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Die Roosevelt-Legende

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Daß man in Moskau die neue US-Präsidentschaft Kennedys als ein Ereignis allererster Ordnung betrachtet, beweist schon die Tatsache, daß bald nach der Wahl das erstemal seit Jahrzehnten die Vertreter aller kommunistischen Parteien wieder im Kreml versammelt waren. Natürlich nach außen hin waren weder die USA noch die neue Präsidentschaftsära als Grund dieser Zusammenkunft genannt worden. Vorwand der Zusammenkunft war vielmehr der sowjetische Nationalfeiertag. Viele Anzeichen sprechen eben dafür, daß Moskau von der Regierung des Präsidenten Kennedy eine neue Politik erwartet, vor allem das Wiedererwachen der außenpolitischen Traditionen der Demokratischen Partei, und man beginnt daher, die Roosevelt-Legende auf alle Arten wiederzubeleben.

Roosevelt und Stalin

Hier zeigt sich wieder einmal eine gewisse Naivität sowjetischer Propaganda. Zwar wird Roosevelt seit längerer Zeit im Westen von allen Seiten darum angegriffen, weil er angeblich zu sowjetfreundlich war, Stalin falsch beurteilt hat und daher den Russen auf ihre Forderungen hereingefallen ist. Die historische Wirklichkeit ist jedoch anders, und man kann eigentlich nicht verstehen, warum gerade die Männer im Kreml den verstorbenen Roosevelt so heiß verehren. Es ist wahr, Roosevelt war ein großer Meister der Menschenbehandlung, ein glänzender Diplomat, der mit großem Geschick nicht nur die mit ihm persönlich in Berührung tretenden Menschen bezaubern konnte, sondern noch mit größerem Geschick die unangenehmen Aufgaben der gemeinsamen Politik seinen Bundesgenossen zuzuschieben verstand. Was seine außenpolitische Zielsetzung betrifft, war Roosevelt nur ein Amerikaner, und hat mit großem Weitblick rein amerikanische Politik betrieben. Er hat es sehr gut verstanden, bei einer äußerlich geradlinigen anti -hitlerischen Politik erst dann in den’’Krieg einzutreten, als auch Rußland im Kampfe stan , Aucji hat er sehr geschickt zur Hauptsache die Russen gegen die Deutschen kämpfen lassen, wobei er die Verantwortung für den ständigen Aufschub der zweiten Front in Europa immer wieder Churchill zuschob.

Roosevelt hat Stalin sehr gut verstanden. Dieser hat natürlich den zweiten Weltkrieg auch herankommen sehen und hat vollkommen richtig erkannt, daß dieser Krieg ein Krieg zwischen Nationen sein werde, auch für Rußland, und kein Krieg um die Weltrevolution. Er wußte genau, daß er für den kommenden Krieg die soziale Basis seines Regimes erweitern mußte und daß er dieses Manöver nur durchführen konnte, wenn er zum russischen Nationalismus zurückkehrte. Das tat er auch konsequent von 1935 an bis zur großen Siegesfeier mit den Offizieren der Armee im Kremlschloß der Zaren. Dadurch änderte sich jedoch auch seine Psychologie. Von den nationalistischen Phrasen selbst betört, wollte er, der Georgier und Nichtrusse, in die russische Geschichte als der größte Herrscher Rußlands ein- gehen. • -5, ! .■••• mjE ■ 7

Die Ansprüche der Zaren .

Stalins Historiker und Gelehrte mußten in allen Archiven nachsuchen. Nicht nur wollte Stalin alles zurückhaben, was die Zaren in verlorenen Kriegen einst abtreten mußten. So fand man unter anderem auch, daß im Siebenjährigen Krieg die Kaiserin Elisabeth als Bundesgenossin Maria Theresias gegen Friedrich II. unter anderem für Rußland im Falle des Sieges der Koalition die Stadt Königsberg beanspruchte. Prompt verlangte Stalin diese Stadt für die Sowjetunion, obwohl er ganz Ostpreußen den Polen überließ. Daß sich Stalin die bisher polnischen Gebiete wieder zurückholte, die im Vertrag von Riga von Rußland abgetrennt worden waren, ist selbstverständlich. Ostgalizien, überwiegend von Ukrainern bewohnt und unter dem Namen Rotrußland bekannt, wurde im ersten Weltkrieg zuerst den Russen zugesprochen und von diesen schon vor Beendigung des Krieges annektiert, mußte jedoch wieder den Zentralmächten überlassen werden. Auf alle von Ukrainern besiedelten Gebiete, also auch auf die Nordbukowina, Kar- patho-Ukraine und vor allem Bessara- bien, hatten die Zaren einmal Anspruch erhoben, wobei zu bemerken ist, daß die rumänische Annexion Bessarabiens im Jahre 1919 von der Sowjetregierung nie anerkannt worden ist. Das Gebiet von Wilna gehörte nach 1919 völkerrechtlich zu Litauen, wurde jedoch von den Polen durch einen Handstreich genommen, vom Kreml 1939 großzügig an Litauen zurückgegeben, um 1940 mit Litauen zusammen der Sowjetunion einverleibt zu werden. So hat in Europa Stalin beinahe alle russischen Forderungen einkassiert, mit Ausnahme der zwei Bezirke, die 1918 südlich des Kaukasus an die Türkei verlorengingen, und der ewigen russischen Forderung auf die Kontrolle der Dardanellen. Nicht ganz glückte ihm auch die Verwirklichung der alten panslawistischen Idee, der Zusammenschluß aller slawischen Völker unter russischer Führung, denn als es soweit war, brach ihm plötzlich Tito mit seinen Jugoslawen aus.

Um das alles wußte Roosevelt. Er sah auch sofort ein, daß man die neuen Grenzen der Sowjetunion anerkennen müsse, da man schließlich die Rechnung für die russischen Blutopfer zu bezahlen hatte. Nur die Annexion der baltischen Provinzen, die von 1918 bis 1940 selbständige Republiken waren, anerkannte er vorsichtshalber nicht direkt an, ohne jedoch deshalb eine besondere Polemik anzufangen. Schon daraus ersieht man, daß der amerikanische Präsident gar nicht sowjethörig war, wie ihn heute seine Gegner darstellen. Überhaupt sah er die Neuregelung Europas mit echt amerikanischen Augen an. Europa interessierte ihn nur höchst platonisch.

Roosevelts Interesse galt vor allem dem Fernen Osten. Sein Blick richtete sich nach dem Stillen Ozean, nach Japan und China. Sein Ziel war, als Resultat des Krieges den russischen Einfluß im Stillen Ozean so gering wie möglich zu halten, Japan ebenso wie die Philippinen unter amerikanischen Einfluß zu bringen und den USA eine starke Position in China zu sichern. Natürlich spielte dabei wieder die Taktik der amerikanischen Politik, Stalin die Kastanien für Amerika aus dem Feuer holen zu lassen, mit anderen Worten, die eigenen Ziele mit russischem Blute zu erreichen, eine Rolle. Das hat der frühere Präsident Truman erst vor einigen Wochen ziemlich naiv ausgeplaudert, als er gefragt wurde, warum denn die USA so auf den Eintritt der Sowjetunion in den Krieg gegen Japan gedrängt haben. Er antwortete offen, daß damals das Gros der japanischen Armee nicht in Japan, sondern in der Mandschurei und in China stand und daß die Niederkämpfung dieser Armee das Leben von mindestens einer Million „unserer Boys" hätte kosten können.

Das Merkwürdige an der ganzen Sache ist, daß die sowjetischen Theoretiker in zahlreichen Abhandlungen darauf hingewiesen hatten, daß das Meer der Zukunft der Stille Ozean sei, so wie es einst das Mittelmeer und später der Atlantische Ozean gewesen sind. Wer den Stillen Ozean beherrscht, wird schließlich auch die

Welt beherrschen, erklärten sie und sagten, schon lange bevor er eintrat, einen japanisch-amerikanischen Krieg voraus, den sie als einen Krieg um die Herrschaft im Stillen Ozean be- zeichneten. Niemand jedoch dachte in Rußland daran, sich in diesen Krieg einzumischen. Vielmehr hegte man in Moskau die Hoffnung, die beiden pazifischen Kräfte würden sich in einem solchen Krieg derart schwächen, daß dann schließlich die Sowjetunion zur dominierenden Macht im Stillen Ozean würde.

Erstaunlicherweise hatte Stalin das alles in Jalta übersehen. Er erklärte sich bereit, den russischen Nichtangriffspakt mit Japan ohne jeden Grund zu brechen, und erhielt dafür die Zusicherung, daß die Sowjetunion alle im Fernen Osten 1905, nach dem Russisch-Japanischen Krieg, verlorengegangenen Interessen wieder zurückerhalten soll: die wirtschaftlichen Besetzungen in der Mandschurei, die südliche Hälfte von Sachalin, das Pachtgeb et von Port Arthur, die Ka- sernen in Peking,, außerdem noch die Kurilen ., die einst , Rußland mit Japan gegen Südsachalin eingetauscht hatte, welche es dann im Russisch- Japanischen Krieg wieder an Japan verloren hat. Seit 1918 hatte außerdem die Sowjetunion in Westchina, vor allem wirtschaftlich, sich eine neue Interessensphäre geschaffen. Von wirklichem Wert sind nur Südsachalin mit seinen Ölvorkommen und die beinahe unbewohnten Kurilen, die eine glänzende Verteidigungsstellung für die fernöstliche Küste der Sowjetunion bilden, doch es auch leicht er-

möglichen, selbst eine große Sowjetflotte hinter dieser Barriere abzusperren. Obwohl noch Tschiangkai- schek diese russischen Interessen voll und ganz anerkannt hatte, hat die Sowjetunion dennoch den Rotchinesen diese gesamthaft ausliefern müssen: die Mandschurei und die Interessen daselbst, den Einfluß in Westchina und das Pachtgebiet von Port Arthur.

Amerika bezahlte in Europa

Schon die zaristische Regierung hatte in der Hauptstadt der Äußeren Mongolei, die heute Mongolische Volksrepublik heißt, eine Garnison stehen. Die Sowjets haben den russischen Einfluß in der Mongolei bekanntlich noch weiter ausgebaut. Als erste chinesische Regierung hat Tschiangkaischek die Unabhängigkeit der Mongolei von China den Sowjets gegenüber anerkannt. Es stand der Sowjetunion jetzt frei, nach diplomatischen- Präjudizien, früher oder später, in der einen oder anderen Form die Mongolei sich einzuver- leiben. Doch der Vertrag mit Mao schob diesem einen Riegel vor: die Sowjetunion verpflichtete sich, die Unabhängigkeit der Mongolei nicht nur zu respektieren, sondern auch zu befestigen. Heute schon konkurriert der chinesische Einfluß in der Mongolei erfolgreich mit dem russischen. Ob Südsachalin und die Kurilen, die allein als Siegesbeute aus dem Krieg mit Japan übriggeblieben sind und hunderttausend russische Menschenleben gekostet haben, einen großen Gewinn bedeuten, muß nun noch die Geschichte beantworten. Trotzdem hat Stalin bei der Siegesfeier im Kreml sich besonders damit gerühmt, die Schmach der Niederlage von 1905 wieder wettgemacht und alles Russische im Fernen Osten wiederum zurückerobert zu haben.

Die Russen haben vor allem für die Amerikaner die japanische Armee auf dem asiatischen Festland niedergekämpft. Doch darüber hinaus hat die Sowjetunion ganz Japan als alleinige Interessensphäre Amerikas anerkannt. Tatsächlich hat auch der russische General im Alliierten-Kontrollrat für : Japan kaum einmal den Mund aufgemacht und nur äußerst selten einen : schwachen Protest beim amerikani sehen Prokonsul in Japan ( erhoben. Mit anderen Worten: die Söwjetu’niö’n hat nach dem Kriegsende den Pazifischen Ozean als amerikanisches Innenmeer und darüber hinaus den größten Teil Chinas als amerikanische Einflußsphäre anerkannt. Stalin hat diesen Vertrag auch getreulich gehalten. Er hat seine mandschurischen Kommunisten praktisch von der chinesischen Gesamtpartei getrennt, Mao in keiner 1 Weise unterstützt, und so haben auch Mao und die chinesischen Kommunisten ihren Sieg nicht nur ohne, son dern gegen Stalin erfochten. Das zeigte sich dann 1950 in den monatelangen und äußerst schwierigen Verhandlungen zwischen Stalin und Mao, und Chruschtschow hat es auch ausgeplaudert, daß diese Verhandlungen einige Male vor dem Zusammenbruch gestanden hatten.

Keine Phantasie kann es sich vorstellen, was geschehen wäre, wenn das diplomatische Geschick Roosevelts in Jalta dieses Resultat nicht erzielt hätte. Wenn der Friede zwischen

Rußland und Japan aufrechterhalten geblieben wäre, keine sowjetischen Verpflichtungen Vorgelegen hätten, mindestens während einiger Jahre die amerikanischen Ziele zu respektieren, und die russische Regierung, mit einer starken Armee im Hintergrund und zweifelsohne mit gewaltigen Sympathien beim japanischen Volk, ein energisches Mitspracherecht am Pazifik angemeldet hätte. Vermutlich wäre jetzt ganz Asien, einschließlich Japan und Indien, kommunistisch, zumindest sowjetischer Satellit.

Daß Roosevelt in Europa den

Sowjets entgegenkommen mußte, war natürlich klar. Wenn man den Krieg zum größten Teil mit russischem Blut bestritten hatte, so mußte man schließlich die Rechnung auch bezahlen.

Warum jedoch die Sowjets heute noch Roosevelt als den größten Amerikaner verehren und Kennedy empfehlen, in dessen Fußstapfen zu treten, ist nach den gemachten Darlegungen nicht ohne weiteres klar. Die Erklärung findet man nur in der russischen Mentalität. Man weiß im Kreml natürlich genau, daß Roosevelt keineswegs ein Sympathisant des Kommunismus war. Man schätzte ihn dort als einen klaren Vertreter rein amerikanischer Politik ein. Doch das ist es eben. Die Sowjets möchten gerne in den USA eine Regierung haben, die rein amerikanische Interessen vertritt mit klar ausgesprochenen Zielen. Mit einer solchen sachlich amerikanischen Regierung, möge sie noch so großkapitalistisch sein, hofft man im Kreml eher zum Ziel zu gelangen, als mit einer Regierung voll verschwommener idealistischer Phrasen, von der niemand jemals sagen konnte, was sie konkret eigentlich will. Chruschtschow möchte sich mit der stärksten westlichen Macht, also’mit den USA, über eine gewisse Aufteilung der Welt verständigen, was wohl nicht den ewigen Frieden, doch wenigstens die sogenannte Koexistenz für die nächsten zwei Jahrzehnte sichert, für jene zwei Jahrzehnte, von denen Chruschtschow glaubt, sie genügen, um eine Art von kommunistischem Paradies in Rußland aufzubauen, und die daher es ihm, Ni- kita Chruschtschow, ermöglichen würden, als der größte Mann der Welt in die Geschichte Rußlands einzugehen.

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