6711122-1964_21_05.jpg
Digital In Arbeit

Die Saat von Trient

Werbung
Werbung
Werbung

zung. Nicht wenige der installierten Demokraten waren selbst einmal Gegner der Demokratie gewesen, dem Linzer Programm oder dem Korneuburger Eid verpflichtet und ohne Ausbildung in Demokratie zu ihrer Handhabung im wahrsten Sinn des Wortes kommandiert. Daher war nicht allen, die 1945, an verantwortlicher Stelle des Landes befindlich, dessen Geschicke lenken mußten, die Demokratie ein Anliegen, sondern eine aufgetragene Verhaltensweise, ein Alibi, etwas anderes als der Nationalsozialismus. Oft nicht mehr! Wohl wurde Lippendienst an der Demokratie gefordert, ihre Erfüllung aber oft als eine peinliche Pflicht empfunden. Dabei wurde das Entstehen des Autoritatismus gefördert, des Willens, alles, was oben geschieht, vorweg als richtig anzuerkennen. Den Versuchen, Demokratie unten, an der gesellschaftlichen Basis auszuüben, wurde mit Mißtrauen begegnet und allzuviel verordnet, auch dann, wenn der Sachverstand unten erheblich stärker war als an der Spitze.

Das Dilemma, daß zu wenig natürlich gewachsene Demokratie im Land ist, stellt zu einem beträchtlichen Teil einen Hinweis auf einen zumindest partiellen Bildungsnotstand dar. Man ist selbstverständlich ge-

willt, z. B. in Schulen die politischen Prozesse der Antike bestens darzustellen und die entsprechenden Fakten bis auf Monatsdaten von Schülern auswendig lernen zu lassen. Die

Nutzanwendung fehlt jedoch. Es gibt keinen Bezug der politischen Geschichte auf die Gegenwart. Auch' die Zeitgeschichte kann politische Bildung, wie sie der Osten seinen jungen Menschen in einem allzureichen Umfang bietet, nicht ersetzen. Politik wird daher von so manchen als ein Anlernberuf verstanden oder als ein Hobby mangels ausreichender Betätigung im eigentlichen Brotberuf.

Die Aufgabe der Erziehung

Wenn die Demokratie in ein „Zwielicht“ kommt, dann liegt das nicht an der Demokratie, sondern an denen, die sie vollziehen. Zum Vollzug der Demokratie gehört aber ein Mindestmaß an Sachwissen, das an der Basis, in den Grundschulen und in den Höheren Schulen, nur unzureichend wenn überhaupt geboten wird. Aufgabe der Erziehung ist es daher, den Aufwuchs von Demokraten mit ihren Mitteln zu fördern, damit die Demokratie einmal so geübt wird als ob sie der Natur unserer Gesellschaft eingeboren sei.

Die Folgen des Urteils von Trient, durch das die der Mißhandlung von Südtiroler Häftlingen beschuldigten Karabinieri mit zwei Ausnahmen vollständig freigesprochen wurden, haben sich — schneller, als zu erwarten war — gezeigt. Eine neue Polizeiaffäre bewegt die öffentliche Meinung Italiens, zuletzt sogar das Parlament. Bis heute liegen nicht weniger als sechs dringliche Anfragen an den Justiz- und Innenminister über die Vorfälle von Crema und Bergamo vor.

Im Jänner dieses Jahres nahm die Polizei von Bergamo zirka 30 „unbescholtene Bürger“ (so der „L'Espresso“) unter dem Verdacht fest, in verschiedenen Städten Oberitaliens Banküberfälle verübt zu haben. Im Verlauf der Verhöre in der Karabinierikaserne von Bergamo legten die „Delinquenten“ nach anfänglichem Leugnen „umfassende Geständnisse“ ab. Das vom Oberkommando der Karabinieri in Rom herausgegebene Blatt „Der Karabinieri“ konnte am 29. Februar einen triumphierenden Sonderbericht aus Bergamo bringen: „Requiem für eine Räuberbande.“

Die Gerichtsbehörden, denen die „Gangster“ nach einiger Zeit überstellt worden waren, sahen die Affäre freilich schon bald mit anderen Augen. „Es ist vielleicht noch nie passiert“, schrieb die angesehene Wochenzeitung „L'Espresso“ in einem längeren Kommentar zu den „fatti di Crema“, „daß gleich vier Untersuchungsrichter (von Turin, Como, Pavia und Mailand) nach einer raschen Überprüfung der Indizienbeweise und Zeugenaussagen es für opportun gehalten haben, die Angeklagten unverzüglich freizulassen ... und gleichzeitig eine genaue ärztliche Untersuchung über ihren angeschlagenen Gesundheitszustand anzuordnen.“

Nicht einmal auf dem Mond...

Auf freien Fuß gesetzt, schilderten die „Delinquenten“ in Anwesenheit ihrer Verwandten, Advokaten und Journalisten „wie auf einer feierlichen Pressekonferenz“ (so die Turiner „Stampa“) ihre Erlebnisse in der Karabinierikaserne von Bergamo. Um ihnen Geständnisse abzuzwingen, habe man sie nackt ausgezogen, stundenlang mißhandelt, so unter anderem auch mit einem Besenstiel geschlagen. Drei Tage und Nächte hätten sie weder etwas zu essen noch zu trinken bekommen. Um ihren Durst zu stillen, hätten sie von dem Wasser aus der Abortschale vorlieb nehmen müssen ...

