch über kleine Schritte zur Einheit nicht einigen. Zwar sind im EWG-Bereich die Zölle gefallen und ist der Agrarmarkt Realität: aber die Grundidee der Gemeinschaft ist zwischendurch endgültig zerstört. Statt den europä ischen Gemeinschaftsorganen treffen nach wie vor die nationalen Regierungen allein und exklusiv Entscheidungen. In den Hauptstädten der EWG wind ängstlich darüber gewacht, daß auch kein Quäntchen Supranationalität die eigene Souveränität beschränken möge. Und doch wäre der Weg zur Einheit nach der Idee des Vertrages von Rom nur durch die schrittweise Aufgabe nationaler Befugnisse zugunsten internationaler Institutionen zu erreichen gewesen.

So klafft heute sogar zwischen den Maßnahmen, die die Erfüllung der bisherigen EWG-Beschlüsse fordern und denen sich die Regierung schon auf Grund der öffentlichen Meinung in ihren Ländern nicht entziehen können, ein ungesundes Spannungsfeld: denn die Nationalstaaten Europas haben an ihrer inneren Struktur kaum etwas geändert, um der Vereinigung und Zusammenarbeit näherzukommen.

So sind Sein und Schein größer geworden. Es wundert nicht mehr, wenn sich Europas alte Nationen alles gefallen lassen, was auf ihrem Kontinent geschieht. Man ließ die blutenden Wunden Budapests, Ost- Berlins und nunmehr Prags im Fleisch des europäischen Selbstbewußtseins, man kann sich außer zu Verbalnoten zu keinem Schutz Berlins entschließen und man läßt Antidemokraten in der ältesten Demokratie Europas ein fideles Leben führen, ohne ernsthaft Boykottmaßnahmen zu ergreifen.

So lähmt sich Europa selbst. Unwilligkeit, Engstirnigkeit und Dünkel regieren in den •Regierungsstuben; verträumter bis gefährlicher Rechtsnationalismus nistet in den Grenzzonen der Demokratie. Das Volk — manipuliert durch die Massenmedien — fühlt sich europäisch bei der EWG-Sendung des Herrn Kulenkampff und führt ein Europa- Täfelchen am Auto spazieren, um sich im nächsten Urlaub wieder über die zeitraubenden Grenzkontrollen zu ärgern.

So regiert die Resignation. Das Warten auf die Stimme, die mitreißt und der endlich Handlungen folgen, wird langsam unzumutbar — im Westen wie im Osten.

Sollten in dieser Situation vielleicht doch die Neutralen klare Profile finden? Sollte nicht jene kleine Gruppe von Staaten, die in Europa noch ohne Vorinformation Washingtons oder Moskaus reden kann, ihre Stimme für Europa erheben? Könnte nicht ein initiativer Vorstoß gerade von diesen Kleinen ausgehen, denen man nicht mißtraut, für die eigene Tasche zu werben?

Österreich könnte in diesem Stadium der Resignation ein wenig Hilfe leisten. Vielleicht kommt es jetzt nur auf Zeitpunkt, Dosierung und Richtung an. Denn Österreich hätte gerade jetzt ein Wort zu sagen.

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