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Die Scherben wegräumen!

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Als die Turboflotmaschine sich in Schwechat erhob, um den sowjetischen Ministerpräsidenten wieder ostwärts zu führen, da fiel allen ein Stein vom Herzen, nicht nur der Staatspolizei, nicht nur der Regierung, sondern dem ganzen österreichischen Volk. Und unversehens war dieser Stein, der uns allen vom Herzen gefallen war, vielleicht, weil er so groß war, in den Glaskasten der Biedermeieridylle geplumpst, die sich viele unserer Mitbürger zusammengebastelt haben. Was war geschehen und was war von dem, das geschah, zu erwarten, und was war wirklich so überraschend, daß wir uns jetzt wie toll gewordene Kleinbürger aufführen müssen?

Wenn der österreichische Bundespräsident, wenn Kanzler und Vizekanzler, wenn Regierungsmitglieder Besuche in Moskau machen, dann muß man damit rechnen, daß dieser Besuch einmal erwidert wird. Wenn man einen Gegenbesuch vermeiden will, dann kann man nicht mit seiner ersten Garnitur auf Besuche gehen. Andere Länder, wie die Schweiz, schicken aus diesem Grund ihre führenden Staatsmänner auch nicht ins Ausland. Wenn man also den sowjetischen Ministerpräsidenten nach Österreich einladet, Weiß man, wen man einlädt. Chruschtschow ist ja schließlich kein unbeschriebenes Blatt. Jedermann — im In- und Ausland — wußte, daß Chruschtschow nicht nur der Ministerpräsident einer Großmacht, sondern auch der oberste Führer des Kommunismus ist. Mit der Großmacht wollen wir in Frieden und Freundschaft leben, vom Kommunismus will das österreichische Volk nichts wissen. Daß Chruschtschow seine beiden Funktionen nicht immer genau trennt, war ebenfalls bekannt. Daß Chruschtschow das österreichische Podium ähnlich wie vorher das amerikanische und französische benützen würde, um hier, ohne allzuviel Rücksichten auf die Hausherren zu nehmen, über die Grenzen hinaus zu reden, konnte doch ebenfalls nicht allzu überraschend sein. Chruschtschow hat viele harte und scharfe Worte gebraucht. Versuchen wir auch hier, zwischen den „beiden Chruschtschow“ zu unterscheiden. Seine Ausfälle gegen Adenauer haben dem Ansehen des deutschen Bundeskanzlers hierzulande gewiß keine Einbuße gebracht, seine Angriffe gegen die Amerikaner den guten Ruf Amerikas in Österreich nicht geschwächt.

Aber da waren seine Ausführungen über die österreichische Neutralität. Die Sowjetunion würde einer Verletzung der österreichischen Neutralität nicht tatenlos zusehen, sagte Chruschtschow, nachdem er vorher diese österreichische Neutralität in den höchsten Tönen gelobt hatte. Der allgemeine Sturm, der sich daraufhin in Österreich erhoben hat, der Sand und der Staub, der auch jetzt noch kräftig herumgeblasen wird, darf uns nicht die Augen verkleben, sondern sollte dazu dienen, daß wir uns einmal kräftig die Augen reiben. Wir sind ja so erschreckt, weil wir aus einem Traum erwacht sind.' Aus' dem Traum, daß die österreichische Neutralität ein ' gutgemachtes Bett wäre, auf dem wir uns auf den blütenweißen Kissen unserer Unschuld einem sanften Schlummer hingeben können. Zuerst müssen wir einmal das Selbstverständliche von dem trennen, was wir als eine Drohung empfinden. Wir haben die Neutralität aus freien Stücken erklärt, und wir taten gewiß auch gut daran; diese Neutralität vor fünf Jahren nicht unter die Garantie der Großmächte zu stellen. Aber es ist wohl klar, daß keine Großmacht zusehen würde, wenn an diesem empfindlichen Punkt Europas eine andere Macht sich festsetzen, würde. Damit würde ja nicht nur die österreichische Neutralität verletzt, sondern auch das eigene Sicherheitsbedürfnis.

Nur ein Narr könnte erwarten, daß — um einmal vom östlichen Standpunkt aus zu sprechen — die Russen ruhig zusehen würden, wenn zum Beispiel die NATO-Mächte sich in Tirol oder Salzburg und Oberösterreich festsetzen würden. Umgekehrt würde gewiß jede direkte Aktion der Russen im Osten Österreichs eine ebensolche Aktion der Amerikaner im Westen auslösen. Eine Neutralität ist nur dann von Nutzen, wenn sie von uns selbst ehrlich gemeint und geglaubt wird und wenn kein Zweifel darüber besteht, daß sie auch absolut verteidigt Wird — nach allen Seiten. Eine augenzwinkernde Neutralität, eine „Eh-schon-wissen-Neutralität“ ist nicht das Geld für ein einziges Sturmgewehr und nicht die neun Monate eines einzigen österreichischen Soldaten wert. Die Neutralität ist eine bitterernste und eine sehr kostspielige Angelegenheit. Vielleicht müßten wir Chruschtschow dankbar sein, daß er viele aus ihren Träumen aufgeweckt hat. Daß unsere militärische Neutralität zur Vorbedingung unsere geistige Zugehörigkeit zum Westen hat, ist ebenso klar. Im Osten gibt es keine Neutralität. Wir können uns aber nur dann ungefährdet zur freien Welt bekennen, wenn wir unsere militärische Neutralität mit allen Mitteln, auch mit sehr schweren finanziellen Mitteln, sichern. Wer diese Neutralität nicht ernst nimmt hierzulande, aber auch bei unseren Freunden im Westen, der weiß nun, was er uns auf den Hals hetzt. Selbstverständlich werden wir niemandem gestatten, diese Neutralität nach seinem Willen auszulegen. Wir können das aber am besten dadurch verhüten, daß wir keinen Zweifel daran lassen, daß wir diese Neutralität ehrlich wollen und ehrlich halten werden. Ein Wechsel des Regierungskurses würde, und das hat allen der Chruschtschow-Besuch wieder klargemacht, nicht nur innenpolitisch, sondern auch außenpolitisch ein gefährliches Experiment bedeuten.

Von Bundeskanzler Raab wird erzählt, er hätte gesagt: „Den Chruschtschow mach' ich noch, dann geh' ich.“ Er hat den Chruschtschow-Besuch in seiner Art gemacht, in einer Art, die manche seiner Landsleute nicht gleich verstanden haben. Die achttägige Reise durch die Bundesländer war für den Kanzler gewiß eine gewaltige körperliche Anstrengung. In den patriarchalischen Vorstellungen, in denen der Bundeskanzler lebt, mag er sich als eine Art Eckehard des österreichischen Volkes vorgekommen sein, der mit seiner Anwesenheit nicht nur die Sicherheit des Gastes garantiert, sondern ihm auch eindringlich vor Augen führen kann, wie dieses österreichische Volk lebt und arbeitet. Er hat aus Höflichkeit dem Gast gegenüber geschwiegen. Ihn heute nun als den Sündenbock an dem, was uns nicht an dem Chruschtschow-Besuch gefallen hat, hinzustellen, ist mehr als Undankbarkeit. Auch das war ja bekannt, daß der Kanzler seinen Gast durch Österreich begleiten wird. Auch seine persönliche Haltung ist keine Überraschung. Aber es war niemand da von seinen Freunden in der Regierung und in der Partei, die ihm in diesen Stunden beigestanden wären. Er allein ist immer im Rampenlicht gestanden, auf ihn sind nun die Schüsse gezielt, Schüsse aus dem eigenen Land und dem eigenen Lager, aber auch die Schüsse von jenseits unserer Grenzen. Heute zu sagen: Ich habe mich von allem absentiert, ich war nicht dabei, ich bin zu keinem Empfang gegangen, ist keine, geeignete Demonstration der Distanzierung Sollte jemand aus dem Kreis der Minister dieses Bedürfnis haben, so steht ihm nach alten Spielregeln nur ein Weg offen: die Demission.

Diese Wochenschrift hat seinerzeit, als für viele, allzu viele, der politischen Weisheit letzter Schluß in der Zauberformel „Raab-Kamitz“ bestand, Zurückhaltung geübt. Wir haben unserer Sorge Ausdruck gegeben, daß der Parteiobmann Raab wenig Lust und Neigung zeigte, rechtzeitig eine „zweite Linie“ aufzubauen. Wir haben zu verstehen gegeben, daß seine Art, Politik zu machen, nicht immer kritiklos hingenommen werden muß. Und wir haben dafür mitunter auch Blitze auf unser Haupt gezogen. Wenn - aber heute, gelenkt von innen und außen, ein Kesseltreiben gegen den Kanzler gestartet wird, wollen wir hier nicht mitmachen, ja dem entschieden entgegentreten. Es muß auch in der Politik Anstand geben, wenn Dankbarkeit hier auch ein Fremdwort ist. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er schon vorl einem Jahr auch die Bürde der Kanzlerschaft niedergelegt hätte. Gewiß wird es'notwerdigi stein, ihn vielleicht in einem Jahr, an seinem 70. Geburtstag, davon zu entlasten. Heute aber nich t. So selbstverständlich es ist, daß die heikle Stellung Österreichs zwischen Ost und West nicht an einen Mann gebunden sein kann, ebenso gewiß ist es, daß das Abtreten Raabs heute unter den journalistischen Begleiterscheinungen des Chru-scttschow-Bes-uches die außenpolitische Stabilität Österreichs gefährden könnte. Eben weil wir glauben, daß der Westen unser Freund ist, müssen wir unseren Nachbarn im Osten offen ins Gesicht sehen. Raab kann das, Raab glaubt man. .......

Das österreichische Pendel hat in den letzten Tagen kräftig hin und her geschlagen, und noch immer gibt es Finger, die ihm einen- Stups geben wollen, Klopfen wir auf diese Finger und lassen wir das Pendel ruhig sich einpendeln. Das Schwergewicht ist durch die Aufregungen der letzten Wochen unberührt geblieben. Dieses Schwergewicht ist das österreichische Volk. Mögen Österreichs Offizielle vielleicht manchen Fehler begangen haben, mögen die Adabeis sich überpurzelt haben und die Pharisäer sich nunmehr die Hände waschen, das österreichische Volk hat hier eine selbstverständliche Würde und Gelassenheit bewiesen, die einem wieder mit so vielem, was uns Österreichern selbst an diesem österreichischen Volk mißfällt, versöhnen kann. Unberührt von allen Aufregungen, von allem Zirkus und von allem Geschrei hat das ; österreichische Volk den Chruschtschow-Besuch als das genommen, was er war und' was er auch in seiner offiziellen Gestaltung hätte sein sollen, als den Besuch des Regierungschefs einer Großmacht, mit der wir in Frieden leben wollen. Weder mit dem Mann noch mit dem Staat verbinden uns im besonderen Maße enthusiastische Freundschaftsgefühle. Was er uns an Ideologien verkaufen wollte, darüber haben wir gelächelt, zu den Scherzen haben wir kaum geschmunzelt. Er war da, >wir haben es gehört und gesehen. Wir sind nicht Spalier gestanden und haben nicht geklatscht. Er ist wieder weg, es ist ihm nichts geschehen. Hoffentlich geschieht auch uns nichts. Der Staatsbesuch ist vorbei. Räumen wir die Scherben weg.

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