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Die Sudetendeutschen haben ihr Auswartiges Amt

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Die Sudetendeutschen im Exil — etwa zwei Millionen in der westdeutschen Bundesrepublik, 800.000 in der Sowjetzone und 200.000 in i Oesterreich — sind besser organisiert als die anderen nationalen Emigrationen der Nachkriegszeit. Obwohl es auch unter ihnen die mißlichen Erscheinungen der Emigration mit dem erschwerten Kampf ums Dasein, mit dem gegenseitigen Neid der Individuen und der Gruppen gibt, verfügen sie dennoch über eine gemeinsame Instanz, um die sie beneidet werden — die „Arbeitsgemeinschaft zur Wahrung sudetendeutscher Interessen“ in München. Diese Arbeitsgemeinschaft, die sich nach mehrjähriger Tätigkeit just im Stadium der Neukonstruktion befindet, ist so etwas wie ein „Auswärtiges Amt“ der Sudetendeutschen. In den Büroräumen in der Triftstraße 1, nahe der St.-Anna-Kirche im Zentrum Münchens, ist der Sitz eines „Gehirntrusts“, der sich in betonter Ueberpartei-lichkeit aus Vertretern verschiedener weltanschaulicher Gruppen zusammensetzt. Von hier gehen die verschiedensten Initiativen für die Gestaltung der Zukunft der Sudetendeutschen aus — von denen namentlich eine zu dem international beachteten München-Wiesbadner Abkommen vom August 1950 mit dem Tschechischen Nationalkomitee des • Generals Prchala in London über die künftige Rückkehr der Sudetendeutschen in ihre böhmisch-mährisch-schlesi-sche Heimat und deren Verzicht auf Vergeltung geführt hat. Damals gab es im Rahmen einer Konferenz der moralischen Aufrüstung in Caux auch einen Händedruck zwischen dem General Prchala und Dr. Wilhelm Turnwald, einem der intensivsten Arbeiter der „Arbeitsgemeinschaft“, der vor Jahresfrist als Spezialist der Sudeten-frage ins Bonner Auswärtige Amt geholt worden ist.

Die Aufgaben der „Arbeitsgemeinschaft“ sind namentlich auf Aufklärung der Weltöffentlichkeit gerichtet. In der Genugtuung über den Zusammenbruch des Hitler-Systems, unter dem Millionen anständiger und unpolitischer Deutscher nicht minder gelitten hatten als andere, übersah der Westen die moralische Unhaltbar-keit von Maßnahmen, die durch die Vertreibung von Millionen Menschen aus ihrer alten Heimat nationalen Frieden in Mitteleuropa zu schaffen versprachen. Hier hat die Tätigkeit der „Arbeitsgemeinschaft“ ihr Hauptfeld gefunden. In ihrem Ausschuß befinden sich neben dem alten deutschnationalen Politiker des seinerzeitigen tschechoslowakischen Parlaments Dr. Rudolf Lodgman auch zwei Vertreter des sogenannten „Jungaktivismus“ aus der Vor-Hitler-Tschecho-slowakei, der seinerzeitige deutsch-christlichsoziale Abgeordnete der Prager Nationalversammlung Hans Schütz und der seinerzeitige Obmann der sudetendeutschen Sozialdemokraten Wenzel Jaksch. Deren beide Parteien waren bis

1938 in der tschechoslowakischen Regierung durch Minister repräsentiert — beide Parteien bemühten sich um friedlichen Ausgleich mit den Tschechen im Rahmen der Tschechoslowakei und waren absolut antinationalsozialistisch.. Auf Wenzel Jakschs Kopf hatten die Nazis eine Prämie ausgesetzt; er mußte nach der Besetzung Prags durch die deutsche Wehrmacht im März

1939 über die polnische Grenze fliehen und lebte bis 1949 in London. Heute sind Jaksch und Schütz Mitglieder des Deutschen Bundestags in Bonn. Wie wenig weiß der oder jener US-Senator, der in die Weltpolitik einzugreifen hat, von diesen Dingen! Wie leichtfertig sind die Urteile, d i e Sudetendeutschen seien alle Nazis gewesen und hätten die demokratische Tschechoslowakei zerstört!

