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Die Schule und das Leben

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Anläßlich des internationalen Symposions über die Entwicklung der Wissenschaft, das kürzlich in Oxford abgehalten wurde, hat der Vizekanzler der Universität Cambridge, Professor Herbert Butterfieid, eine Forderung an die Historiker gerichtet. Er hat verlangt, sie mögen die Ursachen feststellen, die bewirkt haben, daß die alte chinesische Kultur mit ihrer hochentwickelten Wissenschaft und Technik, ihrem ausgedehnten Staatsdienst und Beamtentum, ihrer umfangreichen und detaillierten offiziellen Geschichtsschreibung und ihrem bedeutenden Prüfungssystem erstarrte und stehenblieb und schließlich die Führung an den Westen abtrat.

Heute wird verschiedentlich befürchtet, daß nunmehr der Westen die führende Stellung, die er seit rund tausend Jahren innehat, an den staatskommunistischen Osten wird abgeben müssen. Seltsamerweise gründet sich diese Befürchtung nicht auf einer kulturellen oder sozialen Überlegenheit des Ostens, sondern auf dem sicherlich enormen technologischen Auftrieb und der Massenproduktion von geschulten Technikern in der Sowjetunion. Die Bedeutung dieser Bemühung darf im Hinblick darauf, daß sie von einem territorial so umfangreichen und ideologisch auf Expansion eingestellten Land unternommen wird, machtstrategisch nicht unterschätzt werden. Nichtsdestoweniger ist sie hinsichtlich ihrer kulturellen Grundlagen und Auswirkungen nicht viel anders einzuschätzen als die Industrialisierung Japans um die Jahrhundertwende, welche die zivilisatorisch-technischen Früchte erntete, die an einem Zweig jenes mächtigen und tiefverwurzelten Baumriesen wuchsen, der die westliche Kultur ist.

Religion und Naturwissenschaft

Der Westen hat sich bisher die Mittel seiner Auseinandersetzung mit dem Sowjetstaat — Mittel, die für den Osten keine anderen als materielle und technologische sein können — aufzwingen lassen. Das geschah, weil der Westen infolge der großen wirtschaftlichen und sozialen Erschütterungen in den letzten fünfzig Jahren die Be deutung des materiellen Faktors in der Kultur heute bereits überschätzt. Dadurch neigt man auch heute im Westen dazu, zu verkennen und zu ignorieren, daß sowohl der materielle wie wissenschaftliche Fortschritt wie die gesamte Entwicklung unserer Kultur dem Reichtum des gesamten menschlichen Denkens und damit auch den vielen nichtwissenschaftlichen Faktoren, die mit ihm verknüpft sind, zu verdanken sind.

Griechische Philosophen — „Nur”- Philosophen — haben mit ihren Denksystemen und Theorien von Stoff und Kosmos den Pfad vorbereitet, der zu den Naturwissenschaften geführt hat. Ob gläubig oder nichtgläubig: niemand kann die Rolle der Religion als eines entscheidenden Faktors zur Entstehung unserer modernen Kultur leugnen. Der oben erwähnte Professor Butterfieid weist in diesem Zusammen hang auf die Tatsache hin, daß der für die Entwicklung unserer Wissenschaften so wichtige Begriff der „Naturgesetze” — der den chinesischen und antiken Kulturen fremd war — in einem Europa entstanden ist, in dem die Vorstellung von einem Schöpfer, der dem Stoff und der Natur seine Gesetze aufzwingt, allgemein üblich geworden war.

Wenn heute bei uns in Österreich in der Diskussion unserer Hochschul- und Unterrichtspolitik von der einen Seite „eine Annäherung an das Leben” und von der anderen die Notwendigkeit des Schutzes des klassischen Erbes einerseits und der Christianität anderseits als wesentliche Teile des Erziehungsfundaments verlangt werden, dann wird damit, fürchte ich, der gefährlichen Situation in unserem Unterrichtswesen nicht ganz Rechnung getragen. Was sind ihre Hauptmerkmale? Zunächst ihre Symptome: ein Überwuchern des Technischen, des Funktionellen infolge des ständigen Anwachsens des Lehrstoffes, somit seine Loslösung vom fundamentalhumanistischen Motiv. Dies auf Seite der Lehrer. Auf der Seite der Studenten: wenig Realisierung des Hauptzwecks allen Studiums: selbständig denken zu lernen, sondern das Streben, es vor allem als Vehikel zu benützen, mit dem man so schnell wie möglich jenseits allen Studiums im Erwerbsleben zu landen trachtet. Die Lehrer wissen sich hierin nicht anders zu helfen, als daß sie einen bestimmten Prozentsatz von Kandidaten bei den Prüfungen durchfallen lassen. Ist aber damit wirklich schön alles getan — zumal die Gesellschaft mit ihrem heute übermächtigen Bedürfnis nach schnellstens ausgebildeten Akademikern und Technikern sich sehr wohl mit dem Prüfungssystem zuungunsten der wirklichen Ziele der wissenschaftlichen Erziehung zu verschwören weiß?

Musil und die Leber

Zu dem Wiener Anatomielehrer Professor Julius Tandler (dessen Todestag sich in diesem Sommer zum fünfundzwanzigsten Male jährte) kam einmal ein Student, um sich zu einer wichtigen Abschlußprüfung anzumelden. „Was haben S’ denn g’lesen?” fragte ihn Tandler Der Student nannte eine Reihe medizinischer Werke. „Ah na”, sagte der Professor. ..des man i net, i man, was für Romane: Thomas Mann, Musil, Proust und so weiter?”

Der Student erklärte, daß er sich nur auf Fachwerke konzentriert und daher keine Zeit für das Lesen belletristischer Werke gefunden habe. „Mein Lieber”, sagte Tandler, „wenn S’ ein Arzt werden wollen, haben S’ es mit Menschen zu tun, net nur mit Leber und Milz. Lind deshalb können S’ gar nie genug über Menschen erfahren. Dazu gehört auch die Belletristik. Kommen S’ wieder, wenn S’ das nachg’holt haben, mein Lieber.”

Ist, was Tandler vor dreißig Jahren noch selbstverständlich schien, heute noch selbstverständlich? Daß das Wachstum wissenschaftlicher Aktivität und Erkenntnisse und die damit verbundene Spezialisierung es nicht zuließen, heißt irrtümlich meinen, daß der wissenschaftliche Fortschritt nicht dem „Reichtum des gesamten menschlichen Sinnens und Trachtens” entspringe. Leider werden Phantasie und Einfühlungskraft heute vielfach ebenso als ein Luxus oder als ein Überrest quasireligiöser Besorgnisse angesehen wie reiner Erkenntnisdrang überhaupt. Diese Haltung erweist sich schon rein ökonomisch und unterrichtsorganisatorisch als verhängnisvoll. Abermals weist Professor Butter- field in diesem Zusammenhang darauf hin, daß wir angesichts des so bedrohlichen Anwachsens der Curricula und den nahezu bereits unzumutbaren Ansprüchen an die Gedächtniskraft der Studenten von unseren besten Wissenschaftlern verlangen müssen, daß sie die gesamte Landkarte ihres speziellen Gegenstandes neu zeichnen und überhaupt neue, tatsächlich bereichernde Formen der wissenschaftlichen Erziehung finden. Hierin liegt eine Abwehr der „chinesischen” formalistischen Erstarrung in unserem Unter- richtsbetrieb, die infolge der Aufhäufung von „Stoff” entsteht.

„Die Überlastung der Mittelschule”

pijr, dje. MjlscJWi h t ,man sich nun aus diesem Grunde zu einem geplanten neunten Schuljahr entschlossen. Das ist an sich zu begrüßen, auch wenn es erhöhte Ansprüche an die finanzielle Leistungsfähigkeit mancher Eltern stellt. Nichtsdestoweniger ist es fraglich, ob durch das neunte Schuljahr das Kernproblem unseres Mittelschulunterrichts, nämlich seine ganze Zerrissenheit zwischen bloßer Unterweisung oder Erziehung, gelöst wird. Im neunten Schuljahr sollen nun die philosophischen Grundlagen für das volle Erkennen der Gegenstände geliefert werden, die in den vorhergegangenen acht Jahren bereits gelehrt wurden. Läuft das nicht wieder auf eine Spaltung zwischen Stoff und Geist hinaus? Wird hier nicht lediglich in Quantitäten gedacht, wo es um neue Qualitäten (der Lehrer und der Stoffformen und -formulierungen) ginge, die selbstverständlich auf der Hochschule entstehen müßten? Ein bedeutender Hochschullehrer wies unlängst darauf hin, daß, wenn eine bessere

Methode zur Vermittlung des Wesens der Physik für Studenten der humanistischen Fächer gefunden werden könnte, sich das sehr wohl als die fruchtbarste Unterrichtsmethode für die künftigen Physiker selbst erweisen könnte.

Bleiben wir jedoch bei der Mittelschule — so sehr deren Ach und Weh seinen Ausgangspunkt auf der Hochschule hat.

Die „Sozialwissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft” weist in einer unlängst veröffentlichten Schrift darauf hin, daß insbesondere Lehrer und Schüler heute durch eine Unzahl „außerlehrplan- mäßiger”, jedoch von den Schulbehörden empfohlener Tätigkeiten und Veranstaltungen über die Gebühr belastet und die Schule „ihrem eigentlichen Ziel, zur Bildung zu gelangen, entfremdet “ werde. Bei alldem handelt es sich um den Vertrieb von sogenannten Kleinschriften, also von als günstig und nützlich empfundener Jugendliteratur, um das Anlegen von Abonnentenlisten, um die sogenannten „Tage”, wie Weltspartag, Weltgesundheitstag, Tag des Baumes, Tag des Verkehrs, Woche der alkoholfreien Erziehung, Filmerziehung und Verkehrserziehung, Wandertage, Besuche von Museen, Skikurse, Exkursionen, Wandertage, Teilnahme an Aufführungen und Vorträgen, Besuche der Bundeshauptstadt und der Landeshauptstädte. Dazu kommen noch die Berufsberatung. gesundheitliche Überwachung und Prophylaxe gegen Infektionskrankheiten und so weiter und alles in der der Erfüllung des Lehrplanes eingefäumten Zeit.

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