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Die Schiffbrüchigen

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Wenn einmal die Geschichte der Nachkriegszeit geschrieben werden wird, dann wird eines der düstersten Kapitel die Schicksale jenes Heeres der Unglückseligen behandeln, die im politischen Katalog der Gegenwart mit dem Namen „Displaced Persons“, als „Versetzte“, verzeichnet sind. Sie gehören in den großen Sammelbegriff der Menschen, die als Vertriebene und Flüchtlinge auf den Straßen der unseheuren Völkerwanderung irgendwo am Wegrand liegen geblieben sind, Heimatlose, oft nur Bettler, Verzweifelte, auch Entgleiste aus bitterer Not oder Gelegenheit. In Österreich befinden sich noch ihrer 400.000. Ihre Masse stellt eines der schweren Probleme dar, an denen der Fortgang der Moskauer Verhandlungen stockt. Es ist in gleicher Weise entstanden wie die meisten ungelösten Fragen der Nachkriegszeit. Des Umfangos der Massenexilierung und ihrer Tragweite wurde Europa erst ganz gewahr, als die in Bewegung gesetzte Menschenlawine nicht mehr abzubremsen war. Die Hauptursache dieses Verkennens der tatsächlichen Begebenheiten lag vielleicht darin, daß gleichzeitig mit den Trecks der Ausgestoßenen, die von allen Seiten konzentrisch zur Mitte getrieben wurden, in entgegengesetzter Richung die Repatriierung der Zwangsarbeiter aus diesem Zentrum vor sich ging. Beide Marschgruppen bewegten sich aber in einem Raum, der damals durch den Zusammenbruch des politischen Systems der Hitlerherrschaft noch der stabilen Ordnung entbehrte. In diesem brodelnden Kessel, in dem vier siegreiche Armeen operierten und die frühere Staats-maschine in völliger Auflösung war. konnten die Bevölkerungsbewegungen nicht mehr überwacht werden. Erst als der letzte Repatriierungstransport die Grenzen überschritten hatte und die Grenzschlagbäume überall zufielen, konnte man übersehen, was diese Völkerwanderung auf ihrem von Tod und Verderben begleiteten Wege gebracht hatte. Das Resultat war erschütternd. Millionen Menschen ohne Staatszugehörigkeit, ohne Existenz, ohne wirtschaftliche Grundlage waren auf zwei Gebieten zusammengepreßt, von denen das eine — Österreich — von allen neuerstandenen Staaten am schwersten zu kämpfen hatte, das andere — Deutschland — überhaupt kein Staat mehr war. Man faßte sie also in verschiedenen Lagern nach Nationalitäten zusammen. Teilweise übernahmen die Besatzungsmächte, teilweise die UNRRA die Verantwortung. Die Verpflegung ging zumeist auf Kosten des Landes, in dem sich diese Lager befanden. In Österreich waren es allein mehr als ein-einviertel Millionen, von denen bis zum Märzl947ungefähr8 5 0.0 00zum

Teil repatriiert, zum Teil nach 'Deutschland gebracht wurden. Von den zur Zeit noch auf österreichischem Boden befindlichen 30 0.0 00 bis 40 0.0 00 leben über 200.000 außerhalb von Lagern, ungefähr 100.000 in militärischen Unterkünften, während von der UNRRA 30.000 betreut werden.

Bei einem Versuch, eine Lösung des Problems zu finden, muß man die versetzten Personen in drei Gruppen teilen: eine Minderheit von Menschen, die als aktive Anhänger früherer Regime nicht mehr in ihr Land zurückkehren wollen und können; eine größere Gruppe, vor allem aus den Ost- und Südoststaaten, die zwar mit eigenem Risiko, aber vielleicht ohne Gefahr für ihr Leben in ihr Land zurückzukehren vermögen, und dann die zahlenmäßig stärkste Gruppe, die Volksdeutschen, unter ihnen viele, die noch als österreichische Staatsbürger geboren worden sind und bis heute noch in Gesinnung und Art österreichischen Wesens sind; für diese soll erst eine neue Heimat gefunden werden, soweit wir sie nicht als unentbehrliche, wertvolle Helfer im eigenen Lande behalten können. Diese letzte Gruppe umfaßt in Österreich noch über 1 50.000. Zum Vergleich sei angeführt, daß sich in Lagern auf österreichischem Boden noch 12.000 Polen, 33.00C Jugoslawen, 33.000 Juden, 38.000 Reichsdeutsche und 16.000 Ungarn befinden.

Es ist einleuchtend, daß dieser Zustand im Interesse dieser bedauernswerten Menschen, die wahrlich nicht pauschaliter mit üblen Elementen aus ihrer Mitte verwechselt werden dürfen, und auch im Interesse unseres Landes, das selbst schwer zu kämpfen hat, nach endgültiger Bereinigung verlangt. Und es sei mit Nachdruck beigefügt: nach einer Bereinigung, die echter Menschlichkeit und dem Erbarmen mit diesen beklagenswerten Opfern einer der größten Katastrophen der Menschheitsgeschichte entspricht. Wo immer unsere Regierung und unsere Behörden eingreifen können, um das bittere Los dieser in Österreich gestrandeten Schiffbrüchigen zu Hindern, dort wird man nicht zögern dürfen, zu helfen, wenn heuer die „DP“ unser Land werden verlassen müssen. Aber auch die christliche Karitas wird hier aufgerufen sein. Denken wir immer daran, daß wir trotz allem ein Gutteil mehr besitzen als diese Menschen, die bar einer Heimat, oft einer Familie und jeglichen Eigentums nur durch ihre sittliche Haltung vor dem Abgleiten ins Uferlose bewahrt werden.

Im Laufe dieses Jahres — und wie man hört, sind entscheidende Aktionen geplant — wird der letzte mit D. P. beladene Zug über die österreichische Grenze rollen. Für die Organisation dieser Überführung der Hundertausende nach den außerhalb der österreichischen Grenzen liegenden Zielen wird Österreich nicht verantwortlich sein. Viele andere ins Gewicht fallende Komponenten greifen da ein. Die Moskauer Konferenz der Außenminister ist nicht umsonst mit dem DP-Problem befaßt.

Die südamerikanischen Staaten haben große Repatriierungszentren in

Rom und Madrid eröffnet. In Genf hat zu Beginn dieses Jahres die IRO (International Refugee Organisation) als Flüchtlingsorganisation der UNO ihre Tätigkeit aufgenommen.

Man möchte wünschen, daß die große Tragödie der Völkerwanderung jetzt sich einem versöhnlichen Abschluß nähert. Was aber Österreich angeht, so soll gezeigt werden, daß trotz eigener Bedrängnis und vieler Widerstände Österreich Gerechtigkeit und Menschlichkeit übt, soweit es nur kann. Es soll so mit diesem historischen Abschnitt physischen und moralischen Zusammenbruchs seinen Namen in Ehren verbinden. zl

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