Vier dokumentarisch wertvolle Bücher sind bisher im Verlag oder über Auftrag der „Arbeitsgemeinschaft zur Wahrung sudetendeutscher Interessen“ erschienen.

Der rein optischen Aufklärung darüber, was das von Sudetendeutschen besiedelte Gebiet der alten österreichischen Kronländer Böhmen, Mähren und Schlesien gewesen ist, dient Doktor Wilhelm Turnwalds „Sudeten German Picture Book“. 104 prächtige Bildtafeln künden von den kulturellen, städtebaulichen, architektonischen, bildkünstlerischen Leistungen der Sudetendeutschen im Laufe der Geschichte — eine knappe, sehr präzise Einleitung sagt dem englischen Leser manches über ihre historische Rolle in Mitteleuropa, über ihre dichterische Leistung von Johannes von Saaz' „Ackermann aus Böhmen“ bis Adalbert Stifter

Bereits in vierter Auflage sind die über 550 Seiten umfassenden „Dokumente zur Austreibung der Sudeten deutschen“ erschienen. Die von Schütz Lodgman und Reitzner (einem zweiten sudetendeutschen Abgeordneten des Bonner Bundestages, der den ganzen Krieg in London verbrachte) gezeichnete Einleitung betont:

„Durch die VeröffeMtlichung dieser Dokumente soll keineswegs eine Kollektivschuld für das gesamte tschechische Volk festgestellt werden. Wohl aber geht aus ihnen hervor, wie sehr durch diese Vorgänge die wichtigsten Gesetze der Moral und Ethik, des Völkerrechts und Naturrechts verletzt wurden.“

Unter den vielen Informationen des historischen Teils des Buches sei hervorgehoben:

„Von tschechischer Seite wird den Sudetendeutschen der Kollektivvorwurf gemacht, sie hätten im September 1938 geschlossen gegen den Staat revoltiert und .damit, die Staatssicherheit bedroht Daß dies nicht der Fall war, bezeugt ein der Sympathie für die Sudetendeutschen sicherlich unverdächtiger Zeuge, der tschechische Exminister Dr. Hubert Ripka („Munich before and after“, 1938). Er stellt fest, daß der Aufruf Henleins an die Sudetendeutschen zum Widerstand gegen die Staatsgewalt keinesfalls von der Mehrheit der sudetendeutschen Bevölkerung befolgt wurde . . . Der Hauptfehler der tschechischen Regierung lag nach der Meinung Ripkas darin, daß sie. nicht versucht hatte, mit der sudetendeutschen Bevölkerung statt mit Henlein.zu einem Uebereinkommen zu gelangen.“

Und an anderer Stelle:

„Die Frage der Austreibung der Sudetendeutschen war 1942 eine der maßgebendsten Ursachen, derentwegen in London die 193 8 ins Exil gegangenen sudetendeutschen Sozialdemokraten um den Abgeordneten Wenzel laksch, die ursprünglich versucht hatten, zu einer konstruktiven Zusammenarbeit mit der tschechischen Exilregierung in London in sudetendeutsch-tschechischen Fragen zu gelangen, sich von Benesch trennten. In einem Schreiben, datiert vom 22.. Juni 1942, das Jaksch an Benesch in London richtete, heißt es u. a.: ,Das Programm des Bevölkerungstransfers liegt außerhalb des Prinzips der staatsrechtlichen Kontinuität, in dessen Namen bisher die Loyalität der demokratischen Sudetendeutschen im Auslande von der tschechoslowakischen Regierung reklamiert wurde.'“