Die Freigelassenen wurden in Ihren Heimatstädten mit Protestmärschen und Böllerschüssen empfangen. Ein Protestmarsch der empörten Bevölkerung zur Karabinierikaserne von Bergamo konnte in letzter Minute durch Einsatz eines starken Polizeiaufgebotes verhindert werden. „Frauen, Tanten, Schwestern, Großmütter und Mütter“, so schreibt der „L'Espresso“, „sah man vor den Haustüren, und sie ergingen sich, weinend in Verwünschungen gegen die Karabinieri. Die Frauen untersuchten die Schultern und Gesichter ihrer Verwandten und begannen wieder zu weinen. 1% dem

Haus, wo einer der Enthafteten wohnt, habe ich Pietro Razzani gesehen, wie er sich mit Mühe fortbewegte und sich dabei auf den Unterleib, wo er am meisten geschlagen worden war, griff. Ich fragte Don Danilo Conti, einen großen, jungen Priester, und versuchte vergeblich von ihm eine Erklärung zu erhalten. .Welche Kommentare kann ich geben...', antwortete er. ßs ist alles so klar. Wir sehen uns schwerwiegenden Tatsachen gegenüber, sehr schwerwiegenden, die nicht einmal auf dem Mond passieren

Ein alter Bekannter

Die erschütternden Vorfälle von Bergamo würden in Südtirol kaum Beachtung gefunden haben, wäre nicht ein „alter Bekannter“, nämlich Hauptmann Rotellini, in die Affäre verwickelt. Rotellini war vor drei Jahren noch Kommandant der Karabinierikaserne von. Neumarkt, aus der im Sommer 1961 die Schreie der mißhandelten Südtiroler Häftlinge tönen sollten. Im Sommer 1963 stand er lächelnd und selbstbewußt in Trient vor dem Richter. Die Südtiroler Häftlinge, so erklärte er keck, hätten sich die Verletzungen selbst zugefügt Niemals, so

betonte er gestenreich, hätte er einen Häftling auch nur angerührt...

Aber selbst das so milde Gericht von Trient konnte ihn nicht wie seine „Kollegen“ freisprechen. Gegen ihn lag einfach zu lückenloses Beweismaterial vor. Also wurde er amnestiert. Wer nun in einem Anfall von Glauben an die Gerechtigkeit geglaubt hatte, die „ruhmreiche Karabinieritruppe“ würde ihren unwürdigen Sohn mit Schimpf und Schande ausstoßen, sah sich bitter getäuscht. Rotellini wurde in Rom vom Oberkommandanten der Karabinieri empfangen und für sein „würdiges Verhalten“ in Trient feierlich belobigt. Anschließend wurde er zum Hauptmann befördert und nach Bergamo versetzt.

Die Erlebnisse des Luigi Stanga

In Bergamo galt Rotellini als rechte Hand des Kommandanten

Major Siani. Es scheint, daß er seine in Südtirol bewährten „Behandlungsmethoden“ für Häftlinge auch in Bergamo praktiziert hat. Die beklagten Folterungen stimmen mit jenen überein, welche die Südtiroler Häftlinge zuletzt in Mailand in so eindrucksvoller Weise geschildert haben.

So erzählte etwa der Häftling Luigi Stanga:

„Nach der Gegenüberstillung mit Rolando Costa (einem Mithäftling) schlug mich der Hauptmann Rotel-Uni in einem Moment, als wir allein waren. Um mich zu erschrecken, hetzten sie auch einen Wolfshund auf mich ... Auch die Karabinieri müssen sich zu einem gewissen Zeitpunkt über meinen Zustand Sorgen gemacht haben. Deshalb lief! mich Leutnant Sportlello von einem jungen Militärarzt untersuchen. Dieser tat dies und sagte dann zu ihm, ich hätte nur ein bißchen Fieber, aber sie könnten schon weitermachen. Ich weiß wicht, tuas er damit sagen wollte. Ich weiß nur, daß meine Knöchel wegen des langen Stehens ständig anschwollen. Als ich mich darüber beklagte, versetzte mir ein Karabinieri einen Fußtritt. Major Siani schickte ihn dann weg, und ich sah ihn nicht wieder. Es war ein Karabinieri, der mir zu verstehen gab, aus welchem Grund der Major eingeschritten sei. ,Man darf auf keinen Fall Spuren sehen', sagte er. ,Gewisse Dinge muß man gut machen... so wie bei den Südtirolern...'“

Heute und morgen

Die italienische Öffentlichkeit ist über die Vorfälle von Crema und Bergamo bestürzt. Die Presse schreibt von einer dringliehen Reform des Strafvollzuges.

Damals, als die ungeheuerliche Vorgangsweise der Karabinieri gegen die Südtiroler Häftlinge bekannt wurde, haben die italienische Öffentlichkeit, die Presse und die zuständigen Stellen geschwiegen. Und als endlich einige Karabinieri in Trient vor Gericht gestellt werden sollten, erhob sich ein Protestschrei in ganz Italien. Man jubelte über den Freispruch, den die deutsche SPD als einen „Rückfall in das finsterste Mittelalter“ und der ebenfalls sozialistische Vizepräsident der römischen Abgeordnetenkammer, Ferri, als „skandalös“ bezeichnete. Nun hat sich dieses Jubeln, in das mit Ausnahme einiger linksgerichteter italienischer Zeitungen die ganze Presse eingestimmt hatte, zu einem gefährlichen Bumerang entwickelt. Vielleicht hätte man den Warnruf des bekannten Rechtsanwaltes Doktor Gallo aus Vicenza doch beherzigen sollen. Gallo hatte in seinem Plädoyer im Trienter Prozeß auf die unabsehbaren Folgen eines Freispruches der Karabinieri für ganz Italien hingewiesen. „Was man heute bei den angeblichen Südtiroler Terroristen angewendet hat“, hatte er ausgerufen, „kann morgen schon jedem Italiener passieren.“ Dieser Warnruf, der damals umgehört verhallte, ja mit Hohngelächter quittiert wurde, ist nun, früher als man erwartet hätte, Wirklichkeit geworden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung