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Die Rolle des Parlaments

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In Österreich sowie in England und fast überall sind wir Zeugen eines ständigen Machtverlustes des Parlaments. Dieser wird nicht nur gegenüber der Regierung und ihrem Chef sichtbar, sondern auch dadurch, daß die seit langer Zeit in Größe und Arbeitsweise unveränderte Maschinerie des Parlaments nicht mit der in der Zwischenzeit zehnfach vergrößerten Verwaltung mitkommt. Immer häufiger werden lebenswichtige Entscheidungen sogar formal völlig „außerparlamentarisch“ getroffen.

Dadurch, daß die Regierung mehr und mehr gestützt auf offizielle Organisationen, Kammern, Verbände, Korporationen und Gewerkschaften arbeitet und das Parlament das Resultat bestenfalls später registriert, entfernt sich die gesamte Regierungs- und Planungstätigkeit von ihrer demokratischen Basis. Der „New Statesman“ hat unlängst darauf hingewiesen, daß die wenigsten dieser Riesenorganisationen, die mit dem aufgeblähten Staatsapparat zusammen regieren, demokratisch gewählt oder dem Parlament verantwortlich sind und daß .wir von der parlamentarischen Demokratie auf diese Art in einen Ständestaat abrutschen können.

Piftivor Jahrzehnten geführte ,Dis-kÄ-^Rlanutig'-Vjä-' oder nern?^: ist Jjeute, entschieden. Eine indüstifie-gesellschaft geht nicht ohne Planung. Die Frage lautet heute „Planung mit welchem Ziel?“ und insbesondere „Planung nah oder fern der Kontrolle des Wählers“. Die EWG-Planung ist sehr weit auch nur von der indirekten Kontrolle eines Parlaments. Das leitende Direktorium der EWG ist die Kommission, die aus neun Personen besteht, die vier Jahre lang amtieren; ihre Sitzungen sind geheim, sie sind niemandem direkt verantwortlich. Die Befugnisse des zahlenmäßig größeren Organs, des Rates, sind nicht etwa mit der Macht vergleichbar, die der Aufsichtsrat einer AG gegenüber dem Vorstand ausübt. Der Rat kann bloß die ganze Kommission abberufen, einzelne Mitglieder nicht. Er kann auch nur in Angelegenheiten mit Zweidrittelmehrheit mitentscheiden, die ihm von der Kommission vorgelegt werden.

Freie Bewegung von Ware, Arbeit und Kapital innerhalb der EWG-Länder bedeutet einen ständigen Kampf um Investitionskapital, ohne das man veraltet und stirbt. Nach den Spielregeln der EWG dorthin, wo die Renditen am höchsten sind. Ceteris paribus hat derjenige die höhere Rendite, der für die gleiche Leistung weniger zahlt, und in dem so entscheidenden Wettlauf wird die Arbeitnehmerseite als Ganzes geschwächt Das kann natürlich nicht ruhig abgehen, und so verliert man, was man wirtschaftlich gewinnt, an politischer Stabilität. Die Kunst der Wirtschaftspolitik besteht eben heutzutage nicht zuletzt darin — und hier haben sowohl Österreich als auch England bis jetzt fundiertere Erfolge als manche andere -, eine genügend hohe Versicherungsprämie gegen gewaltsame Veränderungen zu zahlen.

Tatsache ist, daß, wenn der berühmte Artikel 101 des EWG-Vertrags, der den Mitgliedern die Pflicht zur Abschaffung aller wettbewerbverzerrenden Gesetze und Maßnahmen auferlegt, auf der Arbeitnehmerseite diskutiert wird, man meist an Verschlechterungen denkt.

Das zentrale Argument des oppositionellen Hügels der Labour Party besteht darin: Falls England in die EWG eingegliedert wird, dann sind die Weichen des Außenhandels und der Investitionen, der Finanz und der Sozialpolitik langfristig und unverrückbar so gestellt, daß jede künftige Regierung — ganz egal, ob konservativ oder sozialistisch — nur eine konservative Politik machen kann und die im Programm der Labour Party, „Wegweiser der sechziger Jahre“, vorgesehene Politik von vornherein unmöglich ist. (Derselbe Gedanke mag bei der Unterstützung der EWG-Politik durch solche englische Kreise mitspielen, die sogar für ihr eigenes Unternehmen im Falle der Assoziierung gewisse wirtschaftliche Schwierigkeiten voraussehen, aber in langfristigen wirtschaftspolitischen Kategorien denken.)

Der Englische Gewerkschaftsbund (TUC) hat zu der Frage lange geschwiegen. Sein vor einiger Zeit veröffentlichtes Memorandum zur EWG-Frage kann trotz seiner vorsichtigen und ruhigen Form Vorbote einer sehr ernst zu nehmenden Opposition sein. Dort wird ausgeführt, daß Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum nicht automatische Folgen freier Bewegung von Waren und Kapital sind; daß für diese Ziele gewisse physische, finanzielle und steuerliche Kontrollen der Regierung über Innen- und Außenhandel notwendig sind. Auch andere Forderungen des TUC sind gegen Geist und Statuten der EWG-Unterstützung der verstaatlichten Industrie wie Kontrolle über Preise und Zinssätze sowie Verteidigung des nationalen (sehr billigen) Gesundheitsdienstes. Auch die verlangten Verteidigungsmöglichkeiten für das englische Pfund wären in Widerspruch zu der von der EWG verlangten freien Bewegung des Kapitals.

Einer der Vorwürfe, welche die englischen EWG-Freunde ihren Gegnern machen, lautet etwa: „Einfach reaktionär trotz aller .fortschrittlichen' Verbrämung ist eure sterile Kritik, mit der Ihr England an der Vereinigung mit dem großen, freien Wirtschaftsraum hindern wollt. Einsam, veraltet und isoliert würde England am Rand des neuen, großen, wachsenden und quicklebendigen Raumes dahinvegetieren. Eure Kritik ist einfallslos und negativ. Oder zeigt ihr vielleicht eine Alternative einen Ausweg?“

Wie sich in dieser Frage links und rechts verwischen, zeigt seit neuestem der Standpunkt der nationalen Farmervereinigung, einem der mächtigsten Wirtschaftsfaktoren des Landes. Nach der trockenen Feststellung, daß wahrscheinlich die englischen Farmer die EWG ebenso werden ablehnen müssen, wie diese ihre Minimalforderungen ablehnt, daß die internationale Planung auf dem Lebensmittelsektor besser im Weltmaßstab, statt im europäischen Rahmen erfolgen soll, und es wird verlangt, daß England, gestützt auf ähnliche Projekte der UNO, die ersten Schritte zu einem Weltprogramm auf diesem Gebiet macht. Als Sofortprogramm werden multilaterale Spezialabkommen im Weltmaßstab für Getreide, Zucker und Rindfleisch, und für andere gebietsweise (zum Beispiel für Schweinefleisch und Eier) vorgeschlagen. Was Gartenbau betrifft, ist man für Beibehaltung des Zollschutzes, kombiniert mit Rationalisierung.

Vieleicht erweitert dieser Bericht die Palette der Diskussion in Österreich um einige Farben.

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