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Die Steine reden!

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In der Person des Autors des untenstehenden Aufsatzes drückt (ich eine moderne Synthese aus. Als Absolvent des Schottengymnasiums und der Universität der humanistischen Geisteshaltung auch im Räume der Naturwissenschaften verbunden, lehrt Prof. K i e s I i n g e r heute an der Technischen Hochschule zu Wien technische Geologie. Aus dieser Herkunft leitet sich auch eine Lieblingsbeschäftigung des Verfasser ab, die in einer Zusammenarbeit zwischen Gesteinskunde und Kunstgeschichte ein fruchtbares heuristisches Prinzip entdeckt hat. Die neuartige Disziplin hat sich bisher in Forschung und Wissenschaft (St. Stephan, St. Michael, Heiligenkreuzer Hof, Mariazell) bewährt. Sie hindert den Autor nicht, auch in Ausführung seiner technischnaturwissenschaftlichen Verpflichtungen bei modernen Großbauten (Quellenschutz von Gastein, Salzburger Festspielhaus) seinen Aufgaben nachzukommen. Die gesteinshistorischen Forschungen Prof. Kieslingers haben erst kürzlich anläßlich eines Lichtbildervortrages vor der Akademie der Wissenschaften Anerkennung gefunden; „Die Furche“

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In der Person des Autors des untenstehenden Aufsatzes drückt (ich eine moderne Synthese aus. Als Absolvent des Schottengymnasiums und der Universität der humanistischen Geisteshaltung auch im Räume der Naturwissenschaften verbunden, lehrt Prof. K i e s I i n g e r heute an der Technischen Hochschule zu Wien technische Geologie. Aus dieser Herkunft leitet sich auch eine Lieblingsbeschäftigung des Verfasser ab, die in einer Zusammenarbeit zwischen Gesteinskunde und Kunstgeschichte ein fruchtbares heuristisches Prinzip entdeckt hat. Die neuartige Disziplin hat sich bisher in Forschung und Wissenschaft (St. Stephan, St. Michael, Heiligenkreuzer Hof, Mariazell) bewährt. Sie hindert den Autor nicht, auch in Ausführung seiner technischnaturwissenschaftlichen Verpflichtungen bei modernen Großbauten (Quellenschutz von Gastein, Salzburger Festspielhaus) seinen Aufgaben nachzukommen. Die gesteinshistorischen Forschungen Prof. Kieslingers haben erst kürzlich anläßlich eines Lichtbildervortrages vor der Akademie der Wissenschaften Anerkennung gefunden; „Die Furche“

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Wer zum ersten Male vor die dreitürmige Fassade der Basilika von Mariazell hintritt, dem fällt der Mittelturm auf; trotz allen Verunstaltungen durch Brand und viele Restaurierungen steht der gotische krabbengeschmückte Helm etwas fremd zwischen den beiden Ecktürmen mit ihren barocken Zwiebeldächern. Ein erster Hinweis darauf, daß in dem Bauwerk des 17. Jahrhunderts noch Teile der früheren Kirche stecken. Betritt man dann das Langhaus, sind in seinem Gewölbe die noch erhaltenen gotischen Rippen wohl nur bei besonderer Aufmerksamkeit zu erkennen, so raffiniert sind sie in die Stuckdekoration einbezogen. Vielleicht noch schwieriger erscheint die Deutung der Gnadenkapelle mit ihren, dreierlei Formelementen, mit der Vermengung von echt gotischen, von jüngeren gotisierenden und von barocken Formen. Die Unterscheidung zwischen den beiden ersten mag auch dem Fachmann schwerfallen. Manche bisher vermeintlich sicher gestellte Datierungen konnten nun bei einer Untersuchung während der vorübergehenden Entfernung der Altaraufbauten berichtigt werden.

Daß im barocken Prunkbau des Meisters Domenico Sciassia noch viel vom gotischen Altbestand steckt, ist der Forschung natürlich längst bekannt, und der vermutliche Querschnitt der (bis vor zwei Jahren unzugänglichen) Pfeiler ist schon 1869 von Petschnig grundsätzlich richtig dargestellt worden. Im einzelnen ist aber trotz jahrzehntelanger Bemühungen von Kennern wie Dr. P. Othmar W o n i s c h noch vieles von der Baugeschichte und vom Umfang des vorhandenen Altbestandes unklar geblieben. Man hat versucht, aus den kärglichen archivalischen Quellen und vor allem nach den leider nur sehr wenigen älteren Bildern der! früheren-Zustand' zu rekonstruieren. Diese Bilder weisen nun nicht

wenige Unstimmigkeiten aur, die uns an ihrer Verläßlichkeit in der Darstellung baulicher Einzelheiten zweifeln lassen. Zweifel sind auch grundsätzlich sehr vielen Schrifttumszeugnissen gegenüber am Platz. Nur zu oft heißt es, dieser oder jener Bau sei gänzlich niedergebrannt oder zerstört oder abgetragen worden und der Bauherr habe den Neubau von Grund auf errichten lassen. In solchen Fällen zeigt dann die ein-

gehende Untersuchung des Steinmauerwerks fast immer, daß vom angeblich vernichteten Altbestand viel mehr erhalten ist, als man nach den überlieferten Berichten, glauben wollte.

So werden die Steine — wenn es gelingt, sie zum Reden zu bringen — zu den weitaus verläßlichsten Zeugen der Vergangenheit. Ihre in jedem Sinne des Wortes lapidare Sprache kann weder übertreiben noch lügen. Sie kann höchstens von uns mißverstanden werden.

Dies gilt auch für die „Steine von M a r i a z e 11“. Mein Aufsatz darüber vor zwanzig Jahren („Kirchenkunst“, Wien 1936, S. 87—92) behandelte vor allem den barocken Neubau des 17. Jahrhunderts mit seinen großartigen Marmorarbeiten. Die jetzige Restaurierung von 1954 bis 1956 bot nun mannigfache Einblicke in das Innere der Mauern. Wenn es mir auch nicht vergönnt war, dauernd Studien dort zu machen oder gar Grabungen zu veranlassen, so haben doch vereinzelte Besuche eine Fülle von neuen Feststellungen gebracht. Die Bauarbeiten und die Gerüste, besonders auch die vorübergehende Abtragung der Aufbauten des Gnadenaltars, machten Stellen zugänglich, die sonst nur aus der Ferne zu sehen waren. Es hat sich hier wieder herausgestellt, daß vom Altbestand viel mehr erhalten ist, als bisher bekannt war. In der Gnadenkapelle ermöglichte die Bestimmung der verschiedenen Marmoreund sonstigen Gesteine eine klare Unterscheidung von echter Gotik und barocken Stilkopien. Vielleicht das schönste Ergebnis war die E r-kennung des ursprünglichen gotischen Gnadenaltars, dessen Mensa noch vollkommen erhalten ist. Davon soll hier vorläufig in Kürze berichtet werden. Was ist nun von den älteren Bauphasen der Kirche erhalten? Wir wissen von einer romanischen Kirche, deren Bau nach einer (späteren) Inschrift im Jahre 1200 begonnen wurde. Von ihrer Größe und ihrem Aussehen ist nichts Verläßliches bekannt. Es gibt zwar eine Darstellung auf einem Marktsiegel von 1342. Man kann aus ihr ein ziemlich niedriges dreischiffiges romanisches Langhaus und einen höheren gotischen Chor herauslesen. Die Zeichnung aber, die zum Beispiel im Langhaus nur zwei Joche aufweist, ist viel zu schematisch, als daß man ihr im einzelnen folgen dürfte. Es ist nicht nur möglich, sondern geradezu wahrscheinlich, daß Grabungen die Grundmauern dieser ersten Steinkirche finden würden.

Die Gotik bringt nun Neubauten, deren Bauphasen denen des Wiener Stephansdomes auffallend ähnlich sind: In der ersten Hälfte des 1*. Jahrhunderts (um 1340?) den Bau des gotischen Chors im Osten und Ende des Jahrhrn-

derts (1380 bis 1396?) den Bau der zweiten Hälfte der Kirche, des Langhauses. Das Aussehen des Ostchores ist uns, abgesehen von dem erwähnten Siegel, aus zwei Kupferstichen von 1626 und 1648 gut vorstellbar. Die Chormauern sind durch den barocken Neubau gänzlich zerstört worden, nur ihre Grundmauern sind zweifellos noch im Boden vorhanden. Anders steht es mit dem Langhaus, das ja, abgesehen von zwei fraglichen Jochen, heute noch zur Gänze unter der barocken Verkleidung erhalten ist. Die Pfeiler des Mittelschiffes und der Seitenschiffe konnten während der letzten Ausbesserungen an einigen Stellen vorübergehend von ihrer barocken Mörtelummantelung freigelegt und aufgenommen werden. Sie bestehen aus einem groblöcherigen dolomitischen Gestein, einer sogenannten Rauhwacke, und sind an zwei Seiten (den Gurtbogen entsprechend) von je drei kreisrunden, mit tiefen Hohlkehlen voneinander getrennten Rundstäben (Diensten) besetzt. Daß die Rippen des Gewölbes mit ihrem Birnprofil noch erhalten — wenngleich in ihrer Stuckumrahmung von unten nicht leicht auszunehmen — sind,1 wurde schon erwähnt. Es ist überhaupt, wie ich auf dem Dachboden sah, das ganze gotische Gewölbe erhalten; es besteht wieder aus Rauhwacke, zum Unterschied von den

barocken Ziegelgewölben. Ebenso noch vorhanden, aber durch das Einschneiden der barocken Fassadenfenster im obersten Teil verstümmelt, sind die beiden gotischen Seitentore an der Westseite. Ihre Auffindung beweist übrigens, daß die scheinbar so präzise Zeichnung der Fassade auf den erwähnten Kupferstichen hier nicht ganz richtig ist.

Der Dachboden bringt aber noch viele neue Aufschlüsse: Ueber den Gewölben der barocken Seitenkapellen finden sich noch die gotischen Fenster des alten Langhauses (die Leibungen ähnlich tief gegliedert wie die Pfeiler, mit den Resten alten Farbanstrichs), ferner auch noch die oberen Teile der alten Strebepfeiler mit ihren steilstehenden Abdeckplatten. Eine besondere Ueberraschung war es aber, daß über den durch Brand schwer beschädigten Mauern des alten gotischen Langhauses sich noch, in dickem Mörtel aufgetragen, zum Teil auch gemalt, zwei weitere Schichten von spätgotischen Architekturgliederungen finden, also Erneuerungen nach den Kirchenbränden, zum Beispiel jener von 1437 und 1474. Sie zeigen einen reichen plastischen Schmuck in Flachrelief, durch verschiedenartige Oberflächenbearbeitung noch stärker hervorgehoben, und zwar über den echten Fenstern Eselsrückenbogen mit stilisierten Kreuzrosen, dazwischen verschlungene Arkaden usw. Quer darüber geht eine jüngere rohe Quader-bemalung.

Auch im Innern des Westturms konnte trotz aller Brandschäden Altbestand von Restaurierungen unterschieden werden. Außen freilich hat er seit seiner Erbauung noch mindestens eine gotische Restaurierung (nach dem Brande 1474), später Umgestaltungen in Barockgotik 1644 bis 1663, dann eine im Stile der Biedermeiergotik 1828, ferner eine in der Neugotik 1864 bis 1868 und schließlich noch verschiedene neuere Restaurierungen (1898 bis 1900, 1925 bis 1932) erfahren. Es würde viel zu weit führen, hier auf Einzelheiten einzugehen. Ebensowenig seien hier die beiden Tympanon-Reliefs des Hauptportals besprochen, das ältere einfachere obere und das riesige (1,60 m hohe und 3 m breite) untere berühmte Relief mit der Entstehungsgeschichte des Wallfahrtsortes von 1437/38. Der gelbe Untersberger Marmor mit seiner samtbraunen Patina ist bis zum letzten Meißelhieb in geschnittener Schärfe erhalten. Auch eine andere, noch offene Frage muß hier übergangen werden: cb das gotische Langhaus fünf oder sieben Joche gehabt hat.

Die Gnadenkapelle hat König Ludwig von Ungern nach einem Siege um 1377 errichten lassen. Beim barocken Umbau 1690 wurden wie uns ein Brief eines St.-Lambrechter

Abtes von 1715 erzählt, die meisten alten Sirine wieder verwendet. Aber welche sind dies? Diese Frage kann ausschließlich durch Materialuntersuchung beantwortet werden. Die barocke Bauperiode verwendete den roten Marmor von der Brunnsteinalpe oder dem Erlaufsee. Die Brüche waren erst Anfang des 17. Jahrhunderts eröffnet worden (die älteste mir bekannte Arbeit daraus ist das schöne Portal Wienerstraße 2 von 1612). An den bfeiden Vorderkanten der Kapelle sehen wir achteckige Pfeiler aus einem anderen roten Marmor, nämlich dem Adneter, dem Stein der Gotik. Daß das Relief mit den Köpfen König Ludwigs und seiner Frau alt ist, wurde nie bezweifelt. Es besteht wie die Pfeiler aus Rauhwacke, dem uns nun schon bekannten Bau-und Bildhauerstein der Gotik. Schwieriger wird es schon mit den Konsolen der Kapelle. Nur die Laubblätter sind alt, die Basen und Deck-

platten aber in Gipsmörtel angefügt. Entgegen den Angaben im bisherigen Schrifttum sind alle Rippen und auch der große Eingangsbogen der Kapelle ausnahmslos aus Gipsmörtel, mit Marmornachahmungen überzogen; sie sind nicht Reste des gotischen Altbestandes, sondern ein schönes Beispiel für ,.B a r 0 c k g 0 t i k“. Das Material bestätigte den Verdacht, den schon die Formen erweckt hatten.

Und nun der Gnadenaltsr? Als seine Aufbauten vorübergehend entfernt wurden, konnte ich die Mensa untersuchen: Sie besteht aus drei großen Platten von Adneter Marmor, auf denen die eigentliche Mensaplatte aus dem gleichen Stein ruht. Die lotrechten Kanten tra-den diagonal auswärts gerichtete Birnstabprofile, die auch noch in die Mensaplatte hineinreichen. Dazwischen hat die Platte am Unterrande ein einfaches Hohlkehlenprofil. Die Vorderplatte enthält ein kleines „sepulcrum“. Also gotische Formen und gotischer Stein, das heißt, wir haben „den“ (oder einen) gotischen Altar vor uns, vermutlich jenen, den Herzog Albrecht 1342 gestiftet hat. Die Tradition der Bauleute berichtet, daß in dem Altar noch der von der Legende überlieferte Baumstumpf stecke. Alles, was von späteren Erneuerungen (1629, 1690 und 1727) berichtet wird, insbesondere über den „neuen Gnadenaltar“ des Fürsten Paul Esterhäzy von 1690, bezieht sich nur auf Verkleidungen, Aufbauten und Antependien, keineswegs aber auf einen „von Grund auf“ neuen Altar. Gleich wie im Wiener Stephansdom die barocken Nebenaltäre Verkleidungen der alten gotischen Mensae sind, hat man sich auch hier aus Ehrfurcht gescheut, den alten Altar zu zerstören und den Zustand der Weihe zu unterbrechen.

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