Mit dem Buche „Renascence or Decline of Central Europe“ („W iedergeburt oder

Untergang Mitteleuropas“) bemüht sich Dr. Wilhelm Turnwald, der angelsächsischen Leserschaft ein objektives Bild des gesamten sudetendeutsch-tschechischen Fragenkomplexes zu bieten. Er hat aus reichem Quellenmaterial geschöpft — er nennt nicht weniger als 136 Bücher im bibliographischen Index, unter denen besonders die zweier jüdischer Autoren (Ygael Glucksteins' „Stalins Satelliten in Europa“ und Victor Gollancz' „Unsere verratenen Werte“) aufsehenerregende Zeugenschaft zugunsten der Sudetendeutschen ablegen. Hier wird der Westen u. a. über den Rückblick auf Saint-Germain 1919 nachzudenken haben, in dem es heißt:

„Otto Bauer, der österreichische Außenminister, sagte: .Sollte die Friedenskonferenz den verderblichen Irrtum begehen, die Gebiete mit deutscher Bevölkerung Böhmen (d. h. der neuen Tschechoslowakei. Anm. d. Red.) einzuverleiben, so würde sich Europa morgen einem neuen Irredentismus gegenübergestellt sehen, der ebenso verhängnisvoll wäre wie der, den man just- auszuschalten versucht hat.' Aber diese Warnung blieb unberücksichtigt. Und ebensowenig half ein Brief des österreichischen Kanzlers Karl Renner an Clemenceau, an dessen Schluß es hieß: .Während die Alliierten bestrebt sind, das Unrecht wiedergutzumachen, das Frankreich 1870/71 angetan worden ist, schaffen sie zu gleicher Zeit ein neues Elsaß. Im gleichen Augenblick, da sie'das Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes der Völker proklamieren, verurteilen sie eine Bevölkerung, die größer ist als die von Norwegen und Dänemark zusammen, politisch zum Tode. Dreieinhalb Millionen (Sudeten-) Deutsche werden sechseinhalb Millionen Tschechen unterworfen. Die unterworfene Nation wird diese Stellung niemals anerkennen und die beherrschende Nation wird niemals fähig sein, dieses Problem zu meistern. . .“'

Turnwald zitiert u. a. auch die bekannte englische politische Schriftstellerin Elisabeth Wiskemann („Czechs and Germans“, London 1938), welche erklärte:

„Während die Sudetendeutschen immer mehr das Gefühl hatten, brutal von einem fremden Regime unterdrückt zu werden, das die Ideale der Freiheit und der Gleichheit nur mit den Lippen bekannte, empfanden die Tschechen immer mehr, daß die Sudetendeutschen nur maskierte Faschisten im Solde Berlins seien...“

Das waren jene Sentiments und Ressentiments, die noch heute grassieren und sachlich bekämpft werden müssen!

Im sachlichen Kampf ist die vierte Publikation des sudetendeutschen „Auswärtigen Amtes“, der soeben in zweiter Auflage erschienene „Sudetendeutsche Atlas“, wohl das stärkste Atout. Achtundzwanzig Kartenblätter, herausgegeben vom Leiter der Bundeszentrale für Landeskunde, Direktor Meynen, zeigen Böhmen und Mähren-Schlesien, die Zugehörigkeit dieses Raumes an wichtigen historischen Daten, die Siedelgebiete der Deutschen und die Verbreitung ihrer Mundarten in diesen Ländern, die Herkunft der Bürger der wichtigsten böhmisch-mährischen Städte in vorhussiti-scher Zeit, die deutschen Kunsteinflüsse, die Verbreitung der deutschen Stadtrechte, Bevölkerungsdichte und -Schichtung, Industrie, Landwirtschaft, Kurorte, deutsches Bildungswesen — und die Lösungsversuche des Nationalitätenproblems in den Sudetenländern seit 1848. Von vielen Artikeln in Deutsch, Englisch und Französisch und interessanten Bildtafeln komplettiert, ist der „Sudetendeutsche Atlas“ ein Muster an objektiver Information, dem durchaus Erfolg beschieden ist.

Das Plenum der „Arbeitsgemeinschaft“ setzt sich nunmehr aus je zehn Vertretern der „Landsmannschaften“, der Parteien und von beiden gewählten „Persönlichkeiten“ zusammen. Ihre weitere Tätigkeit wird mit Interesse erwartet.

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