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Die Stasi-Akten bringen Leid wie die „Büchse der Pandora"

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Es geht aufwärts im Lande Brandenburg, so Ministerpräsident Stolpe, nach der Wende SPD-Hoffnung, heute etwas angekratzt, im FuRCHE-Gespräch.

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Es geht aufwärts im Lande Brandenburg, so Ministerpräsident Stolpe, nach der Wende SPD-Hoffnung, heute etwas angekratzt, im FuRCHE-Gespräch.

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Märkische Heide, märkischer Sand ..." sangen einst die Berhner Schulkinder und lernten von den Markgrafen und Kurfürsten aus den Geschlechtern der Askanier und Hohenzollern, die aus „des Heiligen Römischen Reiches Streusandbüchse", aus kargen Sandböden und weiten Föhrenwäldern ein fruchtbares, lebendiges Land machten. Ursprünglich Grenzmark gegen die Slawen ostwärts der Oder, war die Mark Brandenburg schließlich nur mehr das Kernstück eines Preußens, das vom Niederrhein bis zur Memel reichte und endlich umkippte zum Buhmann der Feinde.

Die Wende hat Brandenburg wieder erstehen lassen, nach Jahrzehnten der Aufteilung in Bezirke, als eines der „neuen Bundesländer", die nun ein halbes Jahrhundert sozialistischer Planwirtschaft, kommunistischer Diktatur überwinden sollen.

Die Medien zeichnen ein düsteres Bild von der Lage im (heutigen) deutschen Osten. Aber Manfred Stol-36, Ministerpräsident von Brandenburg, sieht schon mehr als einen Lichtstreifen am Horizont.

Was ins Auge sticht, ist die Massenarbeitslosigkeit nach dem Zusammenbruch der Planwirtschaft, sind die Ängste der Menschen, wie es weitergehen soll. Aber inzwischen konnte doch ein Drittel der Arbeitsplätze in der Industrie gerettet werden - und diese Standorte dürften wettbewerbsfähig sein.

120.000 Klein-Unternehmer aus dem Land haben versucht, sich selbständig zu machen - drei Viertel von ihnen haben es geschafft. „In einem Land, in dem immer nur gepredigt wurde, daß der Unternehmer der Ausbeuter ist, haben neue Unternehmer fast eine halbe Million Arbeitsplätze neu geschaffen und vieles aufgefangen, was in der Industrie kaputt gegangen ist."

Ostdeutschlands Industrie war auf den Osten ausgerichtet, auf den Eigenbedarf und - mit starker Arbeitsteilung - auf den Export in die „Bruderstaaten". 70 Prozent aller Arbeitsplätze lagen im Industrie-und Gewerbebereich. Heute steht der Industrieanteil nur noch zwischen 30 und 40 Prozent, der Dienstleistungssektor wird stark zunehmen. Die Umstrukturierung scheint im wesentlichen gelungen. Der Kernbestand bei Stahl, Kohle, Energie scheint stabilisiert. Schwere Probleme gibt es noch in der Chemie, im Maschinenbau, in der Textilbrache. Dagegen geht der Fahrzeugbau bereits aufwärts, steckt Stolpe die Markierungen ab.

Wie steht es mit der Stimmung im Land, mit den Kontroversen zwischen „Ossi" und „Wessi", mit dem Gefühl der Brandenburger, von den „großen Brüdern" aus dem Westen überfahren zu werden?

Stolpe bestätigt die allgemeine Atmosphäre. Hauptursache dafür war das Verkennen der Unterschiede in der Mentalität der Menschen im Osten und im Westen nach vierzig Jahren Leben in verschiedenen Gesellschaftssystemen. Die Freude über die Wiedervereinigung war riesengroß, die Desillusionie-rung konnte nicht ausbleiben.Was kann man dagegen tun? Vor allem besser informieren, mehr von einander wissen, böte die beste Voraussetzung dafür, sich gegenseitig von Vorurteilen zu lösen. Möglichst viel miteinander, statt über einander sprechen. Und vor allem: miteinander arbeiten! In Brandenburg sind Menschen aus dem Osten und aus dem Westen gezwungen, gemeinsam Aufgaben zu lösen. Sie bringen ihre unterschiedlichen Erfahrungen und ihre vollen Fähigkeiten ein - und kommen so am schnellsten zusammen.

Menschen, die von unterschiedlichen Gesellschaftssystemen geprägt wurden, verhalten sich verschieden. Wer aus der Diktatur kommt, neigt zum Abwarten, zur Zurückhaltung, zum vorsichtigen Beobachten, bevor er aus sich herausgeht. Wer in der Wettbewerbsgesellschaft groß geworden ist, wird in der Regel offensiver sein, wird versuchen, sich darzustellen, um bestehen zu können. Da kommt es vor, daß aus unterschiedlichen Mentalitäten Aversionen wachsen. Das kann man nur ausräumen, wenn man offen miteinander diskutiert.

Der Vorteil der Menschen im Osten besteht in den Erfahrungen aus dem Standort heraus, analysiert der Ministerpräsident weiter. In einer Mangelgesellschaft mußten sie immer aus allem etwas improvisieren können, sonst waren sie fehl am Platz. Sie bringen ihre Belastbarkeit mit, die Menschen aus dem Westen die wirtschaftlichen Erfahrungen, Marketing, Finanzkenntnisse - und alles zusammen erbringt beachtliche Leistungen.

Stolpe selbst stand durch Monate im Kreuzfeuer der Medien, die ihm vorwarfen, als oberster Funktionär der evangelischen Kirche mit den DDR-Behörden zusammengearbeitet zu haben. Wie steht es nun mit den „Stasi-Akten"? Stolpe bezeichnet sie als „Büchse der Pandora", aus der bei unvorsichtigem Offnen das Leid über die Welt kommt. Alle diese Papiere, ob vom Staatssicherheitsdienst, von Regierungs- oder Parteidienststellen, unterlagen dem Prinzip der Siegesberichterstattung. Sie mußten immer Erfolgsmeldungen enthalten, und Facts, die keine „Erfolge" darstellten, vrarden unterdrückt. Unter diesem Aspekt müssen die Akten behandelt werden.

Aber solche Zeitdokumente müssen erhalten bleiben, verantwor-tungsbevraßt bearbeitet werden, zugänglich für Forschung und staatsanwaltliche Ermittlung. Und sie müssen mehr als bisher vor Mißbrauch geschützt werden. Sonst wird die Politikverdrossenheit noch mehr wachsen - und das nützt nur der PDS.

ANGRIFFE AUF DIE KIRCHEN

Die Angriffe auf die Kirchen und ihre Spitzenfunktionäre werden im Wahljahr sicher anhalten, erwartet Stolpe. Vielleicht machen die Kirchen den Fehler, zu defensiv zu reagieren, meint er. Sie müßten entschlossener feststellen, daß unter einer Diktatur immer unabhängige Institutionen versuchen müssen, für Menschlichkeit und Gerechtigkeit einzutreten - und das kann nur im Gespräch mit den Machthabern geschehen. „Da muß zum Fürbittgebet eben auch die entschlossene Tat kommen!" Die erste Legislaturperiode der Landtage in den neuen Bundesländern geht zu Ende. Im Herbst wird neu gewählt. Mit welchem Ergebnis? „Ich kann mich nicht abfinden mit der These vom ,Normalisie-rungsprozeß der Demokratie', in dem nur 60 bis 70 Prozent der Bürger zur Wahl gehen", sagt der SPD-Politiker.

„Wir müssen sie härter daran erinnern, daß sie ihr Leben riskiert haben, um in eigenen Sachen mitreden zu können. Der Erfolg wird davon abhängen, ob die Menschen den Eindruck haben, daß ihre Angelegenheiten von der Regierung vertreten werden."

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