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Die Sommerreise

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Der hohe Sommer hat sich mit Recht den Anspruch erworben, als eine „ruhige Zeit” zu gelten. Dynamische Naturen, gefürchtete Politiker diesseits und jenseits des Ozeans pflegten da in den letzten Jahren nicht nur Parlamentsferien zu machen, sondern auch der arg geplagten Weltpolitik Erholung zu gönnen. Und gingen angeln, zogen sich auf ihre Farmen zurück, suchten in Europa die Gestade des Mittelmeers und die Alpen auf. Selbst der gefürchtete Alte hielt es so. Und zog sich in den heißen Sommerwochen , an das Schwarze Meer zurück, wohin er allerdings gelegentlich seine Gehilfen aus Moskau bestellte.

Anders dieser Sommer. Anders halten es diesmal seine Erben. Chruschtschow wird von einem wahren Reisefieber geplagt; in wenigen Tagen hat er Rumänien und Tito, die Tschechoslowakei und Ostdeutschland besucht, und noch ist der weiteren Reisen kein Ende abzusehen. Schukow, vielleicht heute der zweite Mann im Staate, wird in Syrien zum Staatsbesuch erwartet.

Heiß ist der hohe Sommer, und heiß und schwer drückt das Erbe. Das Erbe Stalins. Das Erbe des Schreckens, des Versuches, viele Millionen, ja Milliarden Menschen in einen Machtblock einzuschweißen. Das spüren die Völker, und das bekommen gerade in diesen Tagen Chruschtschow und Mao Tse-tung zu fühlen. Beide haben es, auf ihre Weise, mit dem Umbau des stalinistischen Monoliths ernst gemeint. Beide wollten zumindest eine Art „Partnerschaft” an die Stelle der Einmannherrschaft setzen. „Laßt hundert Blumen blühen”, das sollte doch wohl bedeuten: gewinnen wir die riesigen Kräfte der Intelligenz und fachmännischen Bildung, die Kraft der einzelnen in Asien, in China zumal, für eine freiwillige Mitarbeit an unseren Plänen. Und nun berichtet Rotchina von „Rebellionen” und inneren Erhebungen und Unruhen am laufenden Band, berichtet selbst von deren Unterdrückung.

Wenn es irgendeiner Illustration bedürfte, wie schwer es ist, ein streng durchdachtes und noch strenger geformtes totalitäres Regime „aufzulockern”, strukturell umzubauen und in der Substanz — wie es die Herren in Moskau und Peking aus naheliegenden Gründen wünschen — zu erhalten, dann liefern China und Rußland gegenwärtig der Welt und ihren Völkern dafür ernste, ja dramatische Belege. Es wird aller Klugheit, Geduld und wirklichen Kraft der führenden Staatsmänner der westlichen Welt bedürfen, sollen sich diese dramatischen Vorgänge nicht zu Tragödien für alle ausfalten.

Chruschtschow will Zeit gewinnen. Zeit, um die mächtigen innenpolitischen Gegner zurückzudrängen, Zeit, um ein eigenes Werk schaffen zu können. Eben deshalb dieses atemlose Hasten durch die Welt. Denn: wenn da draußen, vor der eigenen Tür, die Felle davonschwimmen, dann wird das eigene Werk im Inneren heillos diskreditiert. Deshalb gilt z unächst : halten, was gehalten werden kann. Und halten mit Hilfe derer, die sich bedingungslos dafür zur Verfügung stellen.

Kadar in Ungarn, Ulbricht in Ost-Berlin, die Machthaber in Prag: Chruschtschow und die Sowjets wissen wie die ganze westliche Welt, was sie von diesen Herren zu halten haben.

Eben deshalb halten sie diese. Schwächste, in ihren eigenen Völkern diskreditierte, als unglaubwürdig befundene Machtverwalter, die durch nichts gehalten werden, als durch ihren Gast, der sie eben aus Moskau besucht, sind in einem so kritischen Moment gerade die „richtigen”. Was morgen, übermorgen sein wird, wird man sehen, wenn sich die Verhältnisse in der Sowjetunion einigermaßen konsolidieren, wenn es zu einer wirklichen Arbeitsteilung mit Tito , und Mao kommen wird. Mao konnte seine seit langem projektierte Reise nach Polen und Jugoslawien in diesem Sommer noch nicht starten, da es in China selbst zu stark gärt, und er, bei aller Reserviertheit gegenüber einer Moskauer Weltherrschaft, doch nicht so weit gehen kann, die-Krise des’ sowjetischen Imperiums noch zu verschärfen. Sein Erscheinen allein gegenwärtig in Polen und Belgrad hätte genügt, die Flamme des nationalen Widerstandes zu einer gefährlichen Höhe zu entfachen.

