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Die schreckliche Nacht

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Man schrieb den 13. März 1939. Eine milde, ruhige Nacht lag über Prag. Es sollte die letzte sein. Nicht nur für die Hauptstadt Böhmens, sondern für Böhmen selbst, und nicht nur für dieses, sondern für ganz Mitteleuropa, ja für ganz Europa. Der Tag „X“, der Tag an dem alle Hoffnungen auf den Frieden in Europa sich als die große Illusion erweisen sollten, war gekommen. Die Tragödie begann abzurollen.

Am 10. März traf in Prag die Nachricht eines Dresdner Agenten ein, daß Hitler am 15. Böhmen und Mähren besetzen wolle. Trotzdem er erst in „München“ sich bereit erklärt hatte, die Grenzen der neuen Tschechoslowakei Zu garantieren, und ebenso feierlich erklärt hatte, keine Tschechen in das „Reich“ eingliedern zu wollen. Aber schon Mitte Jänner war Mastny, der Berliner Gesandte der Tschechoslowakei, nach Prag gekommen und berichtete, daß Hitler beschlossen habe, die Resttschechoslowakei zu liquidieren. Chvalkovsky, der tschechische Außenminister, hatte versucht, den Schlag abzuwenden, hatte Dr. Hubert Masarik vom Prager Außenministerium nach Berlin gesandt, um eine Zoll- und Wirtschaftsunion mit Deutschland, Verkauf aller Waffen, Eintritt eines Deutschen ins Kabinett anzubieten. Dr. Masarik war nicht einmal bis zu Ribbentrop gekommen. Mitte Februar machte der deutsche Militärattache, Oberst Toussaint, eine große Reise durch Böhmen und Mähren. Es nützte nichts, daß seine genaue Route nach Prag gemeldet wurde, es nützte nichts, daß der Generalstab Alarm schlug, es nützte nichts, daß die fremden Militärattaches unterrichtet wurden, und ebenso die Gesandten. Niemand wollte einen Finger rühren.

Am 10. März, da die Meldung des Agenten in die Hände des Prager Generalstabs gelangt war, war gleichzeitig schon der Text des deutschen Ultimatums an den deutschen Geschäftsträger Henke in Prag angelangt, das er am 14. vorlegen sollte und in dem auf Grund der schweren Ausschreitungen am 14. — die in Berlin schon am 10. bekannt waren! — schärfster Protest eingelegt und der Einmarsch der deutschen Wehrmacht angekündigt wurde. Am 11. März kamen in Preßburg zwei hohe Parteifunktionäre an: der Staatssekretär zur besonderen Verwendung im Auswärtigen Amt, Wilhelm Keppler, und der spätere Gesandte in Budapest, Veesenmayer. Ihre Instruktionen gingen dahin, die slowakische Regierung zu veranlassen, die Unabhängigkeit zu proklamieren und wegen bedrohlicher Ereigniss einen „Hilferuf“ an Berlin zu richten. Auf diese Weise sollte die Garantie der Tschechoslowakei umgangen und die Aktion als eine Intervention zugunsten des slowakischen Volkes aufgezogen werden. Am 12. März — einem Sonntag — meldete Keppler nach Berlin, daß alle Versuche, tschechische Organe und tschechisches Militär zu entsprechenden Handlungen herauszulocken, gescheitert seien. Hitler änderte also die Taktik. Sonntag abend erhielt die junge Avantgarde, die nationalsozialistische Studentenschaft in Präge die Weisung, in den nächsten zwei Tagen Zwischenfälle herbeizuführen.

Am 13. März — Montag — rief Sir Neville Henderson, der britische Botschafter in Berlin, den tschechischen Gesandten Mastny an, daß sich erkennbar eine direkte Aktion gegen die Tschechoslowakei vorbereite. Am besten wäre es, wenn Chval- kovsky nach Berlin käme, vielleicht sei die Situation zu retten. Mastny kabelte die Nachricht sofort nach Prajg. Beran, der Ministerpräsident, ließ am Hradschin in Gegenwart Hachas den Ministerrat zusammentreten. Chvalkovsky schlug vor, Hacha solle selbst nach Berlin fahren, ihn, Chvalkovsky, werde Hitler möglicherweise gar nicht empfangen, den Präsidenten müsse er empfangen. Hacha willigte ein, ließ sofort beim deutschen Geschäftsträger anrufen und ihn zu sich bitten. Der bekam es mit der Angst, wußte nicht, was er tun solle, rief in Berlin an, bat um Instruktionen. Berlin antwortete, er solle sich auf kein Gespräch einlassen, sondern unter Hinweis auf die „Ausschreitungen gegen Volksdeutsche“ eine Unterredung ablehnen. Zehn Minuten später rief der Geschäftsträger wieder an, teilte mit, Chvalkovsky habe ihn soeben angerufen und ihm mitgeteilt, daß er auf dem Weg zu ihm sei und ihm eine direkte Fühlungnahme Hach as mit der deutschen Regierung in Vorschlag bringen werde. Hitler faßte einen neuen Plan, willigte kurz ein und ließ den tsche- choslowakischen Präsidenten zu einem offiziellen Besuch nach Berlin einladcn. Die tschechoslowakische Regierung atmete auf. Der erste Hieb schien pariert. Eine ruhige Nacht brach über Prag herein. Im Konzerthaus am Ende des Grabens spielte das „Quar- tetto di Roma“ Haydn und Mozart.

Am 14. März — Dienstag — platzte die erste Bombe. Die radikalen Elemente in der Slowakei erlangten die Oberhand. Der slowakische Landtag proklamierte die Selbständigkeit. Prag wurde nervös. Am Nachmittag begannen sich dichte Menschenmassen durch die Straßen gegen den Wenzelsplatz zu wälzen. Jeder begriff, etwas Furchtbares lag in der Luft. Der Platz war bald schwarz von Menschen. Manchmal schob sich ein Trupp nationalsozialistischer Studenten durch die Menge. Es kam zu Reibereien, zu „Zwischenfällen“! Die Polizei schritt ein, stellte die Ruhe her. Ununterbrochen dröhnten Lautsprecher und mahnten die Bevölkerung, Ruhe zu halten, auf Provokationen nicht zu achten.

Gegen 5 Uhr nachmittags fuhr der Sonderzug des Präsidenten ab, kurz vor der Abfahrt war die zweite Bombe geplatzt: der Innenminister hatte dem Präsidenten noch die Nachricht gebracht, daß deutsche Polizei Mährisch-Ostrau besetzt habe.

Das Land, durch das der Zug fuhr, lag ruhig da. Der Aufenthalt an der Grenzstation war kurz. Im Zug war man zu Beginn der Fahrt nicht ohne Hoffnung. Die Chancen wurden erörtert. Es gab verschiedene Vielleicht. Vielleicht konnte man Hitler von einer Besetzung abhalten, vielleicht sie auf wenige Plätze beschränken, vielleicht? In irgendeiner sächsischen Station blieb der Zug plötzlich stehen. Der Stationsvorsteher kam aufgeregt und meldete, die Strecke sei auf kurze Zeit blockiert. Ein paar Züge fuhren nach einer Weile vorbei. Deutlich sah man Lafetten und Geschützrohre gegen den Himmel ragen. Sie rollten in der Richtung Böhmen. Der Zug fuhr weiter. Blieb nach kurzer Zeit neuerlich stehen. Wieder kamen Militärzüge vorbei. So ging es fort. Im Zuge fiel kaum noch ein Wort. Eisiges Entsetzen ergriff die Reisenden. Jeder hatte schließlich das Gefühl, in einer Art Hinrichtungszelle zu sitzen.

Es war schon fast Mitternacht, als der Sonderzug am Anhalter Bahnhof in Berlin einfuhr. Mastny, der Gesandte, stand am Bahnhof, Ribbentrop, irgendein General. Ein kalter Wind fegte über den Platz vor dem Bahnhof, auf dem eine Ehrenkompagnie ufgestellt war. Im Lichtkegel der Scheinwerfer, die die Operateure der Wochenschauen aufgestellt hatten, sah man einige Schneeflocken langsam herabgleiten. Müde jehritt der alte Präsident die Kompagnie ab, verbeugte sich vor der Fahne, stieg dann ins Auto. Die kleine tschechische Delegation fuhr ins „Adlon“. Wartete dort. Die Minuten kröchen dahin. Endlich, um 1 Uhr nachts, kam der Anruf aus der Reichskanzlei: Der „Führer“ erwarte den Präsidenten.

Meißner führte den Präsidenten und seine kleine Begleitung durch endlose Gänge und über pompöse Treppen der Reichskanzlei. Irgendwo wurden die Mantel abgelegt. Dann hielt Meißner vor einer großen Tür. Warf auf die Delegation einen bedeutenden Blick, öffnete. Man war in „seinem“ Zimmer. Hitler wartete am Ende des langen Saales, neben ihm Göring und Ribbentrop, hinter ihm eine Menge von Uniformen, schwarze, braune, graue, goldbetreßte. Die Delegation ging durch das lange Zimmer, vorbei an den Wanden, von denen die Gobelins aus der Wiener Hofburg hingen. Die Begrüßung war frostig.

Kaum hatte man sich gesetzt, fing Hitler schon zu toben an, stand wieder auf, rannte herum, schrie, gestikulierte mit den Händen, gebärdete sich wie ein Rasender. Die Verfolgung der Volksdeutschen könne er nicht länger ansehen, schrie er, die reichsfeindlichen Umtriebe in der Republik nicht länger dulden. Um den Provokationen ein für allemal ein Ende zu machen, werde um sechs Uhr früh der Einmarsch der deutschen Truppen in Böhmen und Mähren beginnen. Das einzige, wa Hacha tun könne, sei, um ein Blutvergießen zu vermeiden, vollständig zu kapitulieren. Göring trat vor und sagte zu dem Präsidenten, Prag werde in zwei Stunden eine brennende Stadt sein, wenn er die Kapitulation nicht annehme und Widerstand leisten wolle. Die Gesichter der Statisten um Hitler nickten zustimmend. Ribbentrop kam zu dem Tisch Hachas und legte ihm ein Blatt vor. Plötzlich war Stille im Raum. Hacha nahm das Blatt, las es aufmerksam. Blickte auf. Sah Hitler an.

Und dann begann der Mann, der für sein Leben lieber Vizepräsident des k. k. Obersten Gerichtshofes in Wien geworden wäre als Präsident des Obersten tsdiechoslowakischen Gerichtshofes in Prag, und der lieber diese Stellung behalten hätte, als Präsident der Republik zu werden, der nie Politiker und Staatsmann, sondern nur ein stiller Gelehrter und hervorragender Jurist gewesen war, der hinter sich nichts mehr hatte als ein zerfallendes Land ohne Bundesgenossen, einen scheinbaren, aussichtslosen Kampf um die Existenz seines Staates und Volkes. Ruhig erwiderte er Hitler in dem klassischen Deutsch des altösterreichischen Beamten, daß es nicht möglich sein werde, die gewünschte Kapitulation in der angegebenen Zeit durchzuführen. Widerstand werde unvermeidlich sein. Vorbereitung der Situation sei notwendig. Chvalkovsky kniff die Augen zusammen, sein Gesicht bekam einen Ausdrude höchster Spannung; man sah ihm plötzlich die spaniolische Abstammung an. Er begriff, Hacha wollte Zeit gewinnen. Vielleicht ließ sich die Besetzung auf zwölf Stunden hinausschieben, vielleicht rührte sich dann irgendwo ein Arm in der Welt. Hitler begann nieder zu toben, schrie, die Besetzung sei unwiderruflich für sechs Uhr festgesetzt. Hacha änderte die Taktik, gab scheinbar nach. Befahl Chvalkovsky in Prag anzurufen und Syrovy, den höchsten General der Armee, und Beran zu verständigen, daß um sechs Uhr — also in vier Stunden — der Einmarsch beginne und kein Widerstand geleistet werden solle. Wieder kniff Chvalkovsky die Augen zusammen. Wieder begriff er. Wenn die in Prag jetzt nicht ganz den Kopf verloren hatten und die Situation begriffen, dann konnten sie in vier Stunden noch viel retten. Die Luftwaffe davonfliegen lassen, das Gold verschicken, alle Listen, die Personen belasteten, vernichten. Ein Apparat wurde gebracht, nach einer Weile kam Prag, Chvalkovsky gab die Befehle durch, Hacha ließ sich schließlich selbst den Apparat geben, wiederholte den Befehl. Mit Betonung der vier Stunden. Leider erfaßte man in Prag das zu Geschehende nur zum Teil, vernichtete wenig, lediglich der Geheimdienst mit all seinen Mitgliedern und Aufzeichnungen ging durch. Die Luftwaffe konnte nicht starten, es herrschte ein entsetzlicher Sturm.

Hitler war zufrieden. Verlangte aber sofort mehr: die Unterschrift Hachas im eigenen sowie im Namen der Regierung unter das Dokument, in dem stand, er lege das Schicksal der tschechischen Nation vertrauensvoll in die Hände des Führers. Hacha begriff, worum es Hitler ging. Durch die Unterschrift solle sein Einmarsch legal werden. Hacha wehrte sich, sagte, er könne ohne Zustimmung der Regierung und des Parlaments nicht unterschreiben. Hitler drängte, unterstützt von Göring und Ribbentrop. Plötzlich griff sich Hacha ans Herz, sackte zusammen, Meißner sprang hinzu, fing den ohnmächtig gewordenen Präsidenten auf. Hitler war wütend. Diesen Zwi- sclienfall hatte er nicht vorgesehen. Ein jung aussehender Mann in SS-Uniform trat herein und gab Hacha eine Injektion. Bald kam er wieder zu sich. Neuerliches Drängen Hitlers. Hacha verlangte Verbindung mit der Prager Regierung. Beran flehte den Präsidenten an, nicht zu unterschreiben, es sei verfassungswidrig. Hacha verlangte, die Regierung möge sich beraten und ihn an- rufen. Es war schon vier Uhr. Hitler drängte wieder, er müsse die Unterschrift haben, redete er Hacha zu, die tschechische Nation werde es nicht zu bereuen haben. Hacha schloß die Augen. Jetzt hatte er Hitler. Er erklärte sich plötzlich bereit, zu unterschreiben, aber nur im eigenen Namen, nicht im Namen der Regierung. Ein Aufatmen ging durch die Reihen der Deutschen, die Schlacht schien gewonnen, die Aktion Hitlers auch vor dem internationalen Forum gedeckt. Hacha stand auf, sagte auf tschechisch zu seiner Umgebung: „Ich opfere mich, wenn schon der Staat nicht gerettet werden kann, soll wenigstens nicht das Volk zugrunde gehen“, ging zum Schreibtisch und unterschrieb. Nur die tschechische Delegation begriff, was geschehen war: seine Unterschrift war wertlos, da sie in keiner Weise verfassungsmäßig war, durch sie war weder die Regierung noch das Volk gebunden. Gebunden war nur Hitler, gebunden an Hacha. Und mit dem Präsidenten würde ein Mindestmaß an eigener Verwaltung bleiben und damit ein Mindestmaß an Sicherheit der nationalen Existenz. Hacha ließ wieder Prag anrufen und Beran mitteilen, daß er unterschrieben habe. Er war einige Minuten nach vier Uhr früh, am 15. März 193 9. Ein historisches Datum!

Die Unterschrift Hachas bedeutete nicht nur das Ende eines Staates, sondern auch das Ende einer Politik. Mitten im ersten Weltkrieg batte Smeräl, der Führer der tschechischen Sozialisten, erklärt, die Politik Miasaryks und Beneschs werde der tschechischen Nation einen neuen „Weißen Berg“ bereiten. Dieser „Weiße Berg“ trat in dieser schrecklichen Nacht ein, als Folge der Politik Masaryks, der selbst diesen Punkt einmal hatte kommen gesehen und dennoch den Pfad dieser Politik weitergegangen war. 1922 äußerte er zu einem guten Bekannten: „Wir haben viel zu viel erreicht, unsere Republik ist ja nur eine schlechte Auflage der alten Monarchie.“ Benesch selbst hat die Unterschrift Hachas nicht genug tadeln können, um in einer ähnlichen schrecklichen Nacht ebenfalls eine ähnliche Unterschrift leisten zu müssen, die wieder einen neuen „Weißen Berg“ bedeutete. Und die wieder nur eine Folge der Politik Beneschs war.

Dies muß bedacht werden, jetzt, da sich eine dritte tschechische Emigration gebildet hat und verkündet, ihre Politik im Geiste Masaryks und Beneschs zu betreiben. Wird sie der Prophezeiung Šmerals eingedenk sein oder wird sie darauf vergessen und einem neuen „Weißen Berg“ zuschreiten? Oder wird sie sich vielleicht auch der Worte Hachas erinnern, der kurz nach dieser schrecklichen Nacht sagte: „Unser Unglück begann mit dem Untergang des alten Österreich.“

Es war schon fast fünf Uhr früh, als die kleine Autokolonne den Hof der Reichskanzlei verließ. Eine dicke Schneeschicht bedeckte die Straße und zwang zu vorsichtiger Fahrt. Todmüde saß der Präsident im Fond des Wagens. Mastny, das ewige Monokel in dem einen Auge, starrte wortlos auf das Schneetreiben. Chvalkovsky nagte nervös an den Lippen. Niemand sprach ein Wort. Ein dumpfes Rollen lag in der Luft, waren es die ersten Laute der erwachenden Großstadt? Oder kam dieses Getöse von der fernen böhmischen Grenze, über die jetzt die deutschen Panzerkolonnen fluteten?

Es dämmerte schwach. Die schreckliche Nacht war zu Ende. Zu Ende? Eine schrecklichere Nacht begann über Europa zu fallen…

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