Deshalb also die Schauspiele dieser Tage: Blumen und Küsse für Chruschtschow in Prag, Küsse und Blumen für Chruschtschow in Berlin und Leipzig. Dazwischen sehr ernste Besprechungen mit Tito in Rumänien: die „Kluft” zwischen den russischen Wünschen in Europa und den Aspirationen Großserbiens auf dem Balkan ist riesengroß, wie die Belgrader Presse deutlich durchblicken läßt. Tito ist auf dem Balkan auf seine Weise der Nachfolger der alten Donaumonarchie geworden und hat entschlossen sich als Schirmherr der „kleineren” Völker daselbst proklamiert, mögen diese es wissen, wollen oder nicht wollen. Hier kann Chruschtschow nicht mit. Hier könnte selbst ein zaristischer Außenminister nicht mit. — Schwer ist es, Frieden und Freundschaft zu ernten, nachdem durch Jahrzehnte hindurch Wind, Sturm, Feuer gesät wurden.

Ein mehr als halbleeres Stadion für Chruschtschow in Leipzig. Die Bevölkerung der DDR hat es den sowjetischen Gästen deutlich genug zu spüren gegeben, was sie von ihren Herren in Pankow denkt.

Viel, sehr viel im Aufscheinen Chruschtschows in Ostdeutschland ist Propaganda. Ist auch ein Versuch, die deutsche Wahl vom 15. September zu beeinflussen. Massiv die Ausfälle gegen den Bonner Kanzler: Adenauer verfolge eine Politik der Stärke. „Auch Hitler hat eine solche Politik verfolgt, und wir wissen, wo er endete.” Der Weg, auf dem Adenauer Deutschland führe, sei äußerst gefährlich für das deutsche Volk. Adenauer habe die Verleumdung der Sowjetunion zu seiner Staatspolitik erhoben.

Der Bonner Kanzler antwortete sofort. Auf einer Wahlversammlung. Er meinte, die Sowjetunion habe seit 1925 56 Verträge gebrochen und seit 1945. mehr als 100 Millionen Menschen versklavt.

In München überreichte, wieder bei einer Wahlversammlung, eine Gruppe von Studenten dem Bundesverteidigungsminister Strauß, der in eineinhalbstündiger Rede diese Politik der Stärke verteidigte, einen zierlich verpackten Radiergummi: als Anspielung auf eine frühere Wahlrede, in der der Minister davon gesprochen hatte, daß die Verbündeten Bonns imstande seien, die Sowjetunion ‘-on der Landkarte auszuradieren.

Das ist Hochsommer, glühend heißer Sommer des Wahlfiebers.

Nachher, sehr bald, wird Abkühlung not tun.

Dann werden manche Reden und manche Reisen zu bereuen sein.

Andere Reisen, andere Reden werden an ihre Stelle treten.

Lieber eines aber wird man sich in Mitteleuropa, und nicht .nur in Deutschland, klarwerden müssen. So geht es nicht weiter. Für niemanden.

Die deutsche Einheit wird in ferne Fernen entrückt, solange diesseits und jenseits der Elbe in dieser Sprache gesprochen wird. Anklage steht da wider Anklage, so wie Armee gegen Armee, Block gegen Block, Propaganda gegen Propaganda dasteht.

Inzwischen aber ist, von München aus, Doktor Lahr, der Leiter der deutschen Delegation bei den deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Moskau, dorthin zurückgekehrt. Es wird weiterverhandelt. Während die Wortführer der Regierung das große Wort führen, geht die

Arbeit der „Kleinen” weiter: die Arbeit der Fachleute. Jahre, nicht selten Jahrzehnte dauert es, bis da oft greifbare Erfolge sichtbar werden. Sitzen, schwitzen, durchhalten, Geduld haben, schweigen und reden können, ist da alles. Zeit haben. Dieses große Zeithaben müssen heute die Völker dem K e i n e z e i t h a b e n der Politiker und Ideologen entgegenstellen. Das Reisen und Reißen derselben ist nur so zu überwinden. Dann werden sich eines Tages die wirklichen und großen Gewichte, langsam sich einpendelnd, zu einem neuen Gleichgewicht zusammenfügen.

Hoffnung mitten in der Sorge unserer Tage: an die Stelle des erbitterten Ringens um ein immer problematisches europäisches Gleichgewicht ist das Ringen um das Gleichgewicht in der einen Welt geworden!

Eben deshalb dürfen wir Chruschtschows Reisen in Europa gelassen besehen, ihre Bedeutung nicht unter-, aber auch nicht überschätzen. Der Sommer dieser Reisen geht zu Ende